Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Begriff der Behinderung
Gericht
EuGH
Art der Entscheidung
Urteil
Datum
11. 07. 2006
Aktenzeichen
C‑13/05
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. L 303, S. 16) in Bezug auf die Diskriminierung wegen einer Behinderung und, hilfsweise, ein etwaiges Verbot der Diskriminierung wegen Krankheit.
Das Ersuchen ergeht in einem Rechtsstreit zwischen Frau Chacón Navas (im Folgenden: Klägerin) und der Gesellschaft Eurest Colectividades SA (im Folgenden: Beklagte) wegen Entlassung während einer krankheitsbedingten Arbeitsunterbrechung.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
Artikel 136 Absatz 1 EG lautet:
„Die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten verfolgen eingedenk der sozialen Grundrechte, wie sie in der am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichneten Europäischen Sozialcharta und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 festgelegt sind, folgende Ziele: die Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, um dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen, einen angemessenen sozialen Schutz, den sozialen Dialog, die Entwicklung des Arbeitskräftepotenzials im Hinblick auf ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau und die Bekämpfung von Ausgrenzungen.“
Artikel 137 Absätze 1 und 2 EG verleiht der Gemeinschaft Zuständigkeiten zur Unterstützung und Ergänzung der Tätigkeit der Mitgliedstaaten zur Verwirklichung der Ziele des Artikels 136 EG, u. a. auf den Gebieten der beruflichen Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen und der Bekämpfung sozialer Ausgrenzung.
Die Richtlinie 2000/78 wurde auf der Grundlage von Artikel 13 EG in seiner Fassung vor dem Vertrag von Nizza erlassen, der vorsieht:
„Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen dieses Vertrags kann der Rat im Rahmen der durch den Vertrag auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.“
Artikel 1 der Richtlinie 2000/78 bestimmt:
„Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.“
In den Begründungserwägungen dieser Richtlinie heißt es:
„(11) Diskriminierungen wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung können die Verwirklichung der im EG-Vertrag festgelegten Ziele unterminieren, insbesondere die Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz, die Hebung des Lebensstandards und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, die Solidarität sowie die Freizügigkeit.
(12) Daher sollte jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in den von der Richtlinie abgedeckten Bereichen gemeinschaftsweit untersagt werden. …
…
(16) Maßnahmen, die darauf abstellen, den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung am Arbeitsplatz Rechnung zu tragen, spielen eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung von Diskriminierungen wegen einer Behinderung.
(17) Mit dieser Richtlinie wird unbeschadet der Verpflichtung, für Menschen mit Behinderung angemessene Vorkehrungen zu treffen, nicht die Einstellung, der berufliche Aufstieg, die Weiterbeschäftigung oder die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen einer Person vorgeschrieben, wenn diese Person für die Erfüllung der wesentlichen Funktionen des Arbeitsplatzes oder zur Absolvierung einer bestimmten Ausbildung nicht kompetent, fähig oder verfügbar ist.
…
(27) Der Rat hat in seiner Empfehlung 86/379/EWG vom 24. Juli 1986 zur Beschäftigung von Behinderten in der Gemeinschaft [ABl. L 225, S. 43] einen Orientierungsrahmen festgelegt, der Beispiele für positive Aktionen für die Beschäftigung und Berufsbildung von Menschen mit Behinderung anführt; in seiner Entschließung vom 17. Juni 1999 betreffend gleiche Beschäftigungschancen für behinderte Menschen hat er bekräftigt, dass es wichtig ist, insbesondere der Einstellung, der Aufrechterhaltung des Beschäftigungsverhältnisses sowie der beruflichen Bildung und dem lebensbegleitenden Lernen von Menschen mit Behinderung besondere Aufmerksamkeit zu widmen.“
Artikel 2 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 2000/78 sieht vor:
„(1) Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf.
(2) Im Sinne des Absatzes 1
a) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde;
b) liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn:
i) diese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich, oder
ii) der Arbeitgeber oder jede Person oder Organisation, auf die diese Richtlinie Anwendung findet, ist im Falle von Personen mit einer bestimmten Behinderung aufgrund des einzelstaatlichen Rechts verpflichtet, geeignete Maßnahmen entsprechend den in Artikel 5 enthaltenen Grundsätzen vorzusehen, um die sich durch diese Vorschrift, dieses Kriterium oder dieses Verfahren ergebenden Nachteile zu beseitigen.“
Artikel 3 dieser Richtlinie lautet:
„(1) Im Rahmen der auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf
…
c) die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts;
…“
Artikel 5 dieser Richtlinie bestimmt:
„Um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, sind angemessene Vorkehrungen zu treffen. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen ergreift, um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten. Diese Belastung ist nicht unverhältnismäßig, wenn sie durch geltende Maßnahmen im Rahmen der Behindertenpolitik des Mitgliedstaates ausreichend kompensiert wird.“
Nummer 26 der auf der Tagung des Europäischen Rates vom 9. Dezember 1989 in Straßburg angenommenen Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, auf die Artikel 136 Absatz 1 EG verweist, lautet:
„Alle Behinderten müssen unabhängig von der Ursache und Art ihrer Behinderung konkrete ergänzende Maßnahmen, die ihre berufliche und soziale Eingliederung fördern, in Anspruch nehmen können.
Diese Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen müssen sich je nach den Fähigkeiten der Betreffenden auf berufliche Bildung, Ergonomie, Zugänglichkeit, Mobilität, Verkehrsmittel und Wohnung erstrecken.“
Nationales Recht
Artikel 14 der spanischen Verfassung lautet:
„Alle Spanier sind vor dem Gesetz gleich, und niemand darf wegen seiner Abstammung, seiner Rasse, seines Geschlechts, seiner Religion, seiner Anschauungen oder sonstiger persönlicher oder sozialer Umstände oder Verhältnisse benachteiligt oder bevorzugt werden.“
Das Real Decreto Legislativo Nr. 1/1995 vom 24. März 1995 zur Genehmigung der Neufassung des Gesetzes über das Estatuto de los Trabajadores (BOE Nr. 75 vom 29. März 1995, S. 9654, im Folgenden: Arbeitnehmerstatut) unterscheidet zwischen rechtswidriger und nichtiger Kündigung.
Artikel 55 Absätze 5 und 6 des Arbeitnehmerstatuts bestimmt:
„(5) Die Kündigung ist nichtig, wenn ihr Motiv einer der in der Verfassung oder im Gesetz verbotenen Diskriminierungsgründe ist oder wenn sie unter Verstoß gegen die Grundrechte und Grundfreiheiten des Arbeitnehmers erfolgt.
…
(6) Eine nichtige Kündigung bewirkt die sofortige Wiederherstellung des Beschäftigungsverhältnisses mit dem Arbeitnehmer und die Zahlung des nicht erhaltenen Arbeitsentgelts.“
Nach Artikel 56 Absätze 1 und 2 des Arbeitnehmerstatuts verliert der Arbeitnehmer im Fall der Rechtswidrigkeit der Kündigung seinen Arbeitsplatz und ihm wird eine Entschädigung gezahlt, es sei denn, der Arbeitgeber entscheidet sich für die Wiedereinstellung.
In Bezug auf das Verbot der Diskriminierung in den Arbeitsbeziehungen bestimmt Artikel 17 des Arbeitnehmerstatuts in der Fassung des Gesetzes 62/2003 vom 30. Dezember 2003 zur Einführung steuerlicher, verwaltungsrechtlicher und sozialer Maßnahmen (BOE Nr. 313 vom 31. Dezember 2003, S. 46874), mit dem die Richtlinie 2000/78 in spanisches Recht umgesetzt werden soll:
„(1) Als null und nichtig gelten Verordnungsvorschriften, Klauseln von Tarifverträgen, Einzelarbeitsverträge und einseitige Entscheidungen des Arbeitgebers, die zu einer unmittelbaren oder mittelbaren Benachteiligung aufgrund des Alters oder einer Behinderung führen oder in Bezug auf die Beschäftigung, insbesondere das Arbeitsentgelt, die Arbeitszeit und andere Arbeitsbedingungen aufgrund des Geschlechts, der Herkunft einschließlich der Rasse und der ethnischen Herkunft, des Familienstands, der sozialen Zugehörigkeit, der Religion oder der Weltanschauung, aufgrund politischer Ideen, der sexuellen Ausrichtung, der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Gewerkschaft oder des Beitritts oder Nichtbeitritts zu gewerkschaftlichen Vereinbarungen, Verwandtschaft mit anderen Arbeitnehmern im Betrieb und der Sprache im spanischen Staat begünstigen oder benachteiligen.
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Die Klägerin arbeitete für die Beklagte, einen auf Verpflegungsdienste spezialisierten Betrieb. Sie war seit dem 14. Oktober 2003 krankgeschrieben, und nach Informationen der für ihre Behandlung zuständigen Stellen des öffentlichen Gesundheitsdienstes war mit einer Wiederaufnahme ihrer Berufstätigkeit kurzfristig nicht zu rechnen. Das vorlegende Gericht macht keinerlei Angaben zu der Krankheit, an der die Klägerin leidet.
Am 28. Mai 2004 teilte die Beklagte der Klägerin ohne Angabe von Gründen ihre Kündigung mit, erkannte gleichzeitig aber die Rechtswidrigkeit der Kündigung an und bot ihr eine Entschädigung an.
Am 29. Juni 2004 erhob Frau Chacón Navas eine Klage gegen Eurest und trug vor, dass ihre Kündigung nichtig sei, da sie wegen ihrer achtmonatigen Arbeitsunterbrechung ungleich behandelt und diskriminiert worden sei. Sie beantragte, die Beklagte zu verurteilen, sie wieder auf ihrem Arbeitsplatz einzustellen.
Das vorlegende Gericht führt aus, mangels anderweitigen Vortrags oder Nachweises in den Akten sei aufgrund der Umkehr der Beweislast davon auszugehen, dass der Klägerin allein aus dem Grund gekündigt worden sei, dass sie krankgeschrieben war.
Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es in der spanischen Rechtsprechung Präzedenzfälle gebe, wonach diese Art der Kündigung als rechtswidrig, nicht aber als nichtig qualifiziert werde, da Krankheit im spanischen Recht nicht ausdrücklich zu den Gründen zähle, aus denen eine Diskriminierung in den Beziehungen zwischen Privatpersonen verboten sei.
Zwischen Krankheit und Behinderung bestehe jedoch ein ursächlicher Zusammenhang. Für die Definition des Begriffes „Behinderung“ sei die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) der Weltgesundheitsorganisation heranzuziehen. Danach sei „Behinderung“ ein Oberbegriff, der Schädigungen, Beeinträchtigungen der Aktivität und Beeinträchtigungen der Teilhabe umfasse. Krankheit könne Schädigungen verursachen, die eine Behinderung des Einzelnen darstellten.
Da Krankheit häufig zu einer irreversiblen Behinderung führen könne, müssten die Arbeitnehmer rechtzeitig auf der Grundlage des Verbotes der Diskriminierung wegen einer Behinderung geschützt werden. Die gegenteilige Auffassung könnte den vom Gesetzgeber angestrebten Schutz zunichte machen, da so die Anwendung unkontrollierter diskriminierender Maßnahmen ermöglicht würde.
Für den Fall, dass Behinderung und Krankheit als zwei unterschiedliche Begriffe angesehen würden und die Gemeinschaftsregelung auf den letztgenannten Begriff nicht unmittelbar anwendbar sei, schlägt das vorlegende Gericht vor, festzustellen, dass Krankheit ein nicht speziell genanntes Identitätsmerkmal sei, das den Gründen hinzuzufügen sei, derentwegen Personen zu diskriminieren nach der Richtlinie 2000/78 verboten sei. Diese Feststellung ergebe sich aus einer Auslegung der Artikel 13 EG, 136 EG und 137 EG in Verbindung mit Artikel II‑21 des Entwurfs des Vertrages über eine Verfassung für Europa.
Unter diesen Umständen hat das Juzgado de lo Social Nr. 33 Madrid das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Bezieht die Richtlinie 2000/78 insofern, als sie in ihrem Artikel 1 einen allgemeinen Rahmen zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen einer Behinderung schafft, eine Arbeitnehmerin in ihren Schutzbereich ein, der von ihrem Betrieb ausschließlich wegen Krankheit gekündigt worden ist?
2. Hilfsweise und für den Fall, dass Krankheitszustände nicht in den Bereich des Schutzes fallen, den die Richtlinie 2000/78 gegen die Diskriminierung aus Gründen der Behinderung gewährt, und die erste Frage verneint wird:
Kann die Krankheit als ein weiteres Identitätsmerkmal neben denen angesehen werden, die als Grund einer Diskriminierung anzunehmen die Richtlinie 2000/78 verbietet?
Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
Die Kommission hegt Zweifel an der Zulässigkeit der vorgelegten Fragen, weil es der Wiedergabe des Sachverhalts im Vorlagebeschluss an Klarheit mangele.
Hierzu ist festzustellen, dass der Gerichtshof über ausreichende Informationen verfügt, um eine sachdienliche Antwort auf die Vorlagefragen geben zu können, auch wenn keine Angaben zur Art und etwaigen Entwicklung der Krankheit der Klägerin vorliegen.
Der Vorlageentscheidung ist nämlich zu entnehmen, dass der Klägerin, die krankgeschrieben und nicht in der Lage war, kurzfristig ihre Berufstätigkeit wieder aufzunehmen, nach Ansicht des vorlegenden Gerichts allein deshalb gekündigt worden war, weil sie krankgeschrieben war. Aus dieser Entscheidung geht auch hervor, dass das vorlegende Gericht einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Krankheit und Behinderung annimmt und meint, dass ein Arbeitnehmer in der Lage der Klägerin auf der Grundlage des Verbotes der Diskriminierung wegen einer Behinderung geschützt werden müsse.
Die in erster Linie gestellte Frage betrifft insbesondere die Auslegung des Begriffes „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78. Die Auslegung dieses Begriffes durch den Gerichtshof soll dem vorlegenden Gericht die Prüfung ermöglichen, ob die Klägerin zum Zeitpunkt ihrer Kündigung aufgrund ihrer Krankheit behindert im Sinne der Richtlinie war und deswegen unter den Schutz des Artikels 3 Absatz 1 Buchstabe c dieser Richtlinie fiel.
Die hilfsweise gestellte Frage bezieht sich auf Krankheit als „Identitätsmerkmal“ und betrifft daher Krankheiten aller Art.
Nach Ansicht der Beklagten ist das Vorabentscheidungsersuchen unzulässig, weil die spanischen Gerichte, insbesondere das Tribunal Supremo, in der Vergangenheit unter Berücksichtigung der Gemeinschaftsregelung bereits entschieden hätten, dass die Kündigung eines krankgeschriebenen Arbeitnehmers als solche keine Diskriminierung darstelle. Der Umstand, dass ein nationales Gericht eine Gemeinschaftsregelung bereits ausgelegt hat, kann jedoch nicht zur Unzulässigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens führen.
Was das Argument der Beklagten angeht, es sei davon auszugehen, dass sie der Klägerin unabhängig von der krankheitsbedingten Arbeitsunterbrechung gekündigt habe, weil ihre Dienste zu diesem Zeitpunkt nicht mehr benötigt worden seien, so ist daran zu erinnern, dass in einem Verfahren nach Artikel 234 EG, der auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, die Beurteilung des Sachverhalts in die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts fällt. Ebenso hat nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und für die zu erlassende gerichtliche Entscheidung die Verantwortung trägt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Gemeinschaftsrechts betreffen (vgl. insbesondere Urteile vom 25. Februar 2003 in der Rechtssache C‑326/00, IKA, Slg. 2003, I‑1703, Randnr. 27, und vom 12. April 2005 in der Rechtssache C‑145/03, Keller, Slg. 2005, I‑2529, Randnr. 33).
Der Gerichtshof hat jedoch auch darauf hingewiesen, dass es ihm in Ausnahmefällen obliegt, zur Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit die Umstände zu untersuchen, unter denen er von dem innerstaatlichen Gericht angerufen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 1981 in der Rechtssache 244/80, Foglia, Slg. 1981, 3045, Randnr. 21). Er kann die Entscheidung über die Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Urteile vom 13. März 2001 in der Rechtssache C‑379/98, PreussenElektra, Slg. 2001, I‑2099, Randnr. 39, und vom 19. Februar 2002 in der Rechtssache C‑35/99, Arduino, Slg. 2002, I‑1529, Randnr. 25).
Da im vorliegenden Fall keine dieser Bedingungen erfüllt ist, ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der durch die Richtlinie 2000/78 zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen einer Behinderung geschaffene allgemeine Rahmen den Schutz einer Person gewährleistet, der von ihrem Arbeitgeber ausschließlich wegen Krankheit gekündigt worden ist.
Die Richtlinie 2000/78 gilt nach ihrem Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe c im Rahmen der auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten für alle Personen u. a. in Bezug auf die Entlassungsbedingungen.
In diesen Grenzen gilt der durch die Richtlinie 2000/78 zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen einer Behinderung geschaffene allgemeine Rahmen daher für Kündigungen.
Zur Beantwortung der Vorlagefrage ist erstens der Begriff „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 auszulegen und zweitens zu prüfen, inwieweit Menschen mit Behinderung durch die Richtlinie gegen Kündigungen geschützt sind.
Zum Begriff „Behinderung“
Der Begriff „Behinderung“ ist in der Richtlinie 2000/78 selbst nicht definiert. Für die Bestimmung dieses Begriffes verweist die Richtlinie auch nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten.
Aus den Erfordernissen der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts wie auch des Gleichheitsgrundsatzes ergibt sich jedoch, dass den Begriffen einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die für die Bestimmung ihres Sinnes und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, normalerweise in der gesamten Gemeinschaft eine autonome und einheitliche Auslegung zu geben ist, die unter Berücksichtigung des Zusammenhangs der Vorschrift und des mit der betreffenden Regelung verfolgten Zieles zu ermitteln ist (vgl. u. a. Urteile vom 18. Januar 1984 in der Rechtssache 327/82, Ekro, Slg. 1984, 107, Randnr. 11, und vom 9. März 2006 in der Rechtssache C‑323/03, Kommission/Spanien, Slg. 2006, I‑0000, Randnr. 32).
Wie aus Artikel 1 der Richtlinie 2000/78 hervorgeht, ist deren Zweck die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung von Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf aus einem der in diesem Artikel genannten Gründe, zu denen die Behinderung zählt.
Unter Berücksichtigung dieses Zieles ist der Begriff „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 gemäß der in Randnummer 40 dieses Urteils wiedergegebenen Regel autonom und einheitlich auszulegen.
Die Richtlinie 2000/78 soll Diskriminierungen bestimmter Art in Beschäftigung und Beruf bekämpfen. In diesem Zusammenhang ist der Begriff „Behinderung“ so zu verstehen, dass er eine Einschränkung erfasst, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist und die ein Hindernis für die Teilhabe des Betreffenden am Berufsleben bildet.
Mit der Verwendung des Begriffes „Behinderung“ in Artikel 1 dieser Richtlinie hat der Gesetzgeber jedoch bewusst ein Wort gewählt, das sich von dem der „Krankheit“ unterscheidet. Daher lassen sich die beiden Begriffe nicht schlicht und einfach einander gleichsetzen.
In der sechzehnten Begründungserwägung der Richtlinie 2000/78 heißt es: „Maßnahmen, die darauf abstellen, den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung am Arbeitsplatz Rechnung zu tragen, spielen eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung von Diskriminierungen wegen einer Behinderung.“ Die Bedeutung, die der Gemeinschaftsgesetzgeber Maßnahmen zur Einrichtung des Arbeitsplatzes nach Maßgabe der Behinderung beigemessen hat, zeigt, dass er an Fälle gedacht hat, in denen die Teilhabe am Berufsleben über einen langen Zeitraum eingeschränkt ist. Damit die Einschränkung unter den Begriff „Behinderung“ fällt, muss daher wahrscheinlich sein, dass sie von langer Dauer ist.
Die Richtlinie 2000/78 enthält keinen Hinweis darauf, dass Arbeitnehmer aufgrund des Verbotes der Diskriminierung wegen einer Behinderung in den Schutzbereich der Richtlinie fallen, sobald sich irgendeine Krankheit manifestiert.
Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass eine Person, der von ihrem Arbeitgeber ausschließlich wegen Krankheit gekündigt worden ist, nicht von dem durch die Richtlinie 2000/78 zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen einer Behinderung geschaffenen allgemeinen Rahmen erfasst wird.
Zum Schutz von Menschen mit Behinderung auf dem Gebiet der Kündigung
Eine Benachteiligung wegen einer Behinderung greift nur dann in den Schutzbereich der Richtlinie 2000/78 ein, wenn sie eine Diskriminierung im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 der Richtlinie darstellt.
Nach der siebzehnten Begründungserwägung der Richtlinie 2000/78 wird unbeschadet der Verpflichtung, für Menschen mit Behinderung angemessene Vorkehrungen zu treffen, nicht die Einstellung, der berufliche Aufstieg oder die Weiterbeschäftigung einer Person vorgeschrieben, wenn diese Person für die Erfüllung der wesentlichen Funktionen des Arbeitsplatzes nicht kompetent, fähig oder verfügbar ist.
Nach Artikel 5 der Richtlinie 2000/78 sind angemessene Vorkehrungen zu treffen, um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten. Nach dieser Bestimmung bedeutet das, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen ergreift, um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes und den beruflichen Aufstieg zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten.
Das Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung bei Entlassungen nach den Artikeln 2 Absatz 1 und 3 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie 2000/78 steht der Entlassung wegen einer Behinderung entgegen, die unter Berücksichtigung der Verpflichtung, angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung zu treffen, nicht dadurch gerechtfertigt ist, dass die betreffende Person für die Erfüllung der wesentlichen Funktionen ihres Arbeitsplatzes nicht kompetent, fähig oder verfügbar ist.
Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass
– eine Person, der von ihrem Arbeitgeber ausschließlich wegen Krankheit gekündigt worden ist, nicht von dem durch die Richtlinie 2000/78 zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen einer Behinderung geschaffenen allgemeinen Rahmen erfasst wird;
– das Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung bei Entlassungen nach den Artikeln 2 Absatz 1 und 3 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie 2000/78 der Entlassung wegen einer Behinderung entgegensteht, die unter Berücksichtigung der Verpflichtung, angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung zu treffen, nicht dadurch gerechtfertigt ist, dass die betreffende Person für die Erfüllung der wesentlichen Funktionen ihres Arbeitsplatzes nicht kompetent, fähig oder verfügbar ist.
Zur zweiten Frage
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Krankheit als ein weiterer Grund neben denen angesehen werden kann, derentwegen Personen zu diskriminieren nach der Richtlinie 2000/78 verboten ist.
Hierzu ist festzustellen, dass der EG-Vertrag keine Bestimmung enthält, die die Diskriminierung wegen einer Krankheit als solcher verbietet.
Artikel 13 EG und Artikel 137 EG in Verbindung mit Artikel 136 EG enthalten lediglich eine Regelung der Zuständigkeiten der Gemeinschaft. Im Übrigen betrifft Artikel 13 EG über die Diskriminierung wegen einer Behinderung hinaus nicht auch diejenige wegen einer Krankheit als solcher und kann daher keine Rechtsgrundlage für Maßnahmen des Rates zur Bekämpfung einer solchen Diskriminierung sein.
Zwar gehört zu den Grundrechten als integraler Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts u. a. das allgemeine Diskriminierungsverbot. Dieses ist für die Mitgliedstaaten somit verbindlich, wenn die im Ausgangsverfahren in Rede stehende innerstaatliche Situation in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Dezember 2002 in der Rechtssache C‑442/00, Rodríguez Caballero, Slg. 2002, I‑11915, Randnrn. 30 und 32, sowie vom 12. Juni 2003 in der Rechtssache C‑112/00, Schmidberger, Slg. 2003, I‑5659, Randnr. 75 und die angeführte Rechtsprechung). Daraus ergibt sich jedoch nicht, dass der Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 in entsprechender Anwendung über die Diskriminierungen wegen der in Artikel 1 dieser Richtlinie abschließend aufgezählten Gründe hinaus ausgedehnt werden darf.
Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Krankheit als solche nicht als ein weiterer Grund neben denen angesehen werden kann, derentwegen Personen zu diskriminieren nach der Richtlinie 2000/78 verboten ist.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Eine Person, der von ihrem Arbeitgeber ausschließlich wegen Krankheit gekündigt worden ist, wird nicht von dem durch die Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen einer Behinderung geschaffenen allgemeinen Rahmen erfasst.
2. Das Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung bei Entlassungen nach den Artikeln 2 Absatz 1 und 3 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie 2000/78 steht der Entlassung wegen einer Behinderung entgegen, die unter Berücksichtigung der Verpflichtung, angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung zu treffen, nicht dadurch gerechtfertigt ist, dass die betreffende Person für die Erfüllung der wesentlichen Funktionen ihres Arbeitsplatzes nicht kompetent, fähig oder verfügbar ist.
3. Krankheit als solche kann nicht als ein weiterer Grund neben denen angesehen werden, derentwegen Personen zu diskriminieren nach der Richtlinie 2000/78 verboten ist.
* Verfahrenssprache: Spanisch.
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