Zur Streupflicht: Sicherung des Zuganges zum Mietobjekt
Gericht
BGH
Art der Entscheidung
Urteil
Datum
22. 01. 2008
Aktenzeichen
VI ZR 126/07
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 10. Zivilsenats des Kammergerichts vom 15. März 2007 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsge-richt zurückverwiesen.
Tatbestand:
Die Klägerin verlangt von der Beklagten materiellen und immateriellen Schadensersatz für die Folgen eines durch Eisglätte verursachten Sturzes.
Am 5. Februar 2001 gegen 9.30 Uhr stürzte die Klägerin beim Verlassen des von ihr bewohnten Hauses in Berlin, weil trotz Schnee- und Eisglätte der Eingangsbereich nicht hinreichend bestreut war. Sie zog sich dabei erhebliche Verletzungen zu. Die Stadt Berlin hat die ihr obliegende Räum- und Streupflicht auf die Hauseigentümer übertragen. Der Eigentümer des betreffenden Grund-stücks hat seinerseits seit über 10 Jahren die Beklagte mit der Erfüllung der ihm - 3 -
obliegenden Pflichten betraut. Die nach § 6 Abs. 1 Straßenreinigungsgesetz Berlin vorgeschriebene Übertragungsanzeige an die Stadt Berlin fehlte für den Winter 2000/2001. Die Klägerin ist der Auffassung, dass die Beklagte aufgrund der Übernahme der Räum- und Streupflicht für die Folgen des Sturzes hafte.
Mit Beschluss vom 25. April 2003 wurde gegen die Beklagte das Insol-venzverfahren eröffnet. Am 7. April 2005 wurde vom Amtsgericht die Rest-schuldbefreiung angekündigt und am 18. Mai 2005 nach Abhaltung des Schlusstermins das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Beklagten auf-gehoben. Das Landgericht hat die Klage mangels Rechtsschutzbedürfnisses als unzulässig abgewiesen. Die Berufung der Klägerin blieb erfolglos. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Ansprüche in vollem Umfang weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hält die Klage zwar für zulässig, aber nicht für be-gründet. Die Insolvenzordnung sehe eine Präklusion von Ansprüchen, die nicht zur Insolvenztabelle angemeldet worden sind, nicht vor. Sie ergebe sich auch nicht aus § 87 InsO. Der Klageerhebung stehe auch nicht § 294 InsO entgegen (vgl. LG Arnsberg NZI 2004, 515, 516). Ein Titel könne während der Wohlver-haltensphase nicht vollstreckt werden und im Fall einer Restschuldbefreiung stünde § 301 InsO einer Vollstreckung entgegen.
Im Übrigen verneint das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten, weil eine Anspruchsgrundlage nicht gegeben sei. Es ist der Auffassung, dass der Vertrag, mit dem die Räum- und Streupflicht für die Wintersaison 2000/2001 - 4 -
vom Hauseigentümer auf die Beklagte übertragen worden sei, keine Schutz-wirkung zugunsten der Klägerin entfalte. Der Mietvertrag mit dem Eigentümer umfasse nicht die öffentliche Straße, so dass die Klägerin den übrigen Straßen-benutzern gleichgestellt sei. Die deliktische Haftung unter dem Gesichtspunkt der Verletzung der Verkehrssicherungspflicht scheitere daran, dass die Beklag-te am 5. Februar 2001 für den Unfallort nicht verkehrssicherungspflichtig gewe-sen sei. Zwar könne nach § 6 Abs. 1 des Straßenreinigungsgesetzes Berlin ein Dritter in die Verpflichtung des Eigentümers des Anliegergrundstücks zur Durchführung des Winterdienstes eintreten. Hierfür sei aber die Anzeige der Übertragung an die Behörde und deren Zustimmung Voraussetzung. Beides fehle für die Wintersaison 2000/2001.
II.
Das Berufungsurteil hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.
1. Zwar hat das Berufungsgericht mit Recht die Klage für zulässig erach-tet. Hierfür besteht ein Rechtsschutzbedürfnis, auch wenn sich die Beklagte in der Wohlverhaltensphase befindet und für die Klägerin das Vollstreckungsver-bot nach § 294 Abs. 1 InsO gilt, obwohl die streitgegenständliche Forderung nicht zur Tabelle angemeldet wurde und nicht bei der Verteilung der eingegan-genen Beträge durch den Treuhänder berücksichtigt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Juli 2006 - IX ZB 288/03 - WM 2006, 1780 m.w.N.). Mangels Vollstre-ckungswirkung der Klage kann der Klägerin die Geltendmachung der Forderung aber nicht aufgrund des Vollstreckungsverbots nach § 294 Abs. 1 InsO unter-sagt werden. Die Parteien befinden sich noch im Erkenntnisverfahren und nicht im Vollstreckungsverfahren. Ein Rechtsschutzinteresse kann der Klägerin auch nicht mit Blick auf die Regelung in § 301 Abs. 1 InsO abgesprochen werden. - 5 -
Danach wirkt die Restschuldbefreiung, wird sie erteilt, gegen alle Insolvenz-gläubiger. Dies gilt nach Satz 2 der Vorschrift auch für Gläubiger, die ihre For-derungen nicht angemeldet haben. Ob der Beklagten die begehrte Restschuld-befreiung erteilt werden wird, kann derzeit nicht abschließend beurteilt werden (vgl. §§ 295 ff. InsO). Würde die Restschuldbefreiung versagt, könnten die In-solvenzgläubiger sofort gegen die Beklagte aus der Eintragung in die Tabelle vollstrecken (§ 201 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 und 2 InsO). Das Vollstreckungs-verbot des § 294 Abs. 1 InsO stünde dem nicht mehr entgegen (vgl. § 299 In-sO). Würde die Klägerin darauf verwiesen, sie müsse erst die Versagung bzw. den Widerruf einer bereits erteilten Restschuldbefreiung abwarten, um den Rechtsstreit fortzusetzen, würde sie gegenüber den anderen Gläubigern, die sofort vollstrecken dürfen und könnten, benachteiligt. Dies ist nicht Sinn und Zweck der Regelungen der §§ 294 Abs. 1, 301 Abs. 1 InsO (vgl. BGH, Urteil vom 28. Juni 2007 - IX ZR 73/06 - WM 2007, 1844, 1845; Brandenburgisches Oberlandesgericht - Urteil vom 12. Dezember 2007 - 3 U 82/07 - Rn. 14/17 ju-ris; LG Arnsberg, NZI 2004, 515, 516; Uhlenbruck, InsO, 12. Aufl., § 87 Rn. 3). Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung ist § 87 InsO nicht analog für das Restschuldbefreiungsverfahren anwendbar (vgl. Uhlenbruck, aaO). Da-gegen spricht schon, dass die gesetzliche Regelung in § 301 Abs. 1 Satz 2 In-sO davon ausgeht, dass auch Gläubiger, die nicht Insolvenzgläubiger sind, Forderungen geltend machen können.
2. Durchgreifende rechtliche Bedenken bestehen jedoch gegen die recht-lichen Ausführungen, mit denen das Berufungsgericht jegliche Anspruchsmög-lichkeit für die Klägerin gegen die Beklagte verneint. Die Beklagte könnte auf-grund der Übernahme der Streu- und Räumpflicht deliktisch zum Schadenser-satz und damit auch zur Zahlung eines Schmerzensgeldes verpflichtet sein. - 6 -
a) Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats können Verkehrssicherungspflichten mit der Folge eigener Entlastung delegiert werden. Die Verkehrssicherungspflichten des ursprünglich Verantwortlichen verkürzen sich dann auf Kontroll- und Überwachungspflichten. Wer sie übernimmt, wird seinerseits deliktisch verantwortlich. Voraussetzung hierfür ist, dass die Über-tragung klar und eindeutig vereinbart wird (vgl. Senatsurteile vom 4. Juni 1996 - VI ZR 75/95 - VersR 1996, 1151, 1152; vom 17. Januar 1989 - VI ZR 186/88 - VersR 1989, 526 f. und vom 8. Dezember 1987 - VI ZR 79/87 - VersR 1988, 516, 517; OLG Hamm VersR 2000, 862; OLG Nürnberg VersR 1996, 900; OLG Düsseldorf NJW 1992, 2972; VersR 1995, 535; OLG Celle RuS 1997, 501; Gei-gel/Wellner, Der Haftpflichtprozess 25. Aufl. Kap. 14 Rn. 204). Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist hingegen nicht erforderlich, dass die nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften erforderliche Anzeige der Übertragung ge-genüber der zuständigen Behörde erfolgt ist. Die deliktische Einstandspflicht des mit der Wahrnehmung der Verkehrssicherung Beauftragten besteht auch dann, wenn der Vertrag mit dem Primärverkehrssicherungspflichtigen nicht rechtswirksam zustande gekommen ist (vgl. Senatsurteil vom 17. Januar 1989 - VI ZR 186/88 - aaO; BGB-RGRK/Steffen 12. Aufl., § 823 Rn. 129; Münch-Komm-BGB/Wagner, 4. Aufl., § 823 Rn. 288 f.; Soergel/Krause, BGB, 13. Aufl., § 823 Anh. II Rn. 53 f.; Staudinger/J. Hager (1999) § 823 BGB E 64; von Bar, Verkehrspflichten, 1980, S. 121). Entscheidend ist, dass der in die Verkehrssi-cherungspflicht Eintretende faktisch die Verkehrssicherung für den Gefahrenbe-reich übernimmt und im Hinblick hierauf Schutzvorkehrungen durch den primär Verkehrssicherungspflichtigen unterbleiben, weil sich dieser auf das Tätigwer-den des Beauftragten verlässt. Dieser ist aufgrund der von ihm mitveranlassten neuen Zuständigkeitsverteilung für den übernommenen Gefahrenbereich nach allgemeinen Deliktsgrundsätzen verantwortlich. Insofern ist seine Verkehrssi-cherungspflicht nicht abgeleiteter Natur. Vielmehr erfährt sie mit der Übernahme - 7 -
durch den Beauftragten in seine Zuständigkeit eine rechtliche Verselbständi-gung. Er ist es fortan, dem unmittelbar die Gefahrenabwehr obliegt und der da-für zu sorgen hat, dass niemand zu Schaden kommt. Inhalt und Schutzbereich dieser verselbständigten Verkehrssicherungspflicht bestimmen sich allein da-nach, was objektiv erforderlich ist, um mit der Gefahrenstelle in Berührung kommende Personen vor Schaden zu bewahren.
b) Hat die Beklagte die von ihr übernommene Verpflichtung zur Streuung des Fußweges schuldhaft verletzt, ist die Klägerin infolgedessen gestürzt und sind die geltend gemachten Verletzungen darauf zurückzuführen, ist der An-spruch dem Grunde nach zu bejahen. Ob dies der Fall ist, kann der erkennende Senat aufgrund der vom Berufungsgericht festgestellten Tatsachen nicht ent-scheiden.
3. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kommen - da es sich um einen Altfall handelt nur hinsichtlich des materiellen Schadens (Art. 229 §§ 5, 8 Abs. 1 EGBGB) - auch vertragliche Schadensersatzansprüche aufgrund der Schutzwirkung des Vertrages zwischen dem Eigentümer und der Beklagten zu Gunsten der Klägerin in Betracht. In den Schutzbereich eines Vertrages sind Dritte einbezogen, auf die sich Schutz- und Fürsorgepflichten aus vertraglichen Vereinbarungen nach dem Vertragszweck zwangsläufig erstrecken. Um die Schutzpflichten zugunsten Dritter nicht zu weit auszudehnen, ist allerdings er-forderlich, dass der Dritte bestimmungsgemäß mit der Hauptleistung in Berüh-rung kommt und der Gläubiger ein schutzwürdiges Interesse an der Einbezie-hung des Dritten in den Schutzbereich des Vertrages hat (vgl. BGHZ 133, 168, 171 ff.). Mit Recht weist die Revision darauf hin, dass im Streitfall diese Voraus-setzungen zu bejahen sind. Die Sicherung des unmittelbaren Zugangs zum Haus bei Schnee- und Eisglätte ist Aufgabe des Vermieters. Sie dient vor allem dem Schutz der Mieter (vgl. Senatsurteil vom 12. Juli 1968 - VI ZR 134/67 - - 8 -
VersR 1968, 1161; Palandt/Weidenkaff BGB 67. Aufl. § 535 Rn. 60). Dass die Übertragung der Streupflicht den sicheren Zugang der Mieter zum Haus und damit u.a. für die Klägerin gewährleisten sollte, liegt auf der Hand. Dies war auch für die Beklagte ohne weiteres erkennbar.
4. Nach alledem ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zur weiteren Sachaufklärung zurückzuverweisen.
Müller Wellner Diederichsen
Stöhr Zoll
Vorinstanzen:
Kanzlei Prof. Schweizer Rechtsanwaltsgesellschaft mbH © 2020
Impressum | Datenschutz | Cookie-Einstellungen