Diese Bezeichnung “Verkehrsauffassungs-Recht” wird hier das erste Mal verwendet. Rechtsprechung und Schrifttum gebrauchen sie noch nicht. Dabei ist der Begriff „Verkehrsauffassung“ jedem bekannt. Die Verkehrsauffassung ist über nahezu ausnahmslos alle Gesetze hinweg sowohl im deutschen Recht wie im Recht vieler Länder der Welt am häufigsten relevant. Ob die Verkehrsauffassung rechtserheblich ist, wie sie zu erheben, wie der ermittelte Sachverhalt zu analysieren, wie zu entscheiden und bekannt zu machen ist, - dazu stellen sich fortlaufend Fragen, nicht weniger als in anderen Rechtsgebieten. Betroffen ist eine Querschnittsmaterie mit einem bis jetzt recht unbekannten Allgemeinen Teil für alle Rechtsgebiete und einem noch weniger bekannten Besonderen Teil für spezielle Themen einzelner Rechtsgebiete. So neu dieses Rechtsgebiet ist, so wichtig und nützlich ist es für Juristen. Vorbereitet haben wir dieses Gebiet bereits mit vielen Publikationen, Vorträgen und Urteils-Kommentaren sowie seit 1978 mit Vorlesungen, Seminaren und Doktorarbeiten an der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München: Angewandte und Theoretische Rechtssoziologie. Dieses Wissen werden wir – systematisiert und erweitert – auf diesen neuen Internetauftritt übertragen.
Wegen der Neuheit, und weil die Verkehrsauffassung täglich erheblich ist, skizzieren wir schon an dieser Stelle der Homepage diese Materie etwas ausführlicher.
Für Rechtsanwälte, Gerichte, Unternehmen, für die Wissenschaft, Doktorranden, für alle Rechtsuchenden tun sich viele neue Möglichkeiten und Aufgaben auf. Es beginnt mit dem Verständnis. Oft ist es beispielsweise einem Rechtsuchenden völlig unverständlich, warum sein Anwalt dem Gericht nicht verständlich machen kann, dass sein Wettbewerber irreführt. Oder wie kann der Anwalt seinem Mandanten verständlich machen, dass das Gericht zur Verkehrsauffassung nicht die Auffassung des Mandanten vertritt? Der Grund für das Unverständnis erklärt sich ganz einfach: Das Gericht wird zur Verkehrsauffassung für den jeweiligen Fall einer Gruppe angehören, die just anders auffasst als der Rechtsuchende. Keine Gruppe ist gescheiter oder dümmer als die andere. Die eine Gruppe (wie in einem entschiedenen Fall der beklagte Münchener Konditor und andere) fasst die Bezeichnung „Lübecker Marzipan“ als Gattungsbezeichnung auf, die andere Gruppe (das entscheidende Gericht, Lübecker Konditoren und andere Verkehrskreise) dagegen als Herkunftsbezeichnung.
Die Auffassung des einzelnen entscheidenden Richters allein reicht im Prinzip nicht aus. Diese Sach- und Rechtslage wird auf dieser Webseite mit Hinweisen auf Rechtsprechung und Schrifttum dargestellt. Darüber hinaus werden auf unserer Webseite insgesamt die Grundzüge des Rechtsgebiets mit Rechtsprechung, auch unseren Publikationen dargestellt. Viele neuen Fragen werden in unseren Publikationen bereits aufgegriffen.
Erste spezielle Doktorarbeiten wurden zu einzelnen Gesetzesmerkmalen, nach denen die Verkehrsauffassung rechtserheblich ist, bereits erfolgreich abgeschlossen: zum Kartellrecht, zum Gegendarstellungsrecht und zum Verwaltungsrecht.
Insbesondere auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesgerichtshofs sind repräsentative Umfragen ein geeignetes Beweismittel zur Ermittlung des für die Verkehrsauffassung rechtserheblichen Sachverhalts. Sie sind sogar besser geeignet als Vollerhebungen, betont der Bundesgerichtshof besonders klar in seinem Urteil zum Zensus 2011.
Wir in der Kanzlei teilen die Arbeit zur Verkehrsauffassung in fünf Phasen ein. Eine Gliederung empfiehlt sich schon deshalb unbedingt, weil oft zwischen den Phasen hin und her gedacht und gerade in diesem neuen Rechtsgebiet klar getrennt und genau formuliert werden muss. Die fünf Phasen sind:
a. Definitionsphase. In Gerichtsverfahren endet diese Phase mit dem Beweisbeschluss. Dieser Beweisbeschluss verlangt ein eigenes Kapitel. In dieser Phase wird auch dargelegt, was es mit dem europäischen Verbraucherleitbild und mit dem Durchschnittsadressaten auf sich hat. Und es wird erklärt, inwiefern zugelassen wird, dass mangels eines Besseren im Einzelfall akzeptiert wird, mit Hilfsbegriffen zu arbeiten (wie „durchschnittlich informierter und verständiger Durchschnittsverbraucher“); und inwiefern in Kauf zu nehmen ist, dass das Gericht nicht wissen kann, wie der durchschnittlich informierte und verständige Durchschnittsverbraucher auffasst. Stets wird hier auf dieser Homepage auch zu diesen Themen auf Rechtsprechung und Schrifttum hingewiesen; insbesondere wird Rechtsprechung kommentiert. Wie in der Praxis verfahren werden kann, wird erläutert.
b. Durchführungsphase. Die Ermittlung des nach der Definition rechtserheblichen Sachverhalts. In der Durchführungsphase zeigt sich öfters, dass für die Formulierung von Fragen noch eingehender definiert werden. Wie gesagt: hin und her denken zwischen Phasen. Beispiel: Ist der flüchtige Blick oder eine eingehende Betrachtung rechtserheblich, wenn ermittelt wird, ob der Leser einen Text als Anzeige erkennt oder nicht?
Besonders wichtig ist nach dem gegenwärtigen Stand von Rechtsprechung und Wissenschaft: .Auch wenn nach der Definition noch mit Hilfsbegriffen wie „Durchschnittsverbraucher“ gearbeitet und das Gericht zur Vereinfachung alleine den Sachverhalt feststellt, also dezisionistisch, muss geklärt werden, wie das Gericht oder sonst ein Entscheider zur Feststellung des nach der Definition rechtserheblichen Sachverhalts vorgehen soll.
In der zivilrechtlichen Praxis wird die Verkehrsauffassung am intensivsten und weltweit betrachtet mit am fortschrittlichsten diskutiert. Erwähnt haben wir, dass der EuGH und der BGH repräsentative Umfragen als zuverlässiges Beweismittel anerkennen. Das eigene Urteil des Richters darüber, was im Einzelfall die Verkehrsauffassung ist, ist jedoch noch die Regel. Aber es fehlt selbst in diesem Falle beispielsweise noch bei den Zivilsenaten des BGH der Blick zu seinen eigenen Strafsenaten. Strafrechtlich verwirft der BGH die Ansicht, dass Richter nach eigenen Vorstellungen beurteilen dürfen, ob bei verabredeten Prügeleien zwischen rivalisierenden Gruppen bestimmte Handlungen gegen die guten Sitten verstoßen. Die Strafsenate des BGH denken zur weiteren Ermittlung des rechtserheblichen Sachverhalts in die Definitionsphase zurück und leiten aus gesetzlichen Wertmaßstäben anderen Sachverhalt als die Wertvorstellungen des Richters als rechtserheblich ab; das heißt: Die persönliche Auffassung des Richters scheidet als Sachverhalt aus, wenn zu ermitteln ist, welcher Sachverhalt zu den guten Sitten zu ermitteln ist.
c. Analysephase. In ihr muss beispielsweise festgestellt werden, ob 30% oder 50% ausreichen, in einem bestimmten Sinne eine Äußerung als Tatsachenbehauptung oder als Meinungsäußerung aufzufassen. Zu Lübecker Marzipan kann eine Studie (hier unterstellt) ergeben: 40 % antworten: „wird nur in Lübeck hergestellt“, 28 %: „es handelt sich um eine bestimmte Art von Marzipan und wird in Lübeck und anderswo hergestellt“. Ab welcher Quote wird irregeführt?
Wird mit Hilfsbegriffen („Durchschnittsverbraucher“) und Hilfsmitteln (Schätzung durch den Richter) gearbeitet, muss das Gericht entsprechend vereinfacht vorgehen und mehr oder weniger schätzen.
d. Entscheidungsphase. Beispielsweise muss entschieden werden, dass im Einzelfall nach der in der Analysephase ermittelten Quote irregeführt wird. Zum Beispiel könnte abweichend von der früheren Praxis 20 % als Mindestquote für Irreführung anzunehmen sein und dementsprechend geurteilt werden.
e. Bekanntmachungsphase. Die Fragen in dieser Phase reichen bis zu: Ist – wenn eine Umfrage durchgeführt worden ist – der Fragebogen zu veröffentlichen? Oder, wenn mit Hilfsbegriffen und -mitteln gearbeitet wurde, ist dann im Urteil darzulegen: Nach der Definition müsste ermittelt werden, wie ein erheblicher Teil der Adressaten auffasst. Das Gericht ist dazu wie folgt vorgegangen. Es ist denkbar, dass eine empirische Studie andere Ergebnisse ergäbe. Mangels einer Studie hat das Gericht angenommen…
Eine methodenehrliche Bekanntmachung dieser Art hat den äußerst wichtigen Vorteil, dass dem Rechtsfrieden gedient wird. Der Unterlegene weiß, dass seine Ansicht nicht angeblich dumm oder falsch ist, sondern er weiß, dass sich das Gericht aus bestimmten Gründen zum Kriterium Verkehrsauffassung für eine andere Gruppe entschieden hat und ein anderes Gericht eventuell einer anderen Gruppe angehört und anders entschieden hätte.
Diese von uns eingeführte Einteilung lehnen Rechtsprechung und Schrifttum nicht ab; die Zustimmung wird jedoch meistens nicht ausdrücklich erklärt und nicht stets sorgfältig, methodengerecht angewandt. Da gegenwärtig nur selten repräsentative Umfragen durchgeführt werden können, entscheiden die Gerichte, wie ausgeführt, meist auf der Basis von Hilfsbegriffen (oben Definitionsphase: Durchschnittsverbraucher“) nach eigenem (verantwortungsvollen) Gutdünken (oben Durchführungsphase). Allerdings gibt es immer mehr Fallgruppen, bei denen der relevante Verkehrskreis online preisgünstig und schnell repräsentativ befragt werden kann. Jedenfalls für diese Gebiete ist zu erwarten, dass repräsentative Umfragen – da methodengerecht - weit häufiger durchgeführt werden.
Eine „Delikatesse“ bilden Fälle, in denen schnell noch zwischen zwei Instanzen für die nächste Instanz repräsentativ nachgewiesen wird, dass sich der Sachverhalt anders darstellt, als es das Gericht der Vorinstanz angenommen hat. Bestes Musterbeispiel ist noch heute eine Entscheidung des Oberlandesgerichts München vom 19. Juni 1997 (Az. 29 U 5606/96; AfP 1997, 930 - Zum Beweis für die Anschauungen eines unbefangenen Durchschnittslesers mit Anmerkung Prof. Dr. Robert Schweizer) mit einer ausführlichen Anmerkung von uns zu der Frage, ob der Verkehr im entschiedenen Fall auf den ersten Blick erkennt, dass eine Seite nicht als redaktionell aufgefasst, sondern erkennbar als Anzeige wahrgenommen wird. Das LG München I nahm an, „der flüchtige Durchschnittsleser“ erkenne nicht auf den ersten Blick, dass es sich um eine Anzeige handelt. Die repräsentative Umfrage für das Berufungsverfahren beim OLG München ergab jedoch ganz im Gegenteil: 89 % aller und 92 % der BUNTE-Leser erkennen auf den ersten Blick, dass es sich um Werbung handelt. Wir führen das Musterbeispiel ausnahmsweise mit Fundstelle schon in dieser Einleitung an, weil es für das „Verkehrsauffassungs-Recht“ besonders anschaulich ist und nahezu beliebig als Anschauungsmaterial für andere Fälle herangezogen werden kann: AfP 1997, 931 ff. mit ausführlicher Anmerkung sowie – mit Fragebogen und Abbildung der beurteilten Seite – Schweizer, Die Entdeckung der pluralistischen Wirklichkeit, 3. Aufl., Seiten V bis XIII. Gleich anschließend wird a.a.O., Seiten XIV ff. ein weiteres Beispiel mit Abbildung und Fragebogen und Ergebnissen aufgeführt. LG Hamburg: Leserschaft erkennt beim Titelblatt nicht, dass es sich um eine Neueinführung handelt; HansOLG Hamburg Leserschaft erkennt: Neueinführung. In beiden aufgeführten Fällen sind die beiden Oberlandesgerichte zur Verkehrsauffassung zu anderen Ergebnissen gelangt als die erstinstanzlichen Landgerichte.
Wie es sich in einem Handbuch gehört, werden nach und nach möglichst viele Beispiele und Anleitungen aufgeführt werden. In der Suchfunktion werden Sie viele Beispiele finden unter Suchbegriffen wie „Verkehrsauffassung“, „richterlicher Dezisionismus“, „europäisches Verbraucherleitbild“, „Quote“, „Befragungstechnik“, „Irreführungsgefahr“, „Verwechslungsgefahr“, „Verkehrsdurchsetzung“. Viele Gerichtsentscheidungen werden durch uns in „Anmerkungen“ kommentiert.