Kein Abwehranspruch des Nachbarn bei nur „moralischen“ Immissionen

Gericht

BGH


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

12. 07. 1985


Aktenzeichen

V ZR 172/84


Leitsatz des Gerichts

Eine das sittliche Empfinden von Nachbarn verletzende Nutzung eines Grundstücks durch einen Mieter, die nach außen nicht wahrnehmbar ist, begründet keinen Beseitigungs- oder Unterlassungsanspruch nach §§ 1004, 906 BGB gegen den Vermieter.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Kl. ist Eigentümer eines mit einem Einfamilienreihenhaus bebauten Grundstücks. Das Nachbargrundstück hat die Bekl. an die Eheleute T vermietet. Nach der Behauptung des Kl. betreibt Frau T in dem Haus mit Billigung oder Duldung der Bekl. ein Bordell. Der Kl. sieht dadurch seine minderjährige Tochter und die minderjährigen Kinder weiterer Nachbarn sittlich gefährdet und den Wert seines Hausgrundstücks gemindert. Außerdem gehe von den Besuchern des Bordells eine erhebliche Lärmbelästigung aus. Der Kl. verlangt von der Bekl., dafür Sorge zu tragen, daß in ihrem Haus nicht mehr der gewerblichen Unzucht nachgegangen werde.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Kl. ist ohne Erfolg geblieben. Auch seine Revision hatte keinen Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

I. Das BerGer. hat die Revision zugelassen, soweit die Klage auf immaterielle Beeinträchtigung gestützt ist. Diese Beschränkung ist unzulässig.

Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH kann die Zulassung der Revision auf einen Teil des Streitstoffs beschränkt werden, wenn es dem BerGer. prozessual möglich wäre, diesen Teil in einem gesonderten Verfahrensabschnitt durch Teil- oder Grundurteil zu entscheiden (s. nur BGHZ 76, 397 (398) = NJW 1980, 1579 = LM § 546 ZPO Nr. 105a; BGH, NJW 1982, 440 = LM § 906 BGB Nr. 66 = WM 1981, 1357; BGHZ 88, 86 = NJW 1984, 615). Nach der auch vom Senat für richtig gehaltenen Auffassung des BerGer. möchte der Kl. mit seinem Begehren erreichen, daß in dem Nachbarhaus kein Bordell unterhalten wird; ihm geht es also nicht lediglich darum, daß einzelne, von der Nutzung des Nachbarhauses ausgehende störende „Nebenwirkungen“ unterbunden werden. Die Frage, welche mit dem Betrieb eines Bordells verbundene Belästigungen oder Störungen im Rahmen des § 1004 BGB Berücksichtigung finden können, betrifft nur einzelne Elemente des prozessualen Anspruchs, über die nicht durch Teil- oder Grundurteil entschieden werden könnte. Das Berufungsurteil ist daher im ganzen überprüfbar.

II. Das BerGer. hält die Klage unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt für begründet. Hiergegen wendet sich die Revision ohne Erfolg.

1. Das BerGer. geht zutreffend davon aus, daß die Bekl. im Rahmen des § 1004 I BGB für Störungshandlungen ihrer Mieterin verantwortlich gemacht werden kann; es ist nämlich nicht dargetan, daß es der Bekl. unmöglich wäre, ihre Mieterin von einem fremdes Eigentum beeinträchtigenden Gebrauch der Mietsache abzuhalten (Senat, NJW 1967, 246; NJW 1967, 1609 = LM § 1028 BGB Nr. 1; WM 1984, 820 (821)).

2. Das BerGer. verneint gleichwohl einen Abwehranspruch des Kl. aus § 1004 BGB und beruft sich hierbei vor allem auf die Rechtsprechung des RG, wonach von einem Grundstück ausgehende Störungen sittlicher Art keine das Eigentum an den Nachbargrundstücken beeinträchtigende Einwirkungen i. S. der §§ 1004, 906 BGB seien.

Dem angefochtenen Urteil ist darin zuzustimmen, daß der Kl. wegen der „bordellartigen Vorgänge“ im Nachbarhaus nicht schon deshalb die Eigentumsfreiheitsklage mit Erfolg erheben kann, weil das sittliche Empfinden der Nachbarschaft verletzt wird. § 1004 I BGB setzt eine Beeinträchtigung des Eigentums voraus. Bei der Anwendung dieser Vorschrift auf das Verhältnis zwischen Grundstücksnachbarn hat sich bereits das RG an dem Einwirkungsbegriff des § 906 BGB orientiert und ausgesprochen, daß der sich gestört fühlende Grundstückseigentümer nur solche vom Nachbargrundstück ausgehenden Einwirkungen verbieten könne, die entweder auf das Grundstück und die dort befindlichen Sachen schädigend einwirkten oder auf dem Grundstück sich aufhaltende Personen derart belästigten, daß ihr gesundheitliches Wohlbefinden gestört oder ein körperliches Unbehagen bei ihnen hervorgerufen werde; hingegen sollen die §§ 1004 I, 906 BGB nicht eingreifen, wenn auf dem Nachbargrundstück nur das Schamgefühl oder das ästhetische Empfinden verletzende Vorgänge sichtbar werden (grundlegend RGZ 76, 130 (131, 132)). In Fortführung dieser Rechtsprechung hat der Senat entschieden, daß jedenfalls das Darbieten eines nur das ästhetische Empfinden des Nachbarn verletzenden Anblicks nicht nach § 1004 I BGB unterbunden werden kann (BGHZ 51, 396 (398, 399) = NJW 1969, 1208 = LM § 906 BGB Nr. 32a). Hieran hat er auch in der Folgezeit totz kritischer Stimmen in der Literatur festgehalten (BGHZ 54, 56 (60) = NJW 1970, 1541 = LM § 906 BGB Nr. 39a; BGH, NJW 1975, 170; in der letztgenannten Entscheidung hat der Senat offengelassen, ob dies ausnahmslos auch in besonders krassen Fällen zu gelten habe).

Der vorliegende Fall gibt keine Veranlassung, von den in den angeführten Entscheidungen dargelegten Grundsätzen abzuweichen. Voraussetzungen dafür, daß überhaupt von einer ideellen - sittlichen oder auch nur ästhetischen - Immission gesprochen werden kann, ist, daß der zu beanstandende Zustand oder Vorgang vom Nachbargrundstück aus sinnlich wahrgenommen werden kann. Dieser Gesichtspunkt wird gerade in den älteren Entscheidungen der Oberlandesgerichte herausgestellt, in denen im Hinblick auf „moralische“ Immissionen ein von der späteren Reichsgerichtsrechtsprechung abweichender Standpunkt vertreten wird (OLG Colmar, OLGE 5, 386 (387); OLG Celle, SeuffA 60, 18 (19)). Daher hat auch bei Vorgängen, die das Schamgefühl verletzen, ein Abwehranspruch des Nachbarn nach § 1004 I BGB jedenfalls dann auszuscheiden, wenn dessen seelisches Empfinden nicht durch die Wahrnehmung dieser Vorgänge beeinträchtigt wird, sondern lediglich dadurch, daß er hiervon Kenntnis erlangt (vgl. Erman-Hagen, BGB, 7. Aufl., § 906 Rdnr. 3 a. E.). Dies gilt selbst dann, wenn durch das Bekanntwerden dieser der sinnlichen Wahrnehmung entzogenen Ereignisse auf dem Nachbargrundstück das Grundstück des sich gestört fühlenden Eigentümers in der allgemeinen Wertschätzung leiden sollte (a. A. wohl Westermann, SachenR, 5. Aufl., § 36 I 1a). Der beanstandete, sinnlich nicht wahrnehmbare Vorgang oder Zustand auf dem Grundstück des Nachbarn wird nicht allein dadurch zu einer Einwirkung i. S. des § 906 BGB und einer Beeinträchtigung i. S. des § 1004 BGB, daß er einen Wertverlust der Sache zur Folge hat (vgl. auch BGHZ 54, 56 (61) = NJW 1970, 1541 = LM § 906 BGB Nr. 39 a).

Das BerGer. hat nicht festgestellt, daß die Räume, in denen die Mieterin T ein Bordell betreiben soll, vom Grundstück des Kl. aus eingesehen oder die Vorgänge im Haus auf sonstige Weise von außen wahrgenommen werden können. Des weiteren fehlen Feststellungen darüber, daß die „Kunden“ der Frau T oder diese selbst außerhalb der Wohnung ein anstößiges oder schamverletzendes Verhalten an den Tag legen. Die Revision zeigt diesbezüglich auch keinen übergangenen Sachvortrag auf.

3. Dem BerGer. ist weiter darin zuzustimmen, daß die Unterhaltung eines Bordells in dem Hause der Bekl., auch wenn sie mit Wissen der Bekl. erfolgt, keinen Abwehranspruch aus unerlaubter Handlung auszulösen vermag.

a) Ein Anspruch wegen einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Kl., das nach der ständigen Rechtsprechung des BGH ein „sonstiges Recht" i. S. des § 823 I BGB ist (s. nur BGHZ 13, 334 (338) = NJW 1954, 1404 = LM § 823 (Ai) BGB Nr. 6; BGHZ 30, 7 (11) = NJW 1959, 1269 = LM § 823 (Ah) BGB Nr. 3), kommt nicht in Betracht, weil sich die die allgemeine Sittenordnung mißachtende Prostitutionsausübung im Nachbarhaus nicht unmittelbar gegen den Kl. richtet (vgl. BGHZ 64, 178 (182) = NJW 1975, 1161 = LM § 227 BGB Nr. 4).

b) § 823 II BGB scheidet als Anspruchsgrundlage ebenfalls aus. Außerhalb des Geltungsbereiches einer aufgrund des Art. 297 EGStGB ergangenen Sperrbezirksverordnung ist die Prostitution, auch wenn sie in Wohngebieten stattfindet, nicht ohne weiteres strafbar oder ordnungswidrig (vgl. §§ 184a, 184b StGB, § 120 OWiG); sie stellt nach heutigem Rechtsverständnis auch nicht mehr ohne weiteres einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung im Sinne der polizeilichen Generalklausel (hier: §§ 1, 2 NdsSOG) dar (Wettling, GewArch 1982, 259 m. Nachw. aus Lit. und Rspr.). Aus den Feststellungen des BerGer. ergibt sich nicht, daß die Mieterin T einer betehenden Sperrbezirksverordnung zuwider gehandelt hat. Es kann daher unentschieden bleiben, ob die Über- oder Belassung von Räumlichkeiten zur Prostitutionsausübung in einem Sperrbezirk gesetzwidrig ist (vgl. hierzu BayObLG, NJW 1981, 2766), und ob eine Sperrbezirksverordnung i. S. des Art. 297 EGStGB ein Schutzgesetz i. S. des § 823 II BGB ist. Des weiteren kann den Feststellungen des BerGer. auch nicht die Erfüllung der Voraussetzungen des § 184b StGB entnommen werden.

c) Soweit das BerGer. einen Anspruch aus § 826 BGB verneint hat, ist dem im Ergebnis zuzustimmen. Der Abschluß des Mietvertrages mit den Eheleuten T war nicht sittenwidrig (vgl. BGH, NJW 1970, 1179). Den Feststellungen des BerGer. ist schon nicht zu entnehmen, daß die Bekl. die beabsichtigte Nutzung des Hauses durch die Mieter bei Vertragsschluß gekannt hat. Ob in der Fortsetzung des Mietverhältnisses nach Kenntnisnahme von dem zu beanstandenden Verhalten der Mieterin T, welches zu einer Wertminderung des Grundstücks des Kl. geführt haben soll, ein Sittenverstoß i. S. des § 826 BGB liegt, kann nicht allgemein beantwortet werden. Die Verfolgung eigener wirtschaftlicher Interessen führt nicht allein deswegen zum Sittenverstoß, weil dadurch ein anderer geschädigt wird (vgl. Staudinger-Schäfer, BGB, 12. Aufl., § 826 Rdnr. 59). Läßt jedoch die Wahrnehmung eigener Interessen jede billige Rücksichtnahme auf die berechtigten Interessen anderer Personen außer acht, so kann ein Sittenverstoß vorliegen (vgl. BGHZ 20, 43 (50) = NJW 1956, 706 = LM § 138 (Bb) BGB Nr. 7; BGHZ 27, 172 (180) = NJW 1958, 989 = LM § 138 (Ca) BGB Nr. 2; Staudinger-Schäfer, § 826 Rdnr. 63). Ein derart anstößiges Verhalten der Bekl. kann aber jedenfalls angesichts ihres - unstreitigen - Angebots, den Versuch einer Auflösung des Mietverhältnisses bei Übernahme des Kostenrisikos durch den Kl. zu unternehmen, nicht bejaht werden.

4. Das BerGer. hat im Ergebnis zutreffend auch einen Anspruch des Kl. aus §§ 906, 1004 BGB wegen des vom Nachbargrundstück ausgehenden Lärms verneint. Soweit dem Berufungsurteil entnommen werden könnte, es sei Sache des Kl., darzulegen und zu beweisen, sein Grundstück werde wesentlich beeinträchtigt, wäre dies fehlerhaft. Daß ein Grundstück durch Lärm nur unwesentlich beeinträchtigt wird, muß der Störer vortragen und beweisen (vgl. Senat, LM § 906 BGB Nr. 36; WM 1971, 278 (280)). Dem vom Lärm betroffenen Grundstückseigentümer obliegt es nur, eine Lärmbeeinträchtigung darzulegen. Gleichwohl kann das Berufungsurteil aufrechterhalten bleiben, denn das BerGer. hat zutreffend eine substantiierte Darlegung der angeblichen Lärmbelästigungen durch den Kl. verneint. Bei dieser Situation kann es offen bleiben, ob der Klageantrag die Abwehr von Lärmbelästigungen umfaßt.

Rechtsgebiete

Nachbarrecht; Garten- und Nachbarrecht

Normen

BGB §§ 1004, 906