Hinweispflicht des Gerichts bei unzureichendem Beweisangebot
Gericht
BGH
Art der Entscheidung
Beschluss über Beschwerde
Datum
08. 05. 2007
Aktenzeichen
VI ZB 80/06
Zum Beweis des rechtzeitigen Eingangs mit Einwurf der Berufungsschrift in den Nachtbriefkasten durch den Prozessbevollmächtigten des Rechtsmittelführers.
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Dresden vom 7. November 2006 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens: 786,41 €
Gründe:
I.
Der Kläger nimmt die Beklagten auf Ersatz materieller und immaterieller Schäden nach einem Verkehrsunfall vom 3. Juli 2005 in Anspruch. Das Amtsgericht P. hat die Klage zum Teil abgewiesen. Dieses Urteil ist den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 30. August 2006 zugestellt worden. Mit Schriftsatz vom 29. September 2006 hat der Kläger Berufung eingelegt. Der Schriftsatz ist beim Berufungsgericht ausweislich des Eingangsstempels am 3. Oktober 2006 eingegangen. Mit Verfügung des Vorsitzenden der 4. Zivilkammer des Landgerichts D. vom 5. Oktober 2006 wurde der Kläger darauf hingewiesen, "dass die Berufung unzulässig sein dürfte, da … die Berufungsfrist nicht eingehalten sein dürfte".
Mit Schriftsatz vom 12. Oktober 2006 beantragte der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und legte dar, der Prozessbevollmächtigte des Klägers habe sich in Kenntnis der am 2. Oktober 2006 ablaufenden Frist persönlich zum Landgericht D. begeben und die Berufungsschrift zusammen mit einem anderen Schriftsatz am 2. Oktober 2006 zwischen 13.00 und 14.00 Uhr in den Nachtbriefkasten gesteckt. Auch auf dem anderen Schriftsatz sei als Eingangsstempel der 3. Oktober 2006 vermerkt worden. Voraussetzung für eine Wiedereinsetzung sei die Versäumung einer Frist. Der Unterzeichner des Schriftsatzes trage ausdrücklich vor, dass keine Frist versäumt worden sei. Ob für eine Wiedereinsetzung Raum bleibe, möge das Gericht entscheiden. Der Unterzeichner sei sich sicher, die Schriftsätze bereits am 2. Oktober 2006 in den Briefkasten des Landgerichts gesteckt und am 3. Oktober 2006, einem Feiertag, keine Post zum Landgericht gebracht zu haben. Er sei ohne weiteres bereit, dies gemäß § 236 Abs. 2 ZPO an Eides statt zu versichern.
Mit Verfügung vom 13. Oktober 2006 ordnete der Vorsitzende des Berufungsgerichts eine Anfrage bei der Poststelle an, ob am 2. bzw. 3. Oktober 2006 Probleme technischer Art beim Nachtbriefkasten bekannt seien. Nach Mitteilung der Poststelle (Herr H.) - so ein weiterer Vermerk in der Akte - seien an diesen Tagen keine Probleme aufgetreten. Eine Mitteilung der Nachfrage und ihrer Beantwortung an den Kläger erfolgte nicht.
Mit Schriftsatz vom 23. Oktober 2006, per Fax am selben Tag beim Landgericht eingegangen, beantragte der Kläger Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis 20. November 2006 und bat, zunächst über den Wiedereinsetzungsantrag zu entscheiden. Die Fristverlängerung hat der Vorsitzende des Berufungsgerichts antragsgemäß am 26. Oktober 2006 gewährt.
Die Beklagten sind dem Antrag auf Wiedereinsetzung entgegengetreten. Der Schriftsatz des Klägers vom 12. Oktober 2006 enthalte keine Beweisangebote. Die bloße Behauptung rechtzeitigen Eingangs genüge nicht. Die Rechtzeitigkeit müsse vielmehr zur vollen Überzeugung des Gerichts nachgewiesen werden.
Mit dem angefochtenen Beschluss vom 7. November 2006 hat das Landgericht die Berufung des Klägers und seinen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, ausweislich des Posteingangsstempels sei die Berufung erst nach Ablauf der Berufungsfrist am 3. Oktober 2006 eingegangen. Der Eingangsstempel entfalte nach § 418 ZPO Beweiskraft. Der Gegenbeweis sei mit der Behauptung des Einwurfs am 2. Oktober 2006 nicht angetreten. Eine Nachfrage habe im Übrigen ergeben, dass es am 2./3. Oktober 2006 zu keinen technischen Problemen gekommen sei. Der Wiedereinsetzungsantrag sei unzulässig, weil nur die Einhaltung der Frist behauptet werde.
Mit seiner Rechtsbeschwerde vom 30. November 2006 begehrt der Kläger, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
II.
Der angefochtene Beschluss hält den Angriffen der Rechtsbeschwerde nicht stand.
1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §§ 574 Abs. 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, weil nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (vgl. BVerfGE 79, 372, 376 f.; BVerfG NJW-RR 2002, 1004).
2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
Das Berufungsgericht durfte die Berufung nicht mit der Begründung als unzulässig verwerfen, der Kläger habe nicht unter Beweis gestellt, dass die Berufungsschrift rechtzeitig bei Gericht eingegangen sei. Ausgehend vom Vorbringen des Klägers hat der Einwurf der Berufungsschrift in den Nachtbriefkasten am 2. Oktober 2006 die Berufungsfrist gewahrt (§ 517 ZPO). Mit diesem Vortrag setzt sich das Berufungsgericht nicht in der erforderlichen Weise auseinander.
a) Richtig ist zwar, dass der Eingangsstempel des Landgerichts gemäß § 418 Abs. 1 ZPO Beweis für den Zeitpunkt des Eingangs eines Schriftsatzes bei Gericht erbringt. Nach § 418 Abs. 2 ZPO ist jedoch ein Beweis der Unrichtigkeit der darin bezeugten Tatsachen - zur vollen Überzeugung des Gerichts - zulässig. Allein die kaum jemals völlig auszuschließende Möglichkeit, dass ein Nachtbriefkasten aus technischen Gründen nicht funktioniert oder bei der Abstempelung Fehler unterlaufen, reicht zur Führung dieses Beweises jedoch nicht aus. Andererseits dürfen wegen der Beweisnot der betroffenen Partei an den Gegenbeweis nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs keine überspannten Anforderungen gestellt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Oktober 1992 - XII ZB 100/92 - BGHR-ZPO § 519 Abs. 2 Satz 2 Fristablauf 1; Urteil vom 14. Oktober 2004 - VII ZR 33/04 - NJW-RR 2005, 75; Beschluss vom 15. September 2005 - III ZB 81/04 - VersR 2005, 1750, 1751; Urteil vom 2. November 2006 - III ZR 10/06 - NJW 2007, 603). Da der Außenstehende in der Regel keinen Einblick in die Funktionsweise des gerichtlichen Nachtbriefkastens sowie das Verfahren bei dessen Leerung und damit keinen Anhaltspunkt für etwaige Fehlerquellen hat, ist es zunächst Sache des Gerichts, die insoweit zur Aufklärung nötigen Maßnahmen zu ergreifen (vgl. BGH, Urteil vom 14. Oktober 2004 - VII ZR 33/04 - aaO). Dem entspricht es nur zum Teil, dass das Berufungsgericht eine formlose dienstliche Äußerung lediglich mittelbar eingeholt hat, nicht aber die für die Leerung des Nachtbriefkastens zuständigen Personen selbst näher zur Bearbeitung der Post vor und nach Feiertagen im Einzelnen befragt hat. Das wird es nachzuholen haben. Dabei wird zu beachten sein, dass - wie bei jeder Beweisaufnahme - den Parteien des Rechtsstreits Gelegenheit zur Kenntnisnahme und zur eigenen Würdigung zu geben ist (vgl. §§ 355 Abs. 1 Satz 1, 357 Abs. 1, 358 ZPO; Art. 103 Abs. 1 GG).
Die Rechtsbeschwerde weist darauf hin, dass der Kläger bei Möglichkeit einer Stellungnahme zu der Auskunft der Poststelle seinerseits zum Beweis für seine Darstellung die Vernehmung seines Prozessbevollmächtigten, Rechtsanwalt D., als Zeugen angeboten hätte.
b) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet im Übrigen das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die von den Fachgerichten zu treffende Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG i.V.m. den Grundsätzen der ZPO die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge (vgl. BVerfG NJW-RR 2001, 1006, 1007). Nach diesen Maßstäben hat das Berufungsgericht Art. 103 Abs.1 GG verletzt.
Der Kläger hatte im Schriftsatz vom 12. Oktober 2006 vorgetragen, dass die Berufungsschrift rechtzeitig durch Einwurf in den Briefkasten des Landgerichts bei dem Berufungsgericht eingegangen sei; in diesem Schriftsatz hatte der Prozessbevollmächtigte des Klägers zudem seine Bereitschaft erklärt, seinen Vortrag zur Fristwahrung an Eides Statt zu versichern. Ein solches Angebot, eine eidesstattliche Versicherung des Anwalts beizubringen, hätte das Berufungsgericht unbedenklich als Benennung des Rechtsanwalts als Zeugen werten können. Zumindest aber hätte es beim Kläger anfragen müssen, ob Rechtsanwalt D. als Zeuge benannt werde (vgl. Beschluss vom 7. Oktober 1992 - XII ZB 100/92 - aaO).
Nach § 139 Abs. 2 ZPO hat der Vorsitzende des Prozessgerichts nämlich die Parteien auf die Bedenken aufmerksam zu machen, die in Ansehung der von Amts wegen zu berücksichtigenden Punkte bestehen. Genügte dem Berufungsgericht die angekündigte Bereitschaft zur eidesstattlichen Versicherung des Rechtsanwalts D. nicht als Beweisangebot, hätte der Vorsitzende darauf hinwirken müssen, dass Zeugenbeweis angetreten wird (vgl. Senat, Urteil vom 10. Mai 1994 - VI ZR 306/93 - EzFamR ZPO § 418 Nr. 2; BGH, Beschluss vom 16. Februar 1984 - IX ZB 172/83 - VersR 1984, 442, 443). Der Prozessbevollmächtigte einer Partei kann auch bei Fortdauer seiner Funktion als Zeuge vernommen werden (vgl. Senat, Urteil vom 10. Mai 1994 - VI ZR 306/93 - Ez- FamR ZPO § 418 Nr. 2; Zöller/Greger, ZPO, 26. Aufl., § 373 Rn. 5).
Hätte das Berufungsgericht seiner Aufklärungspflicht aus § 139 ZPO genügt, hätte der Kläger nach dem Vortrag der Rechtsbeschwerde den näher bezeichneten Zeugen benannt.
3. Nach allem ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 574 Abs. 4 ZPO).
Müller Greiner Diederichsen
Pauge Zoll
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