"Tiefstapeln in Bewerbung kommt Arbeitsablehnung gleich

Gericht

BSG


Art der Entscheidung

Urteil


Datum

05. 09. 2006


Aktenzeichen

B 7a AL 88/05 R


Tatbestand


Tatbestand:

Im Streit sind die teilweise Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit ab 1. September 2003 und die Erstattung zu Unrecht bezogener Leistungen in Höhe von 616,65 EUR für die Zeit vom 1. September 2003 bis 31. Januar 2004 wegen der Erzielung von Nebeneinkommen.

Die 1942 geborene Klägerin war bis 31. August 2003 als Rechtsanwaltsgehilfin beschäftigt; daneben übte sie seit 1998 und während des Alg-Bezugs eine Tätigkeit von 1,5 Stunden pro Woche als Hausverwalterin einer Eigentümergemeinschaft mit einem monatlichen Bruttoverdienst von 154,15 EUR (netto 123,33 EUR) aus. Die Beklagte bewilligte ihr ab 1. September 2003 Alg in Höhe von 152,04 EUR wöchentlich (nach einem Bemessungsentgelt von 385 EUR) ohne Anrechnung von Nebeneinkommen (Bescheid vom 22. August 2003), das sie ab 1. Januar 2004 auf Grund der neuen Leistungsentgelt-Verordnung für das Jahr 2004 auf 155,40 EUR erhöhte. Im November 2003 war der Beklagten bekannt geworden, dass die Klägerin nach dem Ende ihrer vollschichtigen Beschäftigung als Rechtsanwaltsgehilfin beim bisherigen Arbeitgeber weiterhin 4 Stunden wöchentlich gegen ein monatliches Entgelt von 165 EUR (brutto = netto) tätig war. Sie hob daraufhin die Alg-Bewilligung gemäß § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) teilweise für die Zeit vom 1. September 2003 bis 31. Januar 2004 in Höhe von 28,64 EUR wöchentlich auf und verlangte die Erstattung von 616,65 EUR an überzahltem Alg wegen Anrechnung von Nebeneinkommen (Bescheid vom 28. April 2004; Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 2004).

Während die Klage beim Sozialgericht (SG) Erfolg hatte (Urteil vom 19. April 2005), hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben (Urteil vom 15. November 2005). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, die Beklagte habe zu Recht der Klägerin nur den Freibetrag des § 141 Abs 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) in Höhe von 165 EUR monatlich zugebilligt. Zwar könne nach § 141 Abs 3 SGB III auch Arbeitseinkommen aus einer selbstständigen Tätigkeit bis zu dem Betrag anrechnungsfrei bleiben, der in den letzten 10 Monaten vor der Entstehung des Anspruchs durchschnittlich auf den Monat entfalle, mindestens jedoch ein Betrag in Höhe des Freibetrags nach Abs 1, und das von der Klägerin als Hausverwalterin erzielte Einkommen liege unter der Freibetragsgrenze des Abs 1; jedoch übe die Klägerin seit Beginn ihrer Arbeitslosigkeit, mit der "geringfügigen" Beschäftigung bei ihrem früheren Arbeitgeber eine weitere Tätigkeit aus, in der sie zusätzliche 165 EUR brutto (= netto) monatlich verdiene. Für die Anrechnung des Nebeneinkommens müssten beide Einkünfte addiert werden; dabei sei nur ein Freibetrag von insgesamt 165 EUR in Abzug zu bringen. Eine Kombination der Freibeträge nach § 141 Abs 1 und 3 SGB III sei unzulässig. Der Bewilligungsbescheid der Beklagten vom 22. August 2003 sei deshalb nach seinem Erlass rechtswidrig geworden und nach § 48 SGB X aufzuheben.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 141 SGB III. Sein Abs 1 regele nur die Fälle, in denen der Arbeitslose nach Entstehung des Anspruchs auf Alg eine weniger als 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung ausübe und stelle insoweit einen Betrag von 165 EUR anrechnungsfrei. Eine andere Konstellation erfassten die Abs 2 und 3. Ausweislich des Willens des Gesetzgebers dienten diese mit ihren Freibeträgen dazu, Einkünfte aus einer bereits vor dem Eintritt der Arbeitslosigkeit bestehenden nebenberuflichen Tätigkeit, die den Lebensstandard des Arbeitslosen geprägt hätten, weiterhin in demselben Umfang zu erhalten. Dies impliziere, dass bei einer Nebentätigkeit nach Abs 1 und einer weiteren nach Abs 2 bzw Abs 3 zwei Freibeträge berücksichtigt werden müssten. Die Entscheidung des LSG sei damit rechtswidrig.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, die von der Klägerin behauptete kumulative Zielsetzung der Abs 1 bis 3 des § 141 SGB III fände sich nicht im Gesetz.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe


Entscheidungsgründe:

Die Revision ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ). Das LSG hat zu Unrecht die Verfügungen der Beklagten bestätigt; der Klägerin ist entgegen der Ansicht des LSG und der Beklagten für die Anrechnung des Nebeneinkommens beim früheren Arbeitgeber ein Freibetrag von 165 EUR monatlich und daneben ein weiterer Freibetrag nach § 141 Abs 2 oder 3 SGB III zuzugestehen, der jedenfalls das Nebeneinkommen der Klägerin als Hausverwalterin in Höhe von 154,15 EUR brutto (= 123,33 EUR netto) in vollem Umfang erfasst.

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid vom 28. April 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2004. Mit diesem Bescheid hat die Beklagte den ursprünglichen Alg-Bewilligungsbescheid vom 22. August 2003 und den Folgebescheid vom Januar 2004 teilweise gemäß § 48 SGB X aufgehoben und von der Klägerin die Erstattung des gezahlten Alg gemäß § 50 Abs 1 SGB X iVm § 330 SGB III verlangt. Es kann dahinstehen, ob die Aufhebung des ursprünglichen Bewilligungsbescheids vom 22. August 2003 nicht auf § 45 SGB X iVm § 330 SGB III (Rücknahme wegen anfänglicher Rechtswidrigkeit) gestützt werden müsste (wenn zum Zeitpunkt seines Erlasses bereits 2 Nebentätigkeiten vereinbart waren). Sowohl die Voraussetzung des § 45 SGB X iVm § 50 Abs 1 SGB X als auch die des § 48 Abs 1 iVm § 50 Abs 1 SGB X liegen nicht vor. Beide Alternativen verlangen, dass zu Unrecht eine Anrechnung des Nebeneinkommens unterblieben ist. Entgegen der Ansicht des LSG war eine Anrechnung von Nebeneinkommen nach § 141 SGB III jedoch nicht vorzunehmen, sodass es auf die Unterscheidung zwischen § 45 und § 48 SGB X und auf die weiteren Voraussetzungen für die Rücknahme bzw Aufhebung der Bewilligungsbescheide nach §§ 45, 48 SGB X nicht mehr ankommt.

Entscheidungserheblich ist damit auch nicht, ob das LSG zu Recht und für den Senat bindend (§ 163 SGG) festgestellt hat, dass die Beklagte bereits mit Bescheid vom 23. Februar 2004 die Alg-Bewilligung mit Wirkung ab 1. Februar 2004 aufgehoben hat - die Leistungsakte enthält unter dem Datum vom 23. Februar 2004 nur ein Anhörungsschreiben der Beklagten. Gäbe es einen Aufhebungsbescheid vom 23. Februar 2004, wäre allerdings unter Berücksichtigung der vom Senat nicht gebilligten Rechtsansicht des LSG zu entscheiden, ob die Aufhebung der Alg-Bewilligung durch den späteren Bescheid vom 28. April 2004 für die Zeit vor dem 1. Februar 2004 nicht insoweit an § 45 SGB X zu messen wäre, als sie den angeblichen Bescheid vom 23. Februar 2004 abändert. Selbst wenn es nahe liegen sollte, dass mit einem Bescheid vom 23. Februar 2004 nicht zwangsläufig und denknotwendig auch über eine Nichtaufhebung für die Zeit vor dem 1. Februar 2004 befunden worden ist, wäre dies zumindest nicht gänzlich unzweifelhaft.

Nach § 141 Abs 1 SGB III (hier idF, die die Norm durch das 4. Euro-Einführungsgesetz vom 21. Dezember 2000 - BGBl I 1983 - erhalten hat) ist das Arbeitsentgelt aus einer Beschäftigung nach Abzug der Steuern, der Sozialversicherungsbeiträge und der Werbungskosten sowie eines Freibetrages in Höhe von 20 % des monatlichen Arbeitslosengeldes, mindestens aber von 165 EUR, auf das Alg für den Kalendermonat, in dem die Beschäftigung ausgeübt wird, anzurechnen, wenn der Arbeitslose während einer Zeit, für die ihm Alg zusteht, eine weniger als 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung ausübt. Diese Freibetragsgrenze überschreitet die Klägerin mit ihrer seit September 2003 ausgeübten Beschäftigung bei ihrem früheren Arbeitgeber nicht.

Nach § 141 Abs 2 SGB III bleibt das Arbeitsentgelt bis zu dem Betrag anrechnungsfrei, der in den letzten 10 Monaten vor der Entstehung des Anspruchs aus einer geringfügigen Beschäftigung durchschnittlich auf den Monat entfällt, mindestens jedoch ein Betrag in Höhe des Freibetrags, der sich nach Abs 1 ergeben würde, wenn der Arbeitslose in den letzten 12 Monaten vor der Entstehung des Anspruchs neben einem Versicherungspflichtverhältnis eine geringfügige Beschäftigung mindestens 10 Monate lang ausgeübt hat. Nach Abs 3 bleibt das Arbeitseinkommen bis zu dem Betrag anrechnungsfrei, der in den letzten 10 Monaten vor der Entstehung des Anspruches durchschnittlich auf den Monat entfällt, mindestens jedoch ein Betrag in Höhe des Freibetrages, der sich nach Abs 1 ergeben würde, wenn der Arbeitslose in den letzten 12 Monaten vor der Entstehung des Anspruches neben einem Versicherungspflichtverhältnis eine selbstständige Tätigkeit oder Tätigkeit als mithelfender Familienangehöriger von weniger als 18 Stunden wöchentlich mindestens 10 Monate lang ausgeübt hat.

Vorliegend kann dahinstehen, ob es sich bei der Tätigkeit der Klägerin als Hausverwalterin um eine selbstständige Tätigkeit oder um eine abhängige Beschäftigung gehandelt hat; entweder sind die Voraussetzungen des § 141 Abs 2 oder des Abs 3 erfüllt. Dann aber steht ihr neben dem Freibetrag des Abs 1 für die Beschäftigung bei ihrem früheren Arbeitgeber ein weiterer monatlicher Freibetrag nach Abs 2 oder 3 bis zur Höhe ihres Durchschnittseinkommens in den letzten 10 Monaten vor Entstehung des Alg-Anspruchs bzw bis zur Höhe des Freibetrags nach Abs 1 (vorliegend 165 EUR) zu. Da das Monatseinkommen der Klägerin nach den unangegriffenen Tatsachenfeststellungen des LSG (§ 163 SGG) in der Zeit ab 1. September 2003 monatlich gleich bleibend dem maßgeblichen Verdienst in der Referenzzeit vor dem 1. September 2003 entsprach, bleibt das Nebeneinkommen der Klägerin auch aus dieser zweiten Nebenbeschäftigung (154,15 EUR brutto = 123,33 EUR netto) in vollem Umfang anrechnungsfrei. Mit den nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG maßgeblichen Wochenarbeitszeiten (4 Stunden und 1,5 Stunden) war die Klägerin auch weiterhin arbeitslos iS des § 118 Abs 1 und 2 SGB III (hier idF, die die Norm durch das 1. SGB III-Änderungsgesetz vom 16. Dezember 1997 - BGBl I 2970 - erhalten hat).

Dass der Klägerin zwei Anrechnungsfreibeträge zuzugestehen sind, ergibt sich aus Sinn und Zweck der Regelung unter Berücksichtigung von Systematik und Wortlaut der Norm; die Gesetzesentwicklung steht dem nicht entgegen. Sinn der Regelungen sowohl des Abs 2 als auch des Abs 3 ist es, dem Arbeitslosen die Nebeneinkünfte zu belassen, die schon längere Zeit vor Eintritt der Arbeitslosigkeit seinen Lebensstandard mitbestimmt haben (BT-Drucks 14/873 S 14 zu Nr 21). Zweck des § 141 Abs 1 SGB III ist es demgegenüber, dem Arbeitslosen einen Anreiz zu geben, seine Arbeitskraft neben dem Bezug von Leistungen einzusetzen, um auf diese Weise seine Wiedereingliederung zu erleichtern (BSG SozR 3-4100 § 115 Nr 7 S 24; BT-Drucks 13/4941 S 180; Voelzke in Kasseler Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, 2003, § 12 RdNr 7; Valgolio in Hauck/Noftz, SGB III, K § 141 RdNr 3, Stand Juni 2000; Henke in Eicher/Schlegel, SGB III, § 141 Rz 1, Stand Juni 2004; Hünecke in Gagel, SGB III, § 141 RdNr 20 f). Beide Gesetzeszwecke müssen bei der Bestimmung von Anrechnungsfreibeträgen aus zwei Nebentätigkeiten, die zusammen nicht zu einem Entfallen der Arbeitslosigkeit führen, berücksichtigt werden.

Entscheidend ist, dass der Lebensstandard der Klägerin durch ihren Verdienst als Hausverwalterin bereits vor der Arbeitslosigkeit mitbestimmt worden ist, sodass dieser - wenn auch abgesenkt durch das Alg - nach der Teleologie des Gesetzes erhalten bleiben muss. Wenn § 141 Abs 1 SGB III aber ohnedies jedem Arbeitslosen bei einer Nebentätigkeit, die für den Lebensstandard zuvor nicht von Bedeutung war, einen Freibetrag von 20 % des monatlichen Arbeitslosengeldes, mindestens jedoch 165 EUR, zugesteht, dann muss dieser Freibetrag als Anreiz zur Wiedereingliederung auch dem Arbeitslosen zugestanden werden, der neben der bereits früher ausgeübten privilegierten Tätigkeit, die seinen Lebensstandard bestimmt hatte, eine weitere Tätigkeit aufnimmt. Nur so kann den oben bezeichneten Gesetzeszwecken Rechnung getragen werden.

Wortlaut und Systematik der Norm widersprechen dieser Auslegung nicht. § 141 Abs 1 bis 3 SGB III sind so formuliert, dass sie jeweils nur die Konstellation einer einzigen Nebentätigkeit erfassen, also kumulativ mehrere Freibeträge nebeneinander zulassen. Entgegen der Ansicht des LSG ist dies auch nicht systemwidrig. Insbesondere rechtfertigt sich die Auslegung des LSG nicht aus der Formulierung der Abs 2 und 3 am Ende ("mindestens jedoch ein Betrag in Höhe des Freibetrags, der sich nach Abs 1 ergeben würde"). Aus dem Wort "würde" schließt das LSG, dass im Anwendungsbereich von Abs 2 und 3 der Abs 1 nicht mehr zur Anwendung kommen solle. Nur wenn Abs 2 und 3 den Abs 1 verdrängten, ergebe auch die Formulierung am Ende der Absätze einen Sinn. Dem ist entgegenzuhalten, dass nach Abs 2 und 3 nur der jeweilige aktuelle monatliche Verdienst zur Anrechnung kommen kann, der sowohl über als auch unter dem durchschnittlichen Verdienst in der Referenzzeit liegen kann. Liegt er darunter und unter dem Mindestfreibetrag von 165 EUR, wird nur der niedrigere monatliche aktuelle Verdienst von der Anrechnung ausgenommen. Liegt der Durchschnittsverdienst der Referenzzeit demgegenüber unter dem Betrag nach Abs 1, der aktuelle monatliche Verdienst aber darüber, oder ist er mindestens so hoch wie der Betrag nach Abs 1, wird dieser Betrag als Freibetrag nach den Abs 2 und 3 zu Grunde gelegt. Der Arbeitslose wird dann so behandelt, als würde für ihn der Freibetrag des Abs 1 gelten (BT-Drucks 14/873 S 14 zu Nr 21). Der Gesetzgeber hat mithin die Formulierung "würde" durchaus mit Bedacht und zu Recht gewählt. Die Regelungen der Abs 2 und 3 mit ihrem Mindestfreibetrag in Höhe des Freibetrags nach Abs 1 ergeben somit auch nicht nur dann einen Sinn, wenn eine Kumulation von Freibeträgen hätte ausgeschlossen werden sollen. Sie gewährleisten vielmehr mit drei unterschiedlichen Höchstwerten, dass dem Arbeitslosen aus der privilegierten Tätigkeit zum einen nicht mehr als anrechnungsfreier Betrag verbleibt, als er tatsächlich im jeweiligen Anrechnungsmonat verdient hat; zum anderen verbleibt dem Arbeitslosen im Rahmen des aktuellen Verdienstes mindestens der Durchschnittsverdienst aus dem Referenzzeitraum bzw der Verdienst, der dem Freibetrag des Abs 1 entspricht. Die Gesetzesentwicklung des § 115 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) und des § 141 SGB III bietet keine Anhaltspunkte, die für die Ansicht des LSG und der Beklagten sprechen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Rechtsgebiete

Sozialrecht