Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

Gericht

BGH


Art der Entscheidung

Beschluss über Beschwerde


Datum

24. 10. 2006


Aktenzeichen

XI ZB 16/06


Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des 10. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 4. April 2006 aufgehoben.

Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gewährt.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Beschwerdewert: 11.789,62 €

Entscheidungsgründe


Gründe:

I.

Der Kläger hat gegen das klageabweisende Urteil des Landgerichts vom 28. Juni 2005, zugestellt am 6. Juli 2005, am 2. August 2005 Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 6. Oktober 2005 mit Schriftsatz vom 29. September 2005, eingegangen am 7. Oktober 2005, begründet. Mit Schriftsatz vom 10. Oktober 2005 hat er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.

Seine Prozessbevollmächtigte hat dazu unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung ihrer Angestellten K. im Wesentlichen ausgeführt: Der Fristablauf sei im Kalender für den 6. Oktober 2005 eingetragen worden. Ihr sei die Akte am 29. September 2005 vorgelegt worden, woraufhin sie die Berufungsbegründung gefertigt habe. Ihre äußerst zuverlässige und verantwortungsbewusste, in Fristenangelegenheiten besonders akribisch arbeitende Rechtsanwaltsfachangestellte K. habe ihr am selben Tag den Schriftsatz zur Unterschrift vorgelegt und erklärt, diesen wegen ihres bevorstehenden Urlaubs am nächsten Tag mit der Gerichtspost abzugeben. Am 30. September 2005 habe die Angestellte bei der Kontrolle des Fristenkalenders auf Nachfrage erklärt, dass die Fristen für den 6. Oktober 2005 erledigt seien und die Gerichtspost bereits abgegeben sei. Die Gerichtspost werde in einer gesonderten Mappe gesammelt, die in einem Korb mit der Aufschrift "Gerichtspost" abgelegt sei, von dort werde sie regelmäßig zu Gericht gebracht, wo man sich den Eingang quittieren lasse. Sofern sich in der Akte am Tag des Fristablaufs weder ein Faxprotokoll oder eine Eingangsquittung des Gerichts befinde, rufe die Fachangestellte K. bei Gericht an und lasse sich von der Geschäftsstelle den Eingang bestätigen. Erst dann zeichne sie die Fristabläufe im Kalender als erledigt ab.

Sie, die Prozessbevollmächtigte, prüfe jeweils zu Beginn des Tages und vor Verlassen der Kanzlei am Abend, welche Fristen zur erledigen seien und ob die als Frist vermerkten Angelegenheiten auch als erledigt verzeichnet seien. Es habe keinen Grund bestanden, an der Aussage der Angestellten K. vom 30. September 2005 zu zweifeln, zumal darüber gesprochen worden sei, dass angesichts des Urlaubs der Angestellten sämtliche Fristen hätten vorher erledigt werden sollen. Am 7. Oktober 2005 sei bei einem Anruf des Klägers festgestellt worden, dass der komplette Schriftsatz mit der Berufungsbegründung einschließlich des Quittungsbelegs sich in der vorderen Tasche des den Kläger betreffenden Leitzordners befunden habe.


II.

1. Die gemäß § 238 Abs. 2 Satz 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde des Klägers ist zulässig, da zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erforderlich ist (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Indem das Berufungsgericht dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist verweigert hat, hat es das Verfahrensgrundrecht des Klägers auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt. Das Berufungsgericht hat dem Kläger (aus den unten unter Ziffer 2 folgenden Gründen) die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aufgrund von überspannten Anforderungen an die Sorgfaltspflichten seiner Prozessbevollmächtigten versagt, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und mit denen der Kläger nicht rechnen musste (vgl. dazu BVerfGE 79, 372, 376 f.; BVerfG NJW-RR 2002, 1004; BGHZ 151, 221, 227 f.).

2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.

a) Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht ein Organisationsverschulden der Prozessbevollmächtigten des Klägers im - vom ihm unterstellten - Unterlassen der Eintragung der Fristen auf der Handakte gesehen. Es geht, was das Berufungsgericht verkannt hat, vorliegend nicht um die Berechnung einer Frist und deren ordnungsgemäße Eintragung zwecks rechtzeitiger Erledigung eines fristgebundenen Schriftsatzes (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Februar 2003 - VIII ZB 115/02, ZIP 2003, 1050, 1051), sondern um die davon zu unterscheidende Frage einer wirksamen Ausgangskontrolle eines fristgemäß hergestellten Schriftsatzes.

b) Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht ein dem Kläger nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbares Organisationsverschulden auch darin gesehen, dass seine Prozessbevollmächtigte es unterlassen hat, dass für die urlaubsabwesende Fachangestellte K. jemand anderes die üblichen Kontrollmaßnahmen am Tag des Fristablaufs tätigte. Die übliche Organisation in der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten des Klägers war nach der eidesstattlichen Versicherung von Frau K. so geregelt, dass sie am Tag des Fristablaufs kontrollierte, ob ein Faxprotokoll oder eine Quittung des Gerichts über den Eingang des fristgebundenen Schriftstücks vorhanden war. Wenn dies nicht der Fall war, rief sie bei Gericht an, um sich den Eingang bestätigen zu lassen. Diese Organisation ist zwar durch die Absprache der Prozessbevollmächtigten des Klägers mit Frau K. , die Fristensachen bereits bis spätestens am 30. September 2005 zu erledigen und im Fristenkalender zu streichen, außer Kraft gesetzt worden. Gleichzeitig hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers aber durch gezielte Nachfrage am 30. September 2005 vor Streichung der Frist im Fristenkalender eine anderweitige, ebenfalls geeignete Ausgangskontrolle vorgenommen, die bei ordnungsgemäßer Beantwortung durch Frau K. die Fristeinhaltung sichergestellt hätte. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist anerkannt, dass es auf allgemeine organisatorische Regelungen nicht entscheidend ankommt, wenn im Einzelfall konkrete Anweisungen vorliegen, deren Befolgung die Fristwahrung sichergestellt hätten (vgl. Senatsbeschluss vom 26. September 1995 - XI ZB 13/95, NJW 1996, 130; BGH, Beschlüsse vom 11. Februar 2003 - VI ZB 38/03, BGH-Report 2003, 696 f. m.w.Nachw. und vom 29. Juli 2004 - III ZB 27/04, BGH-Report 2005, 44, 45 f.). Die Prozessbevollmächtigte des Klägers durfte sich auch auf die Aussage der zuverlässigen und erfahrenen Angestellten K. verlassen. Deren Fehler muss sich der Kläger nicht zurechnen lassen.

3. Dem Kläger war daher Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren mit der Folge, dass die Verwerfung der Berufung gegenstandslos ist.

Vorinstanzen

LG Hamburg, 327 O 322/04, 28.06.2005; OLG Hamburg, 10 U 27/05, 04.04.2006

Rechtsgebiete

Anwalts-, Notar-, Steuerberater- und anderes Berufsrecht