Einzelanweisung für den nächsten Tag: Zusätzliche Kontrolle erforderlich
Gericht
BGH
Art der Entscheidung
Beschluss über Beschwerde
Datum
13. 09. 2006
Aktenzeichen
XII ZB 103/06
Soll eine Einzelanweisung an eine Kanzleiangestellte nicht sofort, sondern erst am nächsten Tag anlässlich einer Fahrt an den Sitz des Berufungsgerichts ausgeführt werden, können zusätzliche organisatorische Maßnahmen erforderlich sein, um einem Vergessen der Anweisung vorzubeugen.
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 2. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 17. März 2006 wird auf Kosten der Beklagten verworfen.
Beschwerdewert: 90.000 €
Gründe:
I.
Die Beklagten haben gegen das ihnen am 11. November 2005 zugestellte Urteil des Landgerichts, mit dem ihre Widerklage abgewiesen wurde, am 8. Dezember 2005 Berufung eingelegt. Auf ihren Antrag wurde die Berufungsbegründungsfrist bis zum 13. Februar 2006 verlängert. Die Berufungsbegründung ging - zusammen mit einem Wiedereinsetzungsantrag gegen die Versäumung der Begründungsfrist - erst am 17. Februar 2006 beim Berufungsgericht ein.
Zur Begründung ihres Wiedereinsetzungsgesuchs haben die Beklagten vorgetragen, ihre Prozessbevollmächtigte habe die Berufungsbegründung am Sonntag, den 12. Februar 2006 unterschrieben und ihrer Kanzleiangestellten Z. aufgetragen, den Schriftsatz am Folgetag anlässlich einer ohnehin vorgesehenen Fahrt nach Frankfurt in der Postannahmestelle des Oberlandesgerichts abzugeben oder dort in den Fristbriefkasten einzuwerfen. Weil es dem kleinen Sohn der Kanzleiangestellten nicht gut gegangen sei, sei sie allerdings nicht nach Frankfurt gefahren und habe den Schriftsatz vergessen.
Das Oberlandesgericht hat das Wiedereinsetzungsgesuch der Beklagten zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Gegen diesen Beschluss richtet sich die Rechtsbeschwerde der Beklagten.
II.
Die nach §§ 574 Abs. 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4, 238 Abs. 2 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde der Beklagten ist nicht zulässig, weil die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen.
1. Das Berufungsgericht hat das Wiedereinsetzungsgesuch zurückgewiesen, weil die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auf einem den Beklagten nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnenden Organisationsverschulden ihrer Prozessbevollmächtigten beruhe. Zwar betreffe die Anweisung an eine Kanzleiangestellte, einen fristgebundenen Schriftsatz bei einer Briefannahmestelle des Gerichts abzugeben oder ihn in den dortigen Fristbriefkasten einzuwerfen, grundsätzlich nur eine untergeordnete Botentätigkeit, die der Prozessbevollmächtigte ihr zur selbständigen Erledigung überlassen dürfe und deren Ausführung er nicht besonders überwachen müsse. Das gelte allerdings nur dann, wenn der Schriftsatz gewissermaßen als "letzte Station auf dem Weg zum Adressaten" übergeben werde. An dieser Unmittelbarkeit zwischen dem Auftrag und der beabsichtigten Ausführung fehle es hier jedoch, da die Kanzleiangestellte die Berufungsbegründung zunächst mit nach Hause nehmen und erst am nächsten Tag bei einer ohnehin vorgesehenen Fahrt nach Frankfurt zur Postannahmestelle des Oberlandesgerichts oder zum Fristenbriefkasten bringen sollte. In einem solchen Fall sei die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass die Kanzleiangestellte - durch Umstände im häuslichen Bereich abgelenkt - es vergesse, den Schriftsatz weisungsgemäß beim Berufungsgericht abzugeben. Die Prozessbevollmächtigte der Beklagten habe dieser Gefahr durch geeignete Maßnahmen wirksam vorbeugen müssen. Solches sei durch eine Rückfrage bei der Kanzleiangestellten oder dadurch möglich, dass die Kanzleiangestellte ausdrücklich angewiesen werde, die Ausführung am Folgetag noch rechtzeitig vor Fristablauf ungefragt mitzuteilen. Solche Maßnahmen habe die Prozessbevollmächtigte der Beklagten indes unterlassen, was ihr und den Beklagten (§ 85 Abs. 2 ZPO) zum Verschulden gerate.
2. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ist eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nicht erforderlich. Denn die angefochtene Entscheidung lässt Rechtsfehler nicht erkennen, entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und erschwert den Beklagten den Zugang zum Berufungsgericht nicht in unzumutbarer Weise.
a) Zu Recht - und von der Rechtsbeschwerde insoweit auch nicht angegriffen - geht das Berufungsgericht davon aus, dass ein Rechtsanwalt grundsätzlich darauf vertrauen darf, dass eine Büroangestellte, die sich bisher als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung befolgt. Er ist deshalb im Allgemeinen nicht verpflichtet, sich anschließend über die Ausführung seiner Weisung zu vergewissern (st. Rspr. BGH Beschluss vom 22. Juni 2004 - VI ZB 10/04 - FamRZ 2004, 1711 m.w.N.; Senatsbeschluss vom 13. April 1997 - XII ZB 56/97 - NJW 1997, 1930). Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht ausnahmslos.
b) Bei der Behandlung von Fristsachen muss die dem Büropersonal erteilte Weisung um so klarer und präziser sein, je komplizierter und fehlerträchtiger die Prozesssituation ist (BGH Beschluss vom 31. Mai 2000 - V ZB 57/99 - NJW-RR 2001, 209). Betrifft die Anweisung einen so wichtigen Vorgang wie den fristgerechten Eingang einer Rechtsmittelbegründung und wird sie nur mündlich erteilt, müssen in der Kanzlei ausreichende organisatorische Vorkehrungen dagegen getroffen sein, dass die Anweisung in Vergessenheit gerät und die Fristeintragung unterbleibt. In einem solchen Fall bedeutet das Fehlen jeder Sicherung einen entscheidenden Organisationsmangel (BGH Beschlüsse vom 5. November 2002 - VI ZR 399/01 - VersR 2003, 1459 und vom 4. November 2003 - VI ZB 50/03 - NJW 2004, 688).
Ebenso wie die nur mündlich angeordnete Eintragung einer Rechtsmittelfrist schlichtweg vergessen werden kann und deswegen eine besondere Kontrolle erfordert, kann im Einzelfall auch die Gefahr bestehen, dass die nur mündlich angeordnete Abgabe der Berufungsbegründung in Vergessenheit gerät. Ein solcher außergewöhnlicher Fall ist hier gegeben, weil die Prozessbevollmächtigte der Beklagten die Anweisung schon am Vortag des Fristablaufs erteilt hatte und die Kanzleiangestellte den Begründungsschriftsatz erst anlässlich einer Fahrt nach Frankfurt am nächsten Tag abgeben sollte. Für den Fall, dass sie am Folgetag nicht nach Frankfurt reisen würde, bestand die nicht fern liegende Gefahr, dass sie auch die Abgabe der Berufungsbegründung vergessen könnte. Ein solches Versehen kann auch einer sonst stets zuverlässigen Bürokraft unterlaufen. Deswegen hätte die Prozessbevollmächtigte der Beklagten, um ihrer Sorgfaltspflicht zu genügen, Vorkehrungen gegen ein solches Vergessen treffen oder die Ausführung ihrer Anweisung auf andere Weise sicherstellen oder kontrollieren müssen (vgl. BGH Beschlüsse vom 22. Juni 2004 aaO und vom 14. Juni 2006 - IV ZB 36/05 - veröffentlicht bei Juris). So ist auch hier die unterbliebene Kontrolle, die das Organisationsverschulden begründet, für die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ursächlich geworden.
Soweit der Bundesgerichtshof in anderen Fällen einer Einzelanweisung an einen Übermittlungsboten auf eine zusätzliche Kontrolle verzichtet hat, sind diese mit dem vorliegenden Einzelfall nicht vergleichbar. Denn dort sollte der Bote den Schriftsatz in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang und insbesondere noch am gleichen Tag bei Gericht abgeben. Zusätzliche Fehlerquellen, die wie hier die Möglichkeit des Vergessens der mündlichen Einzelanweisung erhöhen, lagen deswegen nicht nahe (vgl. BGH Beschlüsse vom 26. Oktober 1988 - VIII ZB 24/88 - VersR 1989, 166 und vom 13. Februar 1985 - IVa ZB 15/84 - VersR 1985, 455 f.). Diese Rechtsprechung steht der angefochtenen Entscheidung auch deswegen nicht entgegen, weil auch das Berufungsgericht von dem Grundsatz ausgegangen ist, wonach die konkrete Einzelanweisung an eine zuverlässige Kanzleiangestellte regelmäßig eine weitere Kontrolle erübrigt.
Im Gegensatz zur Auffassung der Rechtsbeschwerde hat auch das Bundesverfassungsgericht zusätzliche organisatorische Anforderungen gegen das Vergessen einer konkreten Einzelanweisung nicht generell für von Verfassungs wegen unzulässig erachtet. In seiner Entscheidung vom 16. August 1994 (NJW 1995, 249, 250) hat das Bundesverfassungsgericht die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ausdrücklich gebilligt, wonach sich der Prozessbevollmächtigte nicht ohne besonderen Anlass bei dem Boten erkundigen muss, ob er den Auftrag ordnungsgemäß ausgeführt hat. Das steht höheren Anforderungen in besonders gelagerten Einzelfällen nicht entgegen, zumal das Bundesverfassungsgericht im Folgenden darauf abgestellt hat, dass für zusätzliche organisatorische Maßnahmen des Prozessbevollmächtigten kein besonderer Anlass vorgetragen war und das Berufungsgericht seine Abweichung von der grundsätzlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht begründet hatte. Das ist hier gerade nicht der Fall.
b) Zwar dient das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach gefestigter Rechtsprechung in besonderer Weise dazu, den Rechtsschutz und das rechtliche Gehör zu garantieren. Daher gebieten es die Verfahrensgrundrechte auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V. mit dem Rechtsstaatsprinzip) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), den Zugang zu den Gerichten und den in den Verfahrensordnungen vorgesehenen Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (Senatsbeschluss vom 9. Februar 2005 - XII ZR 225/04 - FamRZ 2005, 791, 792 m.w.N.).
Gegen diese Grundsätze verstößt die angefochtene Entscheidung aber nicht, weil sie die Sorgfaltsanforderungen an die Prozessbevollmächtigte der Beklagten nicht überspannt und den Beklagten den Zugang zum Berufungsgericht nicht in unzumutbarer Weise erschwert. Mündliche Einzelanweisungen, die erst am Folgetag - noch dazu anlässlich einer privaten Fahrt an den Sitz des Berufungsgerichts - auszuführen sind, bergen - wie ausgeführt - eine weitaus höhere Gefahr des Vergessens in sich als Einzelanweisungen, die sofort auszuführen sind. Dieser Gefahr muss deswegen durch höhere Sorgfaltsanforderungen begegnet werden. Die somit gebotenen höheren Sorgfaltsanforderungen belasten den Prozessbevollmächtigten nicht in unzumutbarer Weise, weil die Kontrolle sich auf die Einzelfälle der späteren Ausführung beschränkt und relativ einfach zu gewährleisten ist. Denn der Prozessbevollmächtigte kann die als Botin eingesetzte Kanzleiangestellte gerade in Fällen, in denen der Fristablauf noch nicht unmittelbar bevor steht und deswegen die Erledigung nicht sofort erfolgen muss, bitten, die Ausführung der Anweisung so rechtzeitig mitzuteilen, dass die Prozesshandlung notfalls anderweit sichergestellt werden kann.
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