Offensichtlich unhaltbare Entscheidung
Gericht
BayVerfGH
Art der Entscheidung
Entscheidung
Datum
22. 03. 2007
Aktenzeichen
Vf. 83-VI-06
Eine Verletzung des Art. 86 Abs. 1 Satz 2 BV ist anzunehmen, wenn sich die Entscheidung eines Gerichts bei der Auslegung und Anwendung einer Zuständigkeitsnorm so weit von dem sie beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt, dass sie mit sachlichen Erwägungen nicht mehr zu rechtfertigen und damit offensichtlich unhaltbar ist.
Auszüge aus den Gründen:
I. - III. A. ...
B. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts vom 20. 6. 2006 richtet, ist sie zulässig und begründet.
1. Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung von Rechten der Bayerischen Verfassung durch die Gestaltung des gerichtlichen Verfahrens. Dass dieses Verfahren bundesrechtlich geregelt ist, hindert den Verfassungsgerichtshof nicht an einer Überprüfung. Der Verfassungsgerichtshof kann die Durchführung eines bundesrechtlich geregelten Verfahrens durch Gerichte des Freistaates Bayern daraufhin kontrollieren, ob mit dem Grundgesetz inhaltsgleiche subjektive Rechte der Bayerischen Verfassung verletzt sind. Die hier gerügten Art. 86 Abs. 1 Satz 2 BV (gesetzlicher Richter), Art. 91 Abs. I BV (rechtliches Gehör) und Art. 118 Abs. I BV (Willkürverbot) beinhalten Grundrechte, die durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG mit gleichem Inhalt gewährleistet werden (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 13. 3. 1998, VerfGH 51, 49/53 = BayVBl. 1998, 432; VerfGH vom 21. 6. 2002, VerfGH 55, 81/83 = BayVBl. 2002, 696; VerfGH vom 29.6.2004, VerfGH 57, 62/65 f.).
2. Der Beschluss des Landgerichts vom 20. 6. 2006 verletzt das durch Art. 86 Abs. 1 Satz 2 BV verbürgte Recht auf den gesetzlichen Richter.
a) Art. 86 Abs. 1 Satz 2 BV gewährleistet, dass die Zuständigkeit des Gerichts rechtssatzmäßig festgelegt und in jedem einzelnen Fall von jedem Träger der öffentlichen Gewalt respektiert werden muss (VerfGH vom 26. 2. 1962, VerfGH 15, 15/19 = BayVBl. 1962, 144 [Leitsätze]; VerfGH vom 28. 1. 1963, VerfGH 16, 10/13). Das Verbot der Entziehung des gesetzlichen Richters wendet sich in erster Linie an Exekutive und Gesetzgebung. Es untersagt aber auch jede willkürliche Verschiebung innerhalb der Justiz, durch die der für einen bestimmten Fall berufene Richter durch einen anderen Richter ersetzt würde (VerfGH 15, 15/19). Allerdings wird nicht durch jede gerichtliche Maßnahme, die auf einem Verfahrensirrtum (error in procedendo), insbesondere auf einem Irrtum über die Zuständigkeit, beruht, das verfassungsmäßige Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt. Ein solcher Verstoß setzt vielmehr unsachliche, willkürliche Erwägungen voraus (VerfGH 15, 15/19; VerfGH vom 18.6.1971, VerfGH 24, 109/111; VerfGH vom 15.7.2005, VerfGH 58, 168/177 = BayVBl. 2006, 480; vgl. auch BVerfG vom 13. 3. 1958, BVerfGE 7, 327/329; BVerfG vom 30. 6.1970, BVerfGE 29, 45/48). Eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter ist aber jedenfalls anzunehmen, wenn die Entscheidung eines Gerichts sich bei der Auslegung und Anwendung einer Zuständigkeitsnorm so weit von dem sie beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt, dass sie mit sachlichen Erwägungen nicht mehr zu rechtfertigen und damit offensichtlich unhaltbar ist (VerfGH vom 8. 2. 1985, VerfGH 38, 11/14 = BayVBl. 1985,363; vgl. auch BVerfGE 29, 45/49; BVerfG vom 29. 6. 1976, BVerfGE 42, 237/242). Dies ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Verschulden der Richter ist nicht erforderlich.
b) Gemäß § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG wäre zur Entscheidung über die Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts das Oberlandesgericht zuständig gewesen, da die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der Rechtshängigkeit erster Instanz ihren allgemeinen Gerichtsstand im Ausland hatte (vgl. hierzu auch BGH vom 13. 5. 2003, NJW 2003, 2686/2687). Die Unzuständigkeit des Landgerichts war offenkundig. Unerheblich ist, dass das Landgericht zum Zeitpunkt der Entscheidung vom 20. 6. 2006 ganz offensichtlich die Zuständigkeitsfrage in keiner Weise problematisiert hatte und nur irrtümlich von der eigenen Zuständigkeit ausging. Die - wenn auch irrtümliche - Annahme des Landgerichts, es sei für eine Sachentscheidung zuständig, ist bei verständiger Würdigung nicht nachvollziehbar, die Entscheidung ist offensichtlich unhaltbar. Sie ist mit sachlich einleuchtenden Erwägungen nicht zu rechtfertigen und daher auch mit Bedeutung und Tragweite der Garantie des gesetzlichen Richters nicht mehr in Einklang zu bringen.
c) Die angegriffene Entscheidung beruht auf dem Verfassungsverstoß. Bei zutreffender Anwendung des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG hätte das Landgericht die Akten dem zuständigen Oberlandesgericht zuleiten müssen. Es ist nicht auszuschließen, dass das Oberlandesgericht eine für die Beschwerdeführerin günstigere Entscheidung getroffen hätte.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass die Frist für die Einlegung der Berufung beim Oberlandesgericht zwischenzeitlich abgelaufen sei. Es ist durchaus möglich, dass die Beschwerdeführerin das nunmehr wieder beim Landgericht anhängige Verfahren über die Berufung vom 2. 12.2005 vor dem Oberlandesgericht durchführen kann. Für das weitere Verfahren ist darauf hinzuweisen, dass das Landgericht die Akten formlos an das Oberlandesgericht abzugeben haben wird. Eine Verweisung, wie von der Beschwerdeführerin mit Schriftsatz vom 5. 7. 2006 beantragt, ist bei funktioneller Unzuständigkeit im Gesetz grundsätzlich nicht vorgesehen (vgl. Greger, in: Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2007, RdNr. 4 zu § 281; Reinhold, in: Thomas/Putzo, ZPO, 27. Aufl. 2005, RdNr. 1 zu § 281, jeweils m. w. N. auch zu den zugelassenen Ausnahmefällen; die Frage der entsprechenden Anwendung ist allerdings offen gelassen in der Entscheidung des BGH, NJW 2003, 2686/2687). Im Hinblick darauf, dass die Akten des Berufungsverfahrens am 23. 12. 2005 erstmals einem richterlichen Mitglied der Kammer des Landgerichts vorgelegt wurden, die Berufungsfrist aber erst am 30. 12. 2005 ablief, wäre eine Weiterleitung der Akten im ordentlichen Geschäftsgang an das Oberlandesgericht möglich gewesen. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht ausgeschlossen, dass das Oberlandesgericht Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist gewähren könnte.
3. Ob der Beschluss des Landgerichts vom 20. 6. 2006 auch gegen das Willkürverbot oder das Grundrecht auf rechtliches Gehör verstößt, kann dahinstehen.
C. Durch die Aufhebung des Beschlusses vom 20. 6. 2006 wird der Beschluss des Landgerichts vom 17. 8. 2006 gegenstandslos; eine gesonderte Aufhebung ist nicht geboten (VerfGH vom 7. 5. 2004, NJW-RR 2004, 1725).
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