Telefoninterviwer: freie Mitarbeiter oder lohnsteuerpflichtige Arbeitnehmer?
Gericht
BFH
Art der Entscheidung
Revisionsurteil
Datum
29. 05. 2008
Aktenzeichen
VI R 11/07
Ob Telefoninterviewer als Arbeitnehmer anzusehen sind, ist anhand einer Vielzahl in Betracht kommender Merkmale nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zu beurteilen.
Ein bei Inanspruchnahme des Arbeitgebers als Lohnsteuer-Haftungsschuldner beachtlicher entschuldbarer Rechtsirrtum des Arbeitgebers liegt regelmäßig nicht vor, wenn dieser die Möglichkeit der Anrufungsauskunft (§ 42e EStG) hat, davon jedoch keinen Gebrauch macht.
Auch bei Schätzung der Höhe der Lohnsteuer-Haftungsschuld sind alle Umstände zu berücksichtigen, die für die Schätzung von Bedeutung sind. Ein Verstoß gegen § 162 Abs. 1 Satz 2 AO kann nicht durch pauschale Abschläge auf die Haftungsschuld geheilt werden.
Gründe
I.
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betreibt in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft ein Unternehmen mit dem Gegenstand "Befragungen für Markt- und Meinungsforschung". In den Streitjahren (1999 bis 2002) führte sie Kundenzufriedenheitsbefragungen, Marktpotentialerhebungen und Meinungsbefragungen per Telefon oder Internet durch. Dazu verfügte sie über mehrere Telefonstudios mit einer Vielzahl von Telefonarbeitsplätzen und jeweils einem Arbeitsplatz für einen Supervisor (Kontrolleur). Die Klägerin beschäftigte je nach Auftragsvolumen ca. 900 bis 1 000 Interviewer, die sie als freie Mitarbeiter behandelte und für die sie dementsprechend weder Lohnsteuer noch Sozialversicherungsbeiträge einbehielt und abführte. Die Räume der Klägerin wurden teilweise videoüberwacht. Einzelheiten der Tätigkeit (nebst Status) der Interviewer waren in einem Handbuch der Klägerin festgehalten.
Nachdem eine im Jahr 2002 für den Prüfungszeitraum 1. Mai 1999 bis 30. Juni 2002 durchgeführte Lohnsteuer-Außenprüfung zu dem Ergebnis gekommen war, dass die Interviewer nicht selbständig tätig gewesen, sondern als Arbeitnehmer einzuordnen seien, nahm der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) die Klägerin für nicht abgeführte Lohnsteuer in Höhe von 733 752,72 € (zuzüglich Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer) in Haftung. Bei der Berechnung der Lohnsteuer wandte das FA in allen Fällen die Steuerklasse VI an.
Der Einspruch der Klägerin gegen den Haftungsbescheid blieb weitgehend erfolglos. In seiner Einspruchsentscheidung kürzte das FA die Lohnsteuer der Jahre 1999 bis 2002 um pauschal 10 % für die Fälle, in denen die Interviewer möglicherweise ihre Einkünfte bereits im Rahmen der eigenen Einkommensteuer-Veranlagung berücksichtigt hatten, und setzte den Haftungsbetrag für Lohnsteuer auf 660 377,45 € (zuzüglich Zuschlagsteuern) fest.
Die dagegen gerichtete Klage hatte nur teilweise Erfolg. Mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2007, 1034 veröffentlichten Gründen setzte das Finanzgericht (FG) die Haftungssumme für Lohnsteuer 1999 bis 2002 auf 468 014,44 € (zuzüglich Zuschlagsteuern) herab. Im Übrigen wies es die Klage als unbegründet ab.
Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Die Klägerin beantragt, den Haftungsbescheid über Lohnsteuer 1999 bis 2002 vom 5. August 2002 i.d.F. des klageabweisenden FG-Urteils vom 6. Dezember 2006 aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
1. Die von der Klägerin erhobene Verfahrensrüge greift nicht durch. Nicht von Amts wegen zu beachtende Verfahrensfehler sind nur zu berücksichtigen, wenn sie innerhalb der Revisionsbegründungsfrist in einer den Anforderungen des § 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b FGO entsprechenden Weise begründet worden sind (vgl. z.B. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 120 Rz 66). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
a) Die Klägerin hat innerhalb der Revisionsbegründungsfrist (§ 120 Abs. 2 FGO) keine Verfahrensmängel geltend gemacht. Sie kann deshalb mit ihrer (erstmals) mit Schriftsatz vom 20. Mai 2008 unmittelbar vor der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Rüge mangelnder Sachaufklärung (§ 76 FGO), die nicht zu den von Amts wegen zu beachtenden Mängeln zählt (vgl. Gräber/ Ruban, a.a.O., § 118 Rz 69 f.), nicht mehr gehört werden (vgl. z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 24. April 1997 IV R 60/95, BFHE 183, 150, BStBl II 1997, 567, m.w.N.).
b) Dessen ungeachtet genügt die Verfahrensrüge nicht den Begründungsanforderungen. Wird der Verstoß gegen Vorschriften des Prozessrechts gerügt, auf deren Beachtung die Beteiligten verzichten können, muss vorgetragen werden, dass der Verstoß in der Vorinstanz gerügt worden ist oder weshalb dem Beteiligten eine derartige Rüge nicht möglich war (Gräber/Ruban, a.a.O., § 120 Rz 67, m.w.N.). Die Verletzung der Sachaufklärungspflicht nach § 76 FGO zählt zu den verzichtbaren Mängeln (vgl. Gräber/Stapperfend, a.a.O., § 76 Rz 33, und Gräber/ Ruban, a.a.O., § 115 Rz 101, jeweils m.w.N.). Wird ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht mit der Begründung gerügt, das FG habe auch ohne entsprechenden Beweisantritt von Amts wegen den Sachverhalt weiter aufklären müssen, so ist demnach auch vorzutragen, dass dieser Mangel in der mündlichen Verhandlung vor dem FG gerügt worden ist (vgl. auch Gräber/Ruban, a.a.O., § 120 Rz 70). Der Schriftsatz der Klägerin vom 20. Mai 2008 enthält jedoch hierzu keinerlei Ausführungen. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 126 Abs. 6 Satz 1 FGO).
2. Die Revision hat jedoch mit der Sachrüge Erfolg.
Zwar ist die Würdigung des FG, dass die Klägerin als Arbeitgeberin für nicht abgeführte Lohnsteuer in Haftung genommen werden könne, hinsichtlich der Haftung dem Grunde nach revisionsrechtlich nicht zu beanstanden (II.2.a). Indes hält die vom FG aufgrund einer Schätzung bestimmte Höhe der Haftung für Lohnsteuer revisionsrechtlicher Prüfung nicht stand (II.2.b).
a) Das FG ist zu Recht davon ausgegangen, dass die von der Klägerin beschäftigten Telefoninterviewer als deren Arbeitnehmer anzusehen sind und das FA die Klägerin als Haftungsschuldnerin in Anspruch nehmen durfte.
aa) Nach § 42d Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) haftet der Arbeitgeber für die Lohnsteuer, die er einzubehalten und abzuführen hat. § 38 Abs. 3 Satz 1 EStG bestimmt, dass der Arbeitgeber die Lohnsteuer für Rechnung des Arbeitnehmers bei jeder Lohnzahlung vom Arbeitslohn einzubehalten hat. Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG gehören zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit u.a. Bezüge und Vorteile, die für eine Beschäftigung im öffentlichen oder privaten Dienst gewährt werden. Gemäß § 1 Abs. 2 Sätze 1 und 2 der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung (i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG), die nach ständiger Rechtsprechung des BFH den Arbeitnehmerbegriff zutreffend auslegen, liegt ein Dienstverhältnis vor, wenn der Angestellte (Beschäftigte) dem Arbeitgeber seine Arbeitskraft schuldet. Dies ist der Fall, wenn die tätige Person in der Betätigung ihres geschäftlichen Willens unter der Leitung des Arbeitgebers steht oder im geschäftlichen Organismus des Arbeitgebers dessen Weisungen zu folgen verpflichtet ist (BFH-Urteile vom 14. Juni 1985 VI R 150-152/82, BFHE 144, 225, BStBl II 1985, 661; vom 23. Oktober 1992 VI R 59/91, BFHE 170, 48, BStBl II 1993, 303; vom 2. Dezember 1998 X R 83/96, BFHE 188, 101, BStBl II 1999, 534; vom 14. Juni 2007 VI R 5/06, BFHE 218, 233).
Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BFH, dass der Arbeitnehmerbegriff sich nicht durch Aufzählung feststehender Merkmale abschließend bestimmen lässt. Das Gesetz bedient sich nicht eines tatbestandlich scharf umrissenen Begriffs. Es handelt sich vielmehr um einen offenen Typusbegriff, der nur durch eine größere und unbestimmte Zahl von Merkmalen beschrieben werden kann. Die Frage, ob jemand eine Tätigkeit selbständig oder nichtselbständig ausübt, ist deshalb anhand einer Vielzahl in Betracht kommender Merkmale nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zu beurteilen. Hierzu hat der erkennende Senat in seinem Urteil in BFHE 144, 225, BStBl II 1985, 661 zahlreiche Kriterien (Indizien) beispielhaft aufgeführt, die für die bezeichnete Abgrenzung Bedeutung haben können. Diese Merkmale sind im konkreten Einzelfall jeweils zu gewichten und gegeneinander abzuwägen, eine Aufgabe, die in erster Linie den Finanzgerichten als Tatsacheninstanz obliegt. Die im Wesentlichen auf tatrichterlichem Gebiet liegende Beurteilung ist revisionsrechtlich nur begrenzt überprüfbar (BFH-Beschlüsse vom 9. September 2003 VI B 53/03, BFH/NV 2004, 42; vom 9. November 2004 VI B 150/03, BFH/NV 2005, 347; vom 16. November 2006 VI B 74/06, BFH/NV 2007, 235; BFH-Urteil vom 7. November 2006 VI R 81/02, BFH/NV 2007, 426; BFH-Urteil in BFHE 218, 233, jeweils m.w.N.).
bb) Nach diesen Maßstäben lässt die Würdigung des FG, die fraglichen Telefoninterviewer seien als Arbeitnehmer anzusehen, keinen Rechtsfehler erkennen.
Ausgehend von der einschlägigen höchstrichterlichen Rechtsprechung hat das FG eine umfassende Würdigung der besonderen Umstände des Streitfalles vorgenommen. Gegen die vom FG seiner Würdigung zugrunde gelegten Feststellungen zu den konkreten Bedingungen, denen die von der Klägerin beschäftigten Interviewer bei ihrer Tätigkeit unterworfen waren, hat die Klägerin keine zulässigen und begründeten Verfahrensrügen vorgebracht (II.1.). Der Senat ist deshalb an diese Feststellungen gemäß § 118 Abs. 2 FGO gebunden. Auch soweit die Klägerin ihren in der mündlichen Verhandlung erhobenen Einwand, die Feststellungen des FG zur Arbeitnehmereigenschaft der Interviewer seien ohne Sachverhaltsbezug, durch den Vortrag von Tatsachen im Revisionsverfahren ergänzt hat, kann sie hiermit nicht mehr gehört werden. Denn nach ständiger Rechtsprechung des BFH kann neuer Tatsachenvortrag in der Revisionsinstanz nicht mehr berücksichtigt werden (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 14. Oktober 2003 VIII R 81/02, BFHE 203, 484, BStBl II 2004, 118; vom 10. März 2005 II R 55/03, BFH/NV 2005, 1309; vom 29. März 2007 IX R 14/06, BFH/NV 2007, 1471; Gräber/Ruban, a.a.O., § 118 Rz 36, m.w.N.).
Auch die Gewichtung der einzelnen Merkmale des Arbeitnehmerbegriffs ist eine tatrichterliche Aufgabe des FG, die der BFH nur bei Rechtsverstößen überprüfen kann (BFH-Urteile in BFHE 144, 225, BStBl II 1985, 661, und in BFHE 218, 233). Kommen --wie hier-- keine Verstöße gegen die Verfahrensordnung in Betracht, so ist die Beweiswürdigung nur bei Verstößen gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze revisibel (vgl. z.B. Gräber/Ruban, a.a.O., § 118 Rz 30, m.w.N.). Derartige im Revisionsverfahren beachtliche Rechtsfehler lässt die angegriffene finanzgerichtliche Entscheidung jedoch nicht erkennen. Das FG hat u.a. darauf abgestellt, ob die von der Klägerin beschäftigten Interviewer Unternehmerrisiko getragen und Unternehmerinitiative entwickelt haben und ob sie in erheblichem Umfang weisungsgebunden hinsichtlich Ort, Zeit und Inhalt ihrer Tätigkeit gewesen sind. Auch mit der Eingliederung der Interviewer in die betriebliche Organisation der Klägerin hat sich das FG befasst. Dabei hat es auf der genannten Tatsachengrundlage nachvollziehbar --und damit auf den Senat ebenfalls nach § 118 Abs. 2 FGO bindende Weise-- dargelegt, dass die Beschäftigten der Klägerin keine einem Selbständigen vergleichbare Initiative entfalten konnten und insbesondere hinsichtlich Ort und Inhalt ihrer Tätigkeit weisungsgebunden und organisatorisch in den Betrieb der Klägerin eingebunden gewesen sind. Bei jeder Gesamtwürdigung ist denkbar, dass das eine oder andere Merkmal anders gesehen werden könnte, es aber wegen der Gesamtbetrachtung an Bedeutung in der einen Richtung gewinnt oder verliert (BFH-Urteil vom 1. März 1973 IV R 231/69, BFHE 109, 39, BStBl II 1973, 458). Revisionsrechtlich genügt es deshalb, dass die vom FG vorgenommene Würdigung möglich ist. Der BFH darf als Revisionsgericht seine eigene Würdigung nicht an die Stelle der noch vertretbaren Würdigung des FG setzen (z.B. BFH-Urteil vom 2. Dezember 2005 VI R 16/03, BFH/NV 2006, 544).
cc) Das FG hat auch zutreffend entschieden, dass das FA seine Entschließung, die Klägerin als Haftende in Anspruch zu nehmen, frei von Ermessensfehlern ausgeübt hat.
(1) Der Arbeitgeber haftet --wie bereits ausgeführt-- dafür, dass die von seinen Arbeitnehmern geschuldete Lohnsteuer einbehalten und an das FA abgeführt wird (vgl. §§ 38 Abs. 3, 41a Abs. 1, 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG). Soweit die Haftung des Arbeitgebers reicht, sind er und die Arbeitnehmer gemäß § 42d Abs. 3 Satz 1 EStG Gesamtschuldner. Das FA kann die Steuerschuld oder die Haftungsschuld nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 5 der Abgabenordnung --AO--) gegenüber jedem Gesamtschuldner geltend machen (§ 42d Abs. 3 Satz 2 EStG).
(2) Die Inanspruchnahme der Klägerin als Haftungsschuldnerin war nicht von vornherein ausgeschlossen. Denn die Klägerin kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, dass sie aus ihrer Sicht --wie ihr auch das FG zugestanden hat-- in vertretbarer Weise ein freies Mitarbeiterverhältnis angenommen habe. Die im Streitfall vorliegenden Umstände schließen nämlich aus, dass sich die Klägerin insoweit in einem entschuldbaren Rechtsirrtum befunden hat.
(a) Die Haftungsinanspruchnahme des Arbeitgebers kann von vornherein ausgeschlossen sein, wenn sich der Arbeitgeber in einem Rechtsirrtum befunden hat, dessen Ursache in der Sphäre der Finanzverwaltung lag (z.B. BFH-Urteile vom 24. Januar 1992 VI R 177/88, BFHE 167, 359, BStBl II 1992, 696, und vom 18. August 2005 VI R 32/03, BFHE 210, 420, BStBl II 2006, 30, jeweils m.w.N.). Ein solcher Irrtum kann insbesondere anzunehmen sein, wenn sich der Arbeitgeber auf unklare Verwaltungsanweisungen beruft und sein auf dieser Unklarheit beruhender Rechtsirrtum entschuldbar ist. Ein entschuldbarer Rechtsirrtum liegt indes regelmäßig nicht vor, wenn der Arbeitgeber die Möglichkeit der Anrufungsauskunft (§ 42e EStG) hat, von dieser jedoch keinen Gebrauch macht. Gerade in schwierigen Fällen, wenn dem Arbeitgeber bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt Zweifel über die Rechtslage kommen müssen, kann der Verzicht auf eine Anrufungsauskunft vorwerfbar sein (vgl. BFH-Urteil in BFHE 210, 420, BStBl II 2006, 30, m.w.N.).
(b) Nach diesen Grundsätzen liegt im Streitfall kein entschuldbarer Rechtsirrtum der Klägerin vor. Das FG hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die Einordnung einer Beschäftigung als selbständig oder nichtselbständig in dem Streitfall vergleichbaren betrieblichen Konstellationen schon oft Gegenstand umfangreicher rechtlicher Auseinandersetzungen mit sozialversicherungsrechtlichem und lohnsteuerrechtlichem Hintergrund gewesen ist. Gerade bei einem personalintensiven Unternehmen, wie es die Klägerin betreibt, stellt die Qualifizierung der Beschäftigten als Arbeitnehmer oder Selbständige die für eine Vielzahl von Personen maßgebliche und betriebsspezifisch besonders gewichtige Grundfrage für die weitere steuer- und sozialversicherungsrechtliche Behandlung der Beschäftigten dar. Bei einer solchen Ausgangslage ist das Unterlassen des Lohnsteuer-Einbehalts ohne Anfrage nach § 42e EStG regelmäßig vorwerfbar, ein etwaiger Rechtsirrtum des Arbeitgebers also nicht entschuldbar. Umstände, nach denen im Streitfall ausnahmsweise eine andere Betrachtung geboten sein könnte, sind weder vom FG festgestellt noch von der Klägerin vorgetragen worden. Insbesondere durfte die auch in den Streitjahren anwaltlich beratene Klägerin nicht ohne Weiteres darauf vertrauen, dass die von ihr vertretene Rechtsansicht Bestand haben würde.
(3) Das FG hat in der vom FA getroffenen Auswahl der Klägerin als Haftungsschuldnerin zu Recht keinen nach § 102 FGO beachtlichen Ermessensfehler gesehen.
(a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist die Inanspruchnahme des Arbeitgebers regelmäßig zulässig, wenn nach einer Lohnsteuer-Außenprüfung viele Lohnsteuerbeträge aufgrund von im Wesentlichen gleich liegenden Sachverhalten nachzuerheben sind (vgl. BFH-Urteil in BFHE 210, 420, BStBl II 2006, 30, m.w.N.). Dem steht die Einkommensteuer-Veranlagung der Arbeitnehmer nicht entgegen. Denn nach § 42d Abs. 3 Satz 3 EStG kann der Arbeitgeber auch dann in Anspruch genommen werden, wenn die Arbeitnehmer zur Einkommensteuer veranlagt werden. Bei einer Vielzahl nachzufordernder Lohnsteuerbeträge kann es das FA regelmäßig für zweckmäßig erachten, den Arbeitgeber als Haftungsschuldner in Anspruch zu nehmen, statt die Steuer von den einzelnen Arbeitnehmern nachzufordern.
(b) Nach diesen Maßstäben hat das FG zu Recht darauf verwiesen, dass im Streitfall von der Lohnsteuer-Nachforderung bei einem gleichartigen Sachverhalt mehrere hundert Arbeitnehmer betroffen sind. Angesichts der Vielzahl der nachzufordernden Lohnsteuerbeträge konnte es das FA auch für zweckmäßig erachten, die Klägerin als Haftungsschuldnerin in Anspruch zu nehmen. Soweit der Senat in seinem Urteil in BFHE 167, 359, BStBl II 1992, 696, ausgeführt hat, dass das FA auch bei einer Vielzahl von Nacherhebungsfällen unter bestimmten Voraussetzungen gehalten sein könne, zunächst über Kontrollmitteilungen zu versuchen, die Lohnsteuer bei den Arbeitnehmern zu erheben, wenn die Arbeitnehmer ohnehin zu veranlagen seien, kommt diese Möglichkeit im Streitfall nicht zum Tragen. Dazu ist es nämlich erforderlich, dass der Arbeitgeber spätestens bis zum Abschluss des Einspruchsverfahrens konkrete Angaben zu den steuerlichen Verhältnissen derjenigen Arbeitnehmer macht, die aus der Vielzahl der Arbeitnehmer zunächst in Anspruch genommen werden sollen. Konkrete Angaben zu den steuerlichen Verhältnissen der einzelnen Beschäftigten hat die Klägerin indes nach den Feststellungen des FG weder bis zum Ende des Einspruchsverfahrens noch im Klageverfahren gemacht.
b) Revisionsrechtlich zu beanstanden ist jedoch die vom FG im Wege der Schätzung bestimmte Höhe der Lohnsteuer-Haftungsschuld.
aa) Die Höhe der Lohnsteuer, die der Arbeitgeber einzubehalten (§ 38 Abs. 3 EStG) und abzuführen (§ 41a Abs. 1 EStG) hat und für die er gemäß § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG haftet, bestimmt sich nach § 38a EStG. Nach Abs. 3 Satz 1 dieser Vorschrift wird die Lohnsteuer vom laufenden Arbeitslohn jeweils mit dem auf den Lohnzahlungszeitraum fallenden Teilbetrag der Jahreslohnsteuer erhoben, die sich bei Umrechnung des laufenden Arbeitslohns auf einen Jahresarbeitslohn ergibt. Bei der Ermittlung der Lohnsteuer werden die Besteuerungsgrundlagen des Einzelfalls u.a. durch die Einreihung der Arbeitnehmer in Steuerklassen (§ 38b EStG) berücksichtigt (§ 38a Abs. 4 EStG). Soweit die --hier für die Höhe der Lohnsteuer-Haftungsschuld maßgeblichen-- Besteuerungsgrundlagen nicht ermittelt oder berechnet werden können, hat sie die Finanzbehörde zu schätzen (§ 162 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AO). § 96 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz FGO räumt die Schätzungsbefugnis nach § 162 AO aber auch dem FG ein.
Nach § 162 Abs. 1 Satz 2 AO sind alle Umstände zu berücksichtigen, die für die Schätzung von Bedeutung sind. Die gewonnenen Schätzergebnisse müssen schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 18. Dezember 1984 VIII R 195/82, BFHE 142, 558, BStBl II 1986, 226; BFH-Beschluss vom 5. Dezember 2007 X B 4/07, BFH/NV 2008, 587; Klein/Rüsken, AO, 9. Aufl., § 162 Rz 36 f.). Ziel der Schätzung ist es, bezogen auf den jeweils festgestellten Sachverhalt die zahlenmäßigen Auswirkungen durch Wahrscheinlichkeitsüberlegungen so zu bestimmen, dass sie der Wirklichkeit möglichst nahe kommen (vgl. Trzaskalik in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 162 AO Rz 38). Deshalb sind alle möglichen Anhaltspunkte, u.a. auch das Vorbringen des Steuerpflichtigen oder eine an sich fehlerhafte Buchführung, zu beachten und alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um im Rahmen des der Finanzbehörde Zumutbaren die Besteuerungsgrundlagen wenigstens teilweise zu ermitteln (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2008, 587).
Die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen gehört zu den tatsächlichen Feststellungen i.S. von § 118 Abs. 2 FGO. Der BFH kann die Schätzung durch das FG nur daraufhin überprüfen, ob sie überhaupt zulässig ist und ob das FG anerkannte Schätzungsgrundsätze, Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze beachtet hat (ständige Rechtsprechung; vgl. z.B. BFH-Urteile vom 1. Dezember 1967 III 19/65, BFHE 91, 254, BStBl II 1968, 332; vom 21. Oktober 1997 VIII R 18/96, BFH/NV 1998, 582; vom 27. März 2001 I R 42/99, BFHE 195, 234, BStBl II 2001, 477, m.w.N.; BFH-Beschluss in BFH/NV 2008, 587, m.w.N.; Gräber/ Ruban, a.a.O., § 118 Rz 31, m.w.N.).
bb) Dies zugrunde gelegt, hält die vom FG vorgenommene Schätzung der Höhe der Lohnsteuer, für die die Klägerin in Haftung genommen werden soll, revisionsrechtlicher Prüfung nicht stand. Es kann offen bleiben, ob sich dem angegriffenen Urteil hinreichend deutlich entnehmen lässt, inwieweit das FG gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz FGO i.V.m. § 162 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AO zur Schätzung berechtigt und verpflichtet war. Jedenfalls lässt die angefochtene Entscheidung nicht auf eine für das Revisionsgericht nachprüfbare Weise erkennen, dass sie den genannten Anforderungen an eine möglichst wirklichkeitsnahe Schätzung entspricht.
(1) Dies gilt zunächst für die Vorgehensweise, generell, d.h. für alle im streitbefangenen Zeitraum festgestellten Leistungen der Klägerin an ihre Interviewer, die Lohnsteuerklasse VI anzuwenden, erst im Rahmen eines vom FG auf insgesamt 20 % erhöhten Abschlags auf die schließlich ermittelte Lohnsteuer aber zu berücksichtigen, dass –-wie es das FG zur Begründung des Abschlags ausdrücklich hervorgehoben hat-- eine Berechnung der Lohnsteuer nach der Steuerklasse VI bei nur einem Beschäftigungsverhältnis der Interviewer nicht sachgerecht sei.
Zwar gilt gemäß § 38a Abs. 4 EStG i.V.m. § 38b Satz 2 Nr. 6 EStG bei Arbeitnehmern, die nebeneinander von mehreren Arbeitgebern Arbeitslohn beziehen, für die Einbehaltung der Lohnsteuer vom Arbeitslohn aus dem zweiten und weiteren Dienstverhältnis die Lohnsteuerklasse VI. Das FG hat die Anwendung der Lohnsteuerklasse VI indes allein damit begründet, dass bereits aus dem Vortrag der Klägerin hervorgehe, dass die überwiegende Mehrzahl der Interviewer auch noch in weiteren Arbeitsverhältnissen gestanden habe, und dass die Klägerin auch nicht die Möglichkeit wahrgenommen habe, durch nachträgliche Vorlage der Lohnsteuerkarten eine Berechnung der Lohnsteuer nach günstigeren Steuerklassen zu erreichen. Dieser Begründung lässt sich unter den im Streitfall vorliegenden Umständen nicht entnehmen, dass das FG versucht hat, eine annähernd realitätsgerechte Anwendung der Lohnsteuerklassen nach den individuellen Verhältnissen der betroffenen Arbeitnehmer zu erreichen, und warum bzw. inwieweit ihm dies --auch unter Mitwirkung der Klägerin-- nicht möglich gewesen ist. Die Klägerin hat nämlich bereits im Rahmen der Lohnsteuer-Außenprüfung Unterlagen vorgelegt, aus denen sich ihre Zahlungen an die beschäftigten Interviewer --gegliedert nach Streitjahren und Personen-- ergeben sollen. Dass sich insoweit keinerlei Ansatzpunkte ergeben haben, die Anwendung der Lohnsteuerklasse VI für solche Arbeitnehmer auszuscheiden, für die kein weiteres Beschäftigungsverhältnis in Betracht kommt, lässt die Entscheidung der Vorinstanz nicht erkennen. Neben der Höhe der nach den vorgelegten Listen auf einzelne Arbeitnehmer entfallenden Zahlungen deuten zudem die von der Klägerin vorgetragenen Umstände zum Arbeitseinsatz der Interviewer darauf hin, dass bei einzelnen Arbeitnehmern auch die Voraussetzungen des § 40a EStG (in seiner in den Streitjahren geltenden Fassung) vorgelegen haben könnten. Nach dieser Vorschrift war bei nur kurzfristig beschäftigten Arbeitnehmern unter Verzicht auf die Vorlage einer Lohnsteuerkarte die pauschalierte Erhebung der Lohnsteuer zulässig. Auch diese Möglichkeit hat das FG nicht in Betracht gezogen. Im Streitfall ist deshalb nicht ersichtlich, dass nur noch mit dem vom FG angesetzten Abschlag eine hinreichende Annäherung an die tatsächlichen Verhältnisse erzielt werden konnte. Eine unzureichende Mitwirkung der Klägerin (§ 162 Abs. 2 AO) hat das FG nicht festgestellt.
(2) Aber auch die vom FG seiner Berechnung der Höhe der Haftungsschuld zugrunde gelegten durchschnittlichen Steuersätze lassen nicht erkennen, dass sie den Anforderungen an eine möglichst wirklichkeitsnahe Schätzung entsprechen.
Bei seiner Schätzung hat das FG eine pauschalierte Berechnung der Lohnsteuer durchgeführt, bei der es ohne nähere Erläuterungen die vom FA in der Einspruchsentscheidung zugrunde gelegten bzw. im Laufe des Ausgangsverfahrens vom FA dem FG mitgeteilten durchschnittlichen Steuersätze angewendet hat. Das FA wiederum ist methodisch dem Bericht der Lohnsteuer-Außenprüfung, die eine Berechnung der Lohnsteuer "in Anlehnung an § 40 Abs. 1 EStG" vorgenommen hat, gefolgt. Die Voraussetzungen für eine direkte oder analoge Anwendung des § 40 Abs. 1 EStG liegen im Streitfall nicht vor. Dies schließt es zwar nicht von vornherein aus, zur Bemessung der Lohnsteuer im Rahmen einer Schätzung durchschnittliche Steuersätze zugrunde zu legen, deren Berechnung sich an den für die Anwendung des § 40 Abs. 1 EStG geltenden Grundsätzen (vgl. auch R 40.1 Abs. 3 der Lohnsteuer-Richtlinien 2008, H 40.1 --Berechnung des durchschnittlichen Steuersatzes-- Lohnsteuer-Handbuch 2008) orientiert. Auch insoweit sind jedoch die Anforderungen des § 162 Abs. 1 Satz 2 AO zu beachten. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats darf daher bei ordnungsgemäß geführten Lohnkonten die nachzuerhebende Lohnsteuer nicht bereits deshalb "in Anlehnung an § 40 Abs. 1 EStG" mit einem durchschnittlichen Steuersatz geschätzt werden, weil die individuelle Ermittlung der Lohnsteuer für die Finanzbehörde zeitaufwendig ist (BFH-Urteil vom 17. März 1994 VI R 120/92, BFHE 174, 89, BStBl II 1994, 536). Bedenken gegen eine Schätzung der Lohnsteuer mit einem durchschnittlichen Steuersatz bestehen in einem solchen Fall nur dann nicht, wenn der Arbeitgeber --anders als im Streitfall erkennbar-- im Wege einer tatsächlichen Verständigung mit der Finanzbehörde der Berechnung der Steuer mit einem durchschnittlichen Steuersatz zugestimmt hat (BFH-Urteil in BFHE 174, 89, BStBl II 1994, 536). Zwar lässt sich den Feststellungen des FG nicht entnehmen, dass die Klägerin Lohnkonten geführt hat. Ungeachtet dessen hätten es aber die genannten Schätzungsgrundsätze im Streitfall erfordert, vor der Anwendung der vom FG nicht näher hergeleiteten Pauschsteuersätze --etwa in Anknüpfung an die bereits erwähnten Listen-- alle Möglichkeiten einer individuellen Ermittlung der Lohnsteuer zu untersuchen und ggf. darzulegen, weshalb eine wirklichkeitsnähere Abbildung der Verhältnisse nicht zu erreichen war. Der vom FG vorgenommene Abschlag ist auch insoweit ungeeignet, eine am Maßstab des § 162 Abs. 1 Satz 2 AO defizitäre Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen zu heilen. Dies wäre selbst dann der Fall, wenn die Schätzung unter Beachtung der genannten Grundsätze schließlich zu dem gleichen oder sogar zu einem für den Steuerpflichtigen ungünstigeren Ergebnis führte.
(3) Schließlich hat das FG seine Aussage, im Streitfall hätten sich keine konkreten Anhaltspunkte ergeben, dass Zahlungen auf die der Haftungsschuld zugrunde liegende Steuerschuld geleistet worden seien, nicht näher begründet und auch diesbezüglich auf den von ihm vorgenommenen Abschlag verwiesen. Deshalb vermag der erkennende Senat auch nicht zu überprüfen, ob die Schätzung des FG auch möglichen Zahlungen auf die Steuerschuld hinreichend Rechnung trägt.
3. Die Sache ist nicht entscheidungsreif. Im zweiten Rechtsgang wird das FG vorrangig --vor Prüfung etwaiger Abschläge-- nach Maßgabe der aufgeführten Grundsätze zu untersuchen haben, ob und inwieweit eine individuelle Bemessung der Lohnsteuer möglich ist. Dabei werden auch Unterlagen, welche die gemäß § 90 Abs. 1 AO weiterhin zur Mitwirkung verpflichtete Klägerin bereits vorgelegt hat, mit in die Würdigung einzubeziehen sein. Dies gilt auch für Auskünfte, die die Klägerin auf konkrete Ersuchen des FG ergänzend zu erteilen hat. Auch seine Vermutung, dass ein nicht nur geringer Teil der Interviewer Einkommensteuerveranlagungen habe durchführen lassen, wird das FG näher zu konkretisieren haben. Führte eine an den genannten Maßstäben orientierte Schätzung hinsichtlich der Höhe der Lohnsteuer zu einem für die Klägerin ungünstigeren Ergebnis als die bisherige Berechnung des FG, so verbliebe es bei der vom FG ermittelten Höhe der Lohnsteuer. Sollten sich die für die Bemessung der Höhe der Lohnsteuerhaftung maßgebenden tatsächlichen Verhältnisse auch nach Ausschöpfung aller im Streitfall zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nicht weiter ermitteln und feststellen lassen, so kann auch eine tatsächliche Verständigung der Beteiligten in Betracht gezogen werden (vgl. auch BFH-Urteil in BFHE 174, 89, BStBl II 1994, 536).
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