Haftungsprivileg eines Kindes im Straßenverkehr
Gericht
BUNDESGERICHTSHOF
Art der Entscheidung
Urteil
Datum
17. 04. 2007
Aktenzeichen
VI ZR 109/06
Tenor:
Der VI. Zivilsenat des BGH hat auf die mündliche Verhandlung vom 17. 4. 2007 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller und die Richter Dr. Greiner, Wellner, Stöhr und Zoll
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Bekl. wird das Urteil der 1. Zivilkammer des LG Bayreuth vom 19. 4. 2006 aufgehoben, soweit zum Nachteil des Bekl. erkannt worden ist.
Die Berufung der Kl. gegen das Urteil des AG Bayreuth - Zweigstelle Pegnitz - wird insgesamt zurückgewiesen.
Die Kl. trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Tatbestand:
Die Kl. macht gegen den Bekl. Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall vom 16. 7. 2005 geltend. An dem Verkehrsunfall waren die Kl. mit ihrem PKW und der zum Unfallzeitpunkt achtjährige Bekl. mit seinem Fahrrad beteiligt.
Die Kl. hielt ihren PKW im Bereich einer Straßeneinmündung auf ihrer Fahrbahnhälfte vor der gedachten Sichtlinie an, um sich vor dem beabsichtigten Linksabbiegen zu vergewissern, ob sie bevorrechtigtem Verkehr eventuell Vorfahrt gewähren musste. Zur selben Zeit näherte sich der Bekl. mit seinem Fahrrad aus Sicht der Kl. von links kommend dem Einmündungsbereich, um nach rechts in die Straße einzubiegen, in der die Kl. mit ihrem PKW stand. Dem Bekl. war zunächst der Blick auf die Einmündung und den dort seit wenigen Sekunden haltenden PKW der Kl. durch eine am Fahrbahnrand stehende, ca. 2 m hohe Hecke versperrt, bei weiterer Annäherung aber war dieser zumindest aus einer Entfernung von ca. 20 m deutlich erkennbar. Er übersah ihn jedoch auf Grund überhöhter, nicht angepasster Geschwindigkeit und Unaufmerksamkeit und fuhr frontal auf den stehenden PKW der Kl. auf.
Mit ihrer Klage verlangt die Kl. Ersatz des an ihrem PKW entstandenen Schadens in Höhe von 1.415,57 € nebst einer Unkostenpauschale von 30 €. Das AG hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Kl. hat das BerGer. das erstinstanzliche Urteil teilweise abgeändert und der Klage zu einer Quote von 4/5 stattgegeben. Mit der vom BerGer. zugelassenen Revision begehrt der Bekl. die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe:
I.
Das BerGer. meint im Gegensatz zum erstinstanzlichen Urteil, dem Bekl. komme das Haftungsprivileg des § 828 II Satz 1 BGB n.F. nicht zugute. Zwar sei der Bekl. zum Unfallzeitpunkt erst acht Jahre alt gewesen und habe der Kl. den Schaden auch bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug entsprechend dem Wortlaut dieser gesetzlichen Regelung zugefügt. Nach der Rechtsprechung des BGH greife die Vorschrift nach ihrem Sinn und Zweck jedoch nur ein, wenn sich bei der gegebenen Fallkonstellation eine typische Überforderungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs realisiert habe. Dies sei hier nicht der Fall gewesen. Das ordnungsgemäß haltende Fahrzeug der Kl. habe allenfalls ein stehendes Objekt dargestellt, von dem keine Gefahr ausgegangen sei, die auf die Geschwindigkeit des Fahrzeuges zurückgeführt werden könne. Eine hier gegebene Überforderungssituation des Bekl. sei auf dessen eigene, gegebenenfalls überhöhte Geschwindigkeit, jedenfalls aber auf dessen vollkommene Sorglosigkeit bei der Teilnahme im Straßenverkehr zurückzuführen. Von einer solchen voll umfänglichen Sorglosigkeit sei der Gesetzgeber bei der Haftungsprivilegierung nach § 828 II Satz 1 nicht ausgegangen. Diese Schwierigkeiten, sich im Straßenverkehr verkehrsgerecht zu verhalten, die ausschließlich in der Person des Kindes, nicht jedoch in den Gefahren des motorisierten Verkehrs ihre Grundlage hätten, rechtfertigten keine Haftungsfreistellung. Die Kl. habe sich mithin lediglich eine Mithaftung wegen der von ihrem Fahrzeug ausgehenden Betriebsgefahr in Höhe von 20% anrechnen zu lassen.II.
Die Beurteilung des BerGer. hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand. Entgegen der Auffassung des BerGer. ist die Verantwortlichkeit des Bekl. nach § 828 II Satz 1 BGB unter den Umständen des Streitfalles ausgeschlossen.
1. Da das schädigende Ereignis nach dem 31. 7. 2002 eingetreten ist, richtet sich die Verantwortlichkeit des minderjährigen Schädigers gem. Art. 229 § 8 I EGBGB nach § 828 BGB in der Fassung des 2. Gesetzes zur Änderung schadensrechtlicher Vorschriften vom 19. 7. 2002 (BGBl I S. 2674). Danach ist für den Schaden, den er bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wer das 7., aber nicht das 10. Lebensjahr vollendet hat.
Das BerGer. ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass § 828 II Satz 1 BGB nach seinem Wortlaut im vorliegenden Fall ohne weiteres eingreift. Soweit es gleichwohl seine Anwendbarkeit unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des erkennenden Senats verneint, kann dem nicht gefolgt werden.
2. Der erkennende Senat hat zwar eine teleologische Reduktion des Wortlauts dieser Vorschrift in Fällen vorgenommen, in denen Kinder der privilegierten Altersgruppe mit einem Kickboard oder Fahrrad gegen ein ordnungsgemäß geparktes Kraftfahrzeug gestoßen sind und dieses beschädigt haben. Er hat hierzu ausgeführt, die Vorschrift greife nach ihrem Sinn und Zweck nur ein, wenn sich bei der gegebenen Fallkonstellation eine typische Überforderungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs realisiert habe (vgl. Senatsurteile BGHZ 161, 180 und vom 21. 12. 2004 - VI ZR 276/03 - VersR 2005, 378 m.w. Nachw.).
Der Gesetzgeber hat nämlich mit der Einführung der Ausnahmevorschrift des § 828 II BGB dem Umstand Rechnung getragen, dass Kinder bis zur Vollendung ihres zehnten Lebensjahres regelmäßig überfordert sind, die besonderen Gefahren des motorisierten Straßenverkehrs zu erkennen, insbesondere die Entfernungen und Geschwindigkeiten von anderen Verkehrsteilnehmern richtig einzuschätzen und sich den Gefahren entsprechend zu verhalten. Dabei hat er sich von der Erkenntnis leiten lassen, dass Kinder in diesem Alter wegen ihres Lauf- und Erprobungsdrangs, ihrer Impulsivität, Affektreaktionen, mangelnden Konzentrationsfähigkeit und ihrem gruppendynamischen Verhalten oft zu einem verkehrsgerechten Verhalten nicht in der Lage sind (vgl. BT-Drucks. 14/7752, S. 16 f. und 26 f.). Allerdings wollte er die Deliktsfähigkeit nicht generell und nicht bei sämtlichen Verkehrsunfällen erst mit Vollendung des zehnten Lebensjahres beginnen lassen. Er wollte die Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit vielmehr auf im motorisierten Straßen- oder Bahnverkehr plötzlich eintretende Schadensereignisse begrenzen, bei denen die altersbedingten Defizite eines Kindes, wie z.B. Entfernungen und Geschwindigkeiten nicht richtig einschätzen zu können, zum Tragen kommen, weil sich das Kind durch die Schnelligkeit, die Komplexität und die Unübersichtlichkeit der Abläufe im motorisierten Verkehr in einer besonderen Überforderungssituation befindet (vgl. BT-Drucks. 14/7752, S. 26 f.).
3. Entgegen der Auffassung des BerGer. kann eine solche typische Überforderungssituation, die nach dem Willen des Gesetzgebers zu einem Haftungsausschluss führt, unter den Umständen des Streitfalles nicht verneint werden. Eine typische Gefahr des motorisierten Verkehrs kann auch von einem Kraftfahrzeug ausgehen, das im fließenden Verkehr anhält (d.h. seine Geschwindigkeit auf Null reduziert) und auf der Fahrbahn für das Kind ein plötzliches Hindernis bildet, mit dem es möglicherweise nicht gerechnet hat. Auch in einer solchen Fallkonstellation können altersbedingte Defizite eines Kindes im motorisierten Straßenverkehr, von denen die Fähigkeit zur richtigen Einschätzung von Entfernungen und Geschwindigkeiten nur beispielhaft genannt sind, zum Tragen kommen. Insoweit ist der Streitfall nicht - wie das BerGer. meint - mit den Fällen einer Kollision mit einem ordnungsgemäß parkenden Kraftfahrzeug vergleichbar, an dessen Stelle ebenso gut ein anderer Gegenstand stehen könnte, mit dem aber im fließenden Verkehr so nicht zu rechnen ist.
Die Kl. nahm im Streitfall, obwohl sie anhielt, mit ihrem PKW zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes am fließenden Straßenverkehr teil. Der einheitliche Vorgang der Fahrt wird nicht dadurch beendet, dass das Fahrzeug durch verkehrsbedingte Umstände vorübergehend angehalten wird (vgl. Senatsurteil vom 12. 12. 2000 - VI ZR 411/99 - VersR 2001, 524). Die Kl. hatte nach den insgesamt unangegriffenen Feststellungen des BerGer. im Einmündungsbereich einer Straße, in welche der Bekl. einbiegen wollte, lediglich kurz auf ihrer Fahrbahnseite angehalten, um ihrerseits nach links abzubiegen. Sie war für den Bekl. wegen der sich am Fahrbahnrand befindlichen ca. 2 m hohen Hecke während ihrer Annäherung an die Straßeneinmündung nicht erkennbar gewesen. Dem Bekl. war durch die Hecke zunächst auch der Blick auf die Einmündung und den bereits dort seit wenigen Sekunden haltenden PKW der Kl. versperrt. Stößt ein achtjähriges Kind in einer solchen Situation mit seinem Fahrrad auf Grund überhöhter, nicht angepasster Geschwindigkeit und Unaufmerksamkeit im fließenden Verkehr gegen ein verkehrsbedingt haltendes Kraftfahrzeug, das es nicht herankommen sehen konnte und mit dem es deshalb möglicherweise nicht rechnete, so handelt es sich damit um eine typische Fallkonstellation der Überforderung des Kindes durch die Schnelligkeit, die Komplexität und die Unübersichtlichkeit der Abläufe im motorisierten Straßenverkehr. Darauf, ob sich diese Überforderungssituation konkret ausgewirkt hat oder ob das Kind aus anderen Gründen nicht in der La-ge war, sich verkehrsgerecht zu verhalten, kommt es nicht an. Um eine klare Grenzlinie für die Haftung von Kindern zu ziehen, hat der Gesetzgeber diese Fallgestaltungen einheitlich in der Weise geregelt, dass er die Altersgrenze der Deliktsfähigkeit von Kindern für den Bereich des motorisierten Verkehrs generell heraufgesetzt hat (vgl. Senatsurteil vom 14. 6. 2005 - VI ZR 181/04 -VersR 2005, 1154, 1155).
III.
Da keine weiteren Feststellungen mehr erforderlich sind, kann der Senat selbst entscheiden (§ 563 III ZPO). Dies führt zur Wiederherstellung des die Klage insgesamt abweisenden erstinstanzlichen Urteils.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 ZPO.
Müller Greiner Wellner
Stöhr Zoll
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