Radfahrunfall eines achtjährigen Kindes

Gericht

BGH


Art der Entscheidung

Urteil


Datum

17. 04. 2007


Aktenzeichen

VI ZR 109/06


Leitsatz des Gerichts

  1. Stößt ein achtjähriges Kind mit seinem Fahrrad aufgrund überhöhter, nicht ange-passter Geschwindigkeit und Unaufmerksamkeit im fließenden Verkehr gegen ein verkehrsbedingt haltendes Kraftfahrzeug, das es nicht herankommen sehen konn-te und mit dem es deshalb möglicherweise nicht rechnete, so handelt es sich um eine typische Fallkonstellation der Überforderung des Kindes durch die Schnelligkeit, die Komplexität und die Unübersichtlichkeit der Abläufe im motorisierten Straßenverkehr.

  2. Darauf, ob sich diese Überforderungssituation konkret ausgewirkt hat oder ob das Kind aus anderen Gründen nicht in der Lage war, sich verkehrsgerecht zu verhal-ten, kommt es im Hinblick auf die generelle Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit von Kindern durch § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensrechtlicher Vorschriften vom 19. Juli 2002 (BGBl I S. 2674) nicht an.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Bayreuth vom 19. April 2006 aufgehoben, soweit zum Nachteil des Beklagten erkannt worden ist.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Amtsgerichts Bay-reuth - Zweigstelle Pegnitz - wird insgesamt zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Von Rechts wegen

Tatbestand


Tatbestand:

Die Klägerin macht gegen den Beklagten Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall vom 16. Juli 2005 geltend. An dem Verkehrsunfall waren die Klägerin mit ihrem PKW und der zum Unfallzeitpunkt achtjährige Beklagte mit seinem Fahrrad beteiligt. Die Klägerin hielt ihren PKW im Bereich einer Straßeneinmündung auf ihrer Fahrbahnhälfte vor der gedachten Sichtlinie an, um sich vor dem beab-sichtigten Linksabbiegen zu vergewissern, ob sie bevorrechtigtem Verkehr eventuell Vorfahrt gewähren musste. Zur selben Zeit näherte sich der Beklagte mit seinem Fahrrad aus Sicht der Klägerin von links kommend dem Einmün-dungsbereich, um nach rechts in die Straße einzubiegen, in der die Klägerin mit ihrem PKW stand. Dem Beklagten war zunächst der Blick auf die Einmündung und den dort seit wenigen Sekunden haltenden PKW der Klägerin durch eine am Fahrbahnrand stehende, ca. 2 m hohe Hecke versperrt, bei weiterer Annä-herung aber war dieser zumindest aus einer Entfernung von ca. 20 m deutlich erkennbar. Er übersah ihn jedoch aufgrund überhöhter, nicht angepasster Ge-schwindigkeit und Unaufmerksamkeit und fuhr frontal auf den stehenden PKW der Klägerin auf.

Mit ihrer Klage verlangt die Klägerin Ersatz des an ihrem PKW entstan-denen Schadens in Höhe von 1.415,57 € nebst einer Unkostenpauschale von 30 €. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil teilweise abgeändert und der Klage zu einer Quote von 4/5 stattgegeben. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt der Beklagte die Wiederherstellung des erstin-stanzlichen Urteils.

Entscheidungsgründe


Entscheidungsgründe:

I.

Das Berufungsgericht meint im Gegensatz zum erstinstanzlichen Urteil, dem Beklagten komme das Haftungsprivileg des § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB n.F. nicht zugute. Zwar sei der Beklagte zum Unfallzeitpunkt erst acht Jahre alt ge-wesen und habe der Klägerin den Schaden auch bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug entsprechend dem Wortlaut dieser gesetzlichen Regelung zuge-fügt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs greife die Vorschrift nach ihrem Sinn und Zweck jedoch nur ein, wenn sich bei der gegebenen Fall-konstellation eine typische Überforderungssituation des Kindes durch die spezi-fischen Gefahren des motorisierten Verkehrs realisiert habe. Dies sei hier nicht der Fall gewesen. Das ordnungsgemäß haltende Fahrzeug der Klägerin habe allenfalls ein stehendes Objekt dargestellt, von dem keine Gefahr ausgegangen sei, die auf die Geschwindigkeit des Fahrzeuges zurückgeführt werden könne. Eine hier gegebene Überforderungssituation des Beklagten sei auf dessen eigene, gegebenenfalls überhöhte Geschwindigkeit, jedenfalls aber auf dessen vollkommene Sorglosigkeit bei der Teilnahme im Straßenverkehr zurückzufüh-ren. Von einer solchen voll umfänglichen Sorglosigkeit sei der Gesetzgeber bei der Haftungsprivilegierung nach § 828 Abs. 2 Satz 1 nicht ausgegangen. Diese Schwierigkeiten, sich im Straßenverkehr verkehrsgerecht zu verhalten, die aus-schließlich in der Person des Kindes, nicht jedoch in den Gefahren des motori-sierten Verkehrs ihre Grundlage hätten, rechtfertigten keine Haftungsfreistel-lung. Die Klägerin habe sich mithin lediglich eine Mithaftung wegen der von ihrem Fahrzeug ausgehenden Betriebsgefahr in Höhe von 20% anrechnen zu lassen.

II.

Die Beurteilung des Berufungsgerichts hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist die Ver-antwortlichkeit des Beklagten nach § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB unter den Um-ständen des Streitfalles ausgeschlossen.

1. Da das schädigende Ereignis nach dem 31. Juli 2002 eingetreten ist, richtet sich die Verantwortlichkeit des minderjährigen Schädigers gemäß Art. 229 § 8 Abs. 1 EGBGB nach § 828 BGB in der Fassung des 2. Gesetzes zur Änderung schadensrechtlicher Vorschriften vom 19. Juli 2002 (BGBl I S. 2674). Danach ist für den Schaden, den er bei einem Unfall mit einem Kraft-fahrzeug einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wer das 7., aber nicht das 10. Lebensjahr vollendet hat.

Das Berufungsgericht ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB nach seinem Wortlaut im vorliegenden Fall ohne wei-teres eingreift. Soweit es gleichwohl seine Anwendbarkeit unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des erkennenden Senats verneint, kann dem nicht gefolgt werden.

2. Der erkennende Senat hat zwar eine teleologische Reduktion des Wortlauts dieser Vorschrift in Fällen vorgenommen, in denen Kinder der privile-gierten Altersgruppe mit einem Kickboard oder Fahrrad gegen ein ordnungs-gemäß geparktes Kraftfahrzeug gestoßen sind und dieses beschädigt haben. Er hat hierzu ausgeführt, die Vorschrift greife nach ihrem Sinn und Zweck nur ein, wenn sich bei der gegebenen Fallkonstellation eine typische Überforde-rungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs realisiert habe (vgl. Senatsurteile BGHZ 161, 180 und vom 21. De-zember 2004 - VI ZR 276/03 - VersR 2005, 378 m.w.N.).

Der Gesetzgeber hat nämlich mit der Einführung der Ausnahmevorschrift des § 828 Abs. 2 BGB dem Umstand Rechnung getragen, dass Kinder bis zur Vollendung ihres zehnten Lebensjahres regelmäßig überfordert sind, die be-sonderen Gefahren des motorisierten Straßenverkehrs zu erkennen, insbeson-dere die Entfernungen und Geschwindigkeiten von anderen Verkehrsteilneh-mern richtig einzuschätzen und sich den Gefahren entsprechend zu verhalten. Dabei hat er sich von der Erkenntnis leiten lassen, dass Kinder in diesem Alter wegen ihres Lauf- und Erprobungsdrangs, ihrer Impulsivität, Affektreaktionen, mangelnden Konzentrationsfähigkeit und ihrem gruppendynamischen Verhalten oft zu einem verkehrsgerechten Verhalten nicht in der Lage sind (vgl. BT-Drucks. 14/7752, S. 16 f. und 26 f.). Allerdings wollte er die Deliktsfähigkeit nicht generell und nicht bei sämtlichen Verkehrsunfällen erst mit Vollendung des zehnten Lebensjahres beginnen lassen. Er wollte die Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit vielmehr auf im motorisierten Straßen- oder Bahnverkehr plötz-lich eintretende Schadensereignisse begrenzen, bei denen die altersbedingten Defizite eines Kindes, wie z.B. Entfernungen und Geschwindigkeiten nicht rich-tig einschätzen zu können, zum Tragen kommen, weil sich das Kind durch die Schnelligkeit, die Komplexität und die Unübersichtlichkeit der Abläufe im moto-risierten Verkehr in einer besonderen Überforderungssituation befindet (vgl. BT-Drucks. 14/7752, S. 26 f.).

3. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kann eine solche ty-pische Überforderungssituation, die nach dem Willen des Gesetzgebers zu ei-nem Haftungsausschluss führt, unter den Umständen des Streitfalles nicht ver-neint werden. Eine typische Gefahr des motorisierten Verkehrs kann auch von einem Kraftfahrzeug ausgehen, das im fließenden Verkehr anhält (d.h. seine Geschwindigkeit auf Null reduziert) und auf der Fahrbahn für das Kind ein plötz-liches Hindernis bildet, mit dem es möglicherweise nicht gerechnet hat. Auch in einer solchen Fallkonstellation können altersbedingte Defizite eines Kindes im motorisierten Straßenverkehr, von denen die Fähigkeit zur richtigen Einschät-zung von Entfernungen und Geschwindigkeiten nur beispielhaft genannt sind, zum Tragen kommen. Insoweit ist der Streitfall nicht - wie das Berufungsgericht meint - mit den Fällen einer Kollision mit einem ordnungsgemäß parkenden Kraftfahrzeug vergleichbar, an dessen Stelle ebenso gut ein anderer Gegenstand stehen könnte, mit dem aber im fließenden Verkehr so nicht zu rechnen ist.

Die Klägerin nahm im Streitfall, obwohl sie anhielt, mit ihrem PKW zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes am fließenden Straßenverkehr teil. Der einheit-liche Vorgang der Fahrt wird nicht dadurch beendet, dass das Fahrzeug durch verkehrsbedingte Umstände vorübergehend angehalten wird (vgl. Senatsurteil vom 12. Dezember 2000 - VI ZR 411/99 - VersR 2001, 524). Die Klägerin hatte nach den insgesamt unangegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts im Einmündungsbereich einer Straße, in welche der Beklagte einbiegen wollte, lediglich kurz auf ihrer Fahrbahnseite angehalten, um ihrerseits nach links ab-zubiegen. Sie war für den Beklagten wegen der sich am Fahrbahnrand befindli-chen ca. 2 m hohen Hecke während ihrer Annäherung an die Straßeneinmün-dung nicht erkennbar gewesen. Dem Beklagten war durch die Hecke zunächst auch der Blick auf die Einmündung und den bereits dort seit wenigen Sekunden haltenden PKW der Klägerin versperrt. Stößt ein achtjähriges Kind in einer sol-chen Situation mit seinem Fahrrad aufgrund überhöhter, nicht angepasster Ge-schwindigkeit und Unaufmerksamkeit im fließenden Verkehr gegen ein ver-kehrsbedingt haltendes Kraftfahrzeug, das es nicht herankommen sehen konn-te und mit dem es deshalb möglicherweise nicht rechnete, so handelt es sich damit um eine typische Fallkonstellation der Überforderung des Kindes durch die Schnelligkeit, die Komplexität und die Unübersichtlichkeit der Abläufe im motorisierten Straßenverkehr. Darauf, ob sich diese Überforderungssituation konkret ausgewirkt hat oder ob das Kind aus anderen Gründen nicht in der Lage war, sich verkehrsgerecht zu verhalten, kommt es nicht an. Um eine klare Grenzlinie für die Haftung von Kindern zu ziehen, hat der Gesetzgeber diese Fallgestaltungen einheitlich in der Weise geregelt, dass er die Altersgrenze der Deliktsfähigkeit von Kindern für den Bereich des motorisierten Verkehrs gene-rell heraufgesetzt hat (vgl. Senatsurteil vom 14. Juni 2005 - VI ZR 181/04 - VersR 2005, 1154, 1155).

III.

Da keine weiteren Feststellungen mehr erforderlich sind, kann der Senat selbst entscheiden (§ 563 Abs. 3 ZPO). Dies führt zur Wiederherstellung des die Klage insgesamt abweisenden erstinstanzlichen Urteils.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 ZPO.

Müller
Greiner
Wellner
Stöhr
Zoll

Vorinstanzen

AG Bayreuth, Entscheidung vom 16.11.2005 - 7 C 306/05; LG Bayreuth, Entscheidung vom 19.04.2006 - 12 S 122/05 -

Rechtsgebiete

Haftungsrecht; Straßenverkehrs- und Straßenrecht

Normen

BGB § 828 Abs. 2 Satz 1 n.F.