Zurechnung von Vorsatz und grober Fahrlässigkeit beim Überbau

Gericht

BGH


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

10. 12. 1976


Aktenzeichen

V ZR 235/75


Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Vor dem Baubeginn eines Hauses auf dem Grundstück der Bekl. wurde die Grenze zum Grundstück des Kl. im Beisein des Architekten, des Bauunternehmers und eines Poliers von einem Vermessungsingenieur gekennzeichnet. Am nächsten Tag richtete ein anderer - bei der Vermessung des Vortages nicht anwesender - Polier des Bauunternehmers die Baustelle ein; hierbei wurde die Grenze zum Nachbargrundstück abweichend von der ersten Grenzkennzeichnung bestimmt. Infolge dieser Grenzbestimmung kam es zu einem Überbau in das Grundstück des Kl. Der Kl. verlangt Beseitigung des Überbaues. Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Kl. wurde zurückgewiesen. Die Revision hatte keinen Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Die Revision wendet sich ohne Erfolg gegen die Auffassung des BerGer., weder sei dem Architekten der Bekl. in bezug auf den Überbau mindestens grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen, noch könne den Bekl. im Rahmen des § 912 I BGB ein grob fahrlässiges Verhalten des Bauunternehmers oder des Poliers zugerechnet werden.

1. Das BerGer. ist zutreffend in Übereinstimmung mit der Entscheidung des erkennenden Senats vom 24. 6. 1964 (BGHZ 42, 63 = NJW 1964, 2016) davon ausgegangen, daß Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit des Architekten beim Überbau in entsprechender Anwendung des § 166 BGB dem Grundstückseigentümer zuzurechnen ist. Die Annahme des BerGer., dem Architekten sei ein grob fahrlässiges Verhalten nicht nachzuweisen (der ursprüngliche Vorwurf vorsätzlichen Verhaltens war schon im Berufungsverfahren nicht mehr aufrechterhalten worden), läßt Rechtsfehler nicht erkennen. Die Bewertung des Verschuldensgrades ist in erster Linie eine Frage tatrichterlicher Würdigung, die das RevGer. lediglich beschränkt auf Verstöße gegen anerkannte Bewertungsmaßstäbe nachzuprüfen hat (vgl. hierzu BGH, WM 1966, 1303 [1304]). Derartige Maßstäbe sind nicht verletzt, wenn das BerGer. das Vertrauen des Architekten darauf, die im Beisein des Poliers angebrachten Grenzmarkierungen würden von diesem auch beachtet werden, als nicht grob fahrlässig bewertet. Ebensowenig ist die Würdigung zu beanstanden, der Architekt habe nicht damit zu rechnen brauchen, bei Arbeitsbeginn werde ein anderer, über die Grenzmarkierung nicht unterrichteter Polier auf der Baustelle eingesetzt werden. Rechtsirrtumsfrei ist endlich auch die Annahme des BerGer., für eine spätere Überprüfung habe keine Veranlassung bestanden, da dem Architekten Maßdifferenzen nicht gemeldet worden seien.

2. Nicht zu beanstanden ist auch die Auffassung des BerGer., den Bekl. sei im Rahmen des § 912 I BGB eine für den Überbau ursächliche grobe Nachlässigkeit des Bauunternehmers oder seines Poliers nicht anzurechnen.

a) Der Senat hat bereits in BGHZ 42, 374 = NJW 1965, 389 entschieden, daß auf die rechtlichen Beziehungen zwischen Grundstücksnachbarn § 278 BGB nicht anzuwenden ist. Auch eine entsprechende Anwendung des § 831 BGB entfällt, da das Gesetz die Regelung des § 912 BGB vom Recht der unerlaubten Handlung getrennt hat (BGHZ 42, 63 = NJW 1964, 2016). Die Verantwortlichkeit des Grundstückseigentümers und Bauherrn für Dritte, die einen Überbau vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt haben, könnte daher nur mit einer entsprechenden Anwendung des § 166 BGB begründet werden (BGHZ 42, 63 = NJW 1964, 2016; BGHZ 42, 374 = NJW 1965, 389).

b) Vom Anwendungsbereich dieser Vorschrift werden im Rahmen des § 912 I BGB aber weder der Bauunternehmer noch der Polier erfaßt. Die Regelung des § 166 BGB beruht auf der Erwägung, daß derjenige, der im Rechtsverkehr einen anderen an seine Stelle treten läßt, sich billigerweise dessen Kenntnisse (und dessen Kennenmüssen) zurechnen lassen muß. Diese Erwägung hat die Rechtsprechung veranlaßt, § 166 BGB nicht nur bei der Abgabe von Willenserklärungen (Fall der unmittelbaren Anwendung des § 166 BGB), sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch im Rahmen bloß tatsächlicher Dienste des Dritten anzuwenden (vgl. hierzu BGHZ 32, 53 = NJW 1960, 860; BGHZ 41, 17 = NJW 1964, 1277; BGHZ 42, 63 = NJW 1964, 2016). Entscheidend für die Anwendung des § 166 BGB ist der Inhalt der übertragenen Geschäfte. Bauunternehmer und Polier erfüllen - anders als der Architekt - in der Regel nicht die Voraussetzungen für eine Anwendung des § 166 BGB. Der Architekt hat kraft seines Vertrages Planung und Ausführung des Bauvorhabens zu gestalten. In diesem Zusammenhang hat er als Sachwalter des Bauherrn dessen Interessen insbesondere auch nach außen gegenüber den sonst am Bau Beteiligten oder durch den Bau Betroffenen zu wahren. Er gilt dementsprechend im Verkehr als der „Repräsentant“ des Bauherrn. Diese Merkmale fehlen dem Bauunternehmer und seinen Gehilfen in aller Regel. Der Bauunternehmer und seine Gehilfen stehen dem Bauherrn nur im Rahmen des vertraglichen Austauschverhältnisses gegenüber; sie sind eher dessen Widerpart, nicht aber dessen „Repräsentant“. Auf den vom Revisionskl. erwähnten Umstand, der Bauunternehmer und sein Polier seien an der Baustelle leichter zu erreichen als Bauherr und Architekt, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an, da die Häufigkeit der Anwesenheit auf der Baustelle nichts für die - entscheidende - Frage besagt, ob Bauunternehmer oder Polier wie ein Vertreter oder „Repräsentant“ zur Wahrnehmung von Angelegenheiten des Bauherrn gegenüber Dritten berufen sind.

Rechtsgebiete

Grundstücks- und Wohnungseigentumsrecht; Garten- und Nachbarrecht