Duldung des Überbaus wegen verspätetem Widerspruch

Gericht

OLG Köln


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

15. 11. 2002


Aktenzeichen

19 U 75/02


Leitsatz des Gerichts

§ 912 BGB ist auf den Fall der Verletzung des Grenzabstands analog anwendbar.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Parteien sind Nachbarn. Im Jahre 1998 erstellten die Bekl. einen Anbau an ihrem Wohnhaus. Die Einmessung des Baukörpers erfolgte durch ein Ingenieurbüro. Der Bau wurde durch die Firma P errichtet. Die Firma W erstellte die Schalung. Der Anbau wurde am 15. 5. 1998 fertiggestellt. Im Oktober 1998 stellte der Kl. im Rahmen von ihm an der Grundstücksgrenze vorgenommenen eigenen Messungen fest, dass der zu seiner Grundstücksgrenze hin errichtete Teil des Anbaus nicht den nach § 6 NWBauO vorgeschriebenen Abstand von 3 m einhielt. Die anschließend durchgeführte Überprüfung des Grenzabstands durch öffentlich bestellte Vermessungsingenieure ergab eine Unterschreitung des vorgeschriebenen Abstands um 11 cm. Diese Unterschreitung beruht unstreitig darauf, dass der Rohbau genau den Grenzabstand von 3 m einhält und die auf die Außenwand aufgebrachte Wärmedämmung einschließlich Anstrich und Putz die Unterschreitung verursacht hat.

Der Kl. hat mit der Klage von den Bekl. u.a. die Beseitigung des Überbaus begehrt. Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Kl. hatte keinen Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

III. 1. Dem Kl. steht gegenüber den Bekl. kein Anspruch auf Beseitigung der Unterschreitung des Grenzabstands zu.

a) Ebenso wie das LG und in Übereinstimmung mit der insoweit ergangenen Rechtsprechung sowie der überwiegenden Ansicht in der Literatur hält auch der Senat die analoge Anwendung des § 912 BGB auf den Fall der Verletzung des Grenzabstands für geboten (s. OLG Koblenz, NJW-RR 1999, 1934; DRsprRom Nr. 1997/4259; OLG Karlsruhe, NJW-RR 1993, 665; Säcker, in: MünchKomm, 4. Aufl., § 912 Rdnr. 54; Palandt/Bassenge, BGB, 60. Aufl., § 912 Rdnr. 1 jeweils m.w. Nachw.). Wenn der Eigentümer des Nachbargrundstücks unter bestimmten Voraussetzungen dessen Überbauung mit einem Gebäude dulden muss, so kann er keine weitergehenden Rechte haben, wenn unter den Voraussetzungen des § 912 BGB gar nicht in sein Grundstück eingegriffen, sondern lediglich gegen eine den Bauabstand von der Grundstücksgrenze regelnde Vorschrift verstoßen wurde.

b) Zwar liegt hier unstreitig eine Verletzung der Grenzabstandsvorschrift des § 6 Nr. 5 NWBauO vor. Der Kl. ist jedoch zur Duldung dieser Verletzung verpflichtet.

aa) Dabei kann nach Ansicht des Senats dahingestellt bleiben, ob die Verletzung des Grenzabstands ohne grobe Fahrlässigkeit der Bekl. erfolgt ist oder ob der Kl. es versäumt hat, sogleich Widerspruch zu erheben. Denn jedenfalls ist das Beseitigungsverlangen des Kl. rechtsmissbräuchlich. Unstreitig wird die Verletzung des Grenzabstands in dem ohnehin äußerst geringen Umfang von 11 cm verursacht durch die auf die Außenmauer, die ihrerseits den Grenzabstand einhält, aufgebrachte Wärmedämmung einschließlich Putz und Anstrich. Der Kl. hätte daher allenfalls Anspruch auf Beseitigung dieser Wärmedämmung etc. Durch deren Beseitigung würde jedoch auf Seiten der Bekl. ein erheblicher Schaden bewirkt, ohne dass auf Seiten des Kl. ein anerkennenswerter Vorteil eintritt (vgl. zu einem ähnlich gelagerten Fall OLG Koblenz, DRsprRom 1977/4259). Wegen der nur geringen Verletzung des Grenzabstands in einem Umfang von 11 cm ist die Beeinträchtigung des Grundstücks des Kl. zudem nicht einmal mit bloßem Auge feststellbar. Hinzu kommt, dass auf Grund der Angaben des Kl. im Termin feststeht, dass er sich durch die Verletzung des Grenzabstands letztlich gar nicht beeinträchtigt fühlt, er dieses Verlangen vielmehr nur deshalb stellt, weil die Bekl. ihm (zu Recht [Anm. d. Red.: Vom Abdruck der Gründe insoweit wurde abgesehen]) die Gestattung der Durchleitung des Niederschlagswassers verweigern. Angesichts dieser Gesamtumstände ist das Beseitigungsverlangen des Kl. rechtsmissbräuchlich.

Hinzu kommt vorliegend, dass hier auch dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der Grenzabstandsvorschriften ein geringeres Gewicht als in anderen Fällen zukommt. Denn gem. § 6 Nr. 14 NWBauO besteht die Möglichkeit, im Zusammenhang mit Wärmedämmmaßnahmen eine Unterschreitung des Grenzabstands zu genehmigen. Hieraus folgt, dass der allein durch die Wärmedämmung bedingten Verletzung des Grenzabstands auch unter Beachtung öffentlicher Interessen nur ein geringeres Gewicht zukommt.

bb) Selbst wenn man das Beseitigungsverlangen nicht bereits wegen Rechtsmissbräuchlichkeit ablehnen wollte, wäre der Kl. zur Duldung verpflichtet, da den Bekl. im Zusammenhang mit der Verletzung des Grenzabstands allenfalls ein leicht fahrlässiges Verhalten vorgeworfen werden kann, und der Kl. den in diesem Fall gem. § 912 I 2 BGB erforderlichen und zeitnahen Widerspruch unterlassen hat. Da die Bekl. den Rohbau nicht selbst errichtet haben, kann ihnen ein Verschuldensvorwurf nur gemacht werden, wenn sie für das Verhalten Dritter einzustehen haben. Der BGH (NJW 1977, 735) regelt die Zurechnung des vom Grundstückseigentümer bei der Bauausführung eingeschalteten Dritten über § 166 BGB und erfasst hierunter lediglich den Architekten, nicht jedoch die bauausführenden Handwerker. Dem schließt sich der Senat an. Hier liegt aber die Verantwortlichkeit für die Abstandsverletzung nicht beim Architekten, der, wie aus der Architektenzeichnung hervorgeht, zutreffend geplant hat. Die Verletzung des Grenzabstands wurde vielmehr durch die bauausführenden Handwerker verursacht, die die Verschalung entgegen dem Architektenplan nicht mit einem Rücksprung von der Einmessung gesetzt haben. Die bauausführenden Handwerker sind aber keine Repräsentanten des Bauherrn.

Den deshalb gem. § 912 I 2 BGB erforderlichen Widerspruch, der die Duldungspflicht beseitigen könnte, hat der Kl. nicht rechtzeitig erhoben. Sinn der Vorschrift des § 912 I 2 BGB ist, dass durch die Rechtzeitigkeit des Widerspruchs erhebliche Zerstörungen, die mit einer Beseitigung verbunden wären, vermieden werden sollen. Auf ein schuldhaftes Zögern des Nachbarn kommt es dabei nicht an. Sein Widerspruch ist daher auch dann verspätet, wenn er die Grenzüberschreitung weder kannte noch kennen musste (Soergel/Bauer, BGB, 11. Aufl., § 12 Rdnr. 12; Säcker, in: MünchKomm, § 912 Rdnr. 25, jeweils m.w. Nachw.). Angesichts der Tatsache, dass es nur auf den objektiv rechtzeitigen Widerspruch ankommt, nicht aber darauf, ob der Nachbar mangels früheren Erkennens den Widerspruch gar nicht rechtzeitig einlegen konnte, kann der Argumentation des Kl. der Berufungsinstanz, eine Verletzung des Grenzabstands sei schwieriger zu erkennen als ein Überbau und daher müsse die Widerspruchsfrist bei einer analogen Anwendung des § 912 BGB auf die Verletzung des Grenzabstands extensiver ausgelegt werden, nicht gefolgt werden.

2. Dem Kl. steht auch kein Anspruch gem. § 912 II BGB gegen die Bekl. auf Zahlung einer Überbaurente zu. … Die Rentenpflicht des Überbauenden soll den Nutzungsverlust ausgleichen, den der Eigentümer des überbauten Grundstücks erleidet. Es handelt sich nicht um einen Schadensersatz, sondern um einen Wertausgleichsanspruch. Läge tatsächlich ein Überbau um 11 cm vor, hätte der Kl. rechnerisch einen Anspruch auf eine Überbaurente in Höhe von unter 10 Euro (!) pro Jahr. Ein messbarer Wertverlust des Grundstücks des Kl. dadurch, dass er bei einer eventuell seinerseits irgendwann erfolgenden Bebauung möglicherweise zur Grenze der Bekl. nunmehr 3,11 m statt 3 m einhalten müsste, ist weder nachvollziehbar dargetan noch sonst ersichtlich.

Rechtsgebiete

Nachbarrecht; Garten- und Nachbarrecht