Innerörtliche Streupflicht
Gericht
LG Gera
Art der Entscheidung
Urteil
Datum
29. 07. 2005
Aktenzeichen
2 O 2235/03
Auszüge aus dem Sachverhalt:
Die Klägerin hat die beklagte Gemeinde auf Schadensersatz wegen einer von ihr angenommenen unfallursächlichen Verletzung der Streupflicht in Anspruch genommen. Sie hat behauptet, am Morgen des 22.1.2002 gegen 8.45 Uhr auf einer Straße mit dem Vorderrad ihres Fahrrades weggerutscht und gestürzt zu sein. Ursächlich hierfür sei eine Verletzung der Streupflicht durch die Beklagte gewesen, die sie deshalb hinsichtlich der ihr aus dem Sturz erwachsenen materiellen und immateriellen Schäden für ersatzpflichtig gehalten hat.
Die Beklagte hat das behauptete Unfallereignis bestritten und in Abrede gestellt, dass sie eine ihr obliegende Streupflicht verletzt habe. Weder habe allgemeine Straßenglätte geherrscht, noch habe eine Streupflicht bestanden. Die angeführte Unfallstelle liege auf einer Nebenstraße von untergeordneter Bedeutung, die wegen des nur mäßigen Gefälles auch nicht als gefährliche Straßenstelle einzustufen sei. Das LG hat über den Unfallhergang, die Verkehrsbedeutung der Straße, auf der sich die Unfallstelle befindet sowie wegen der witterungsbedingten Straßenverhältnisse am Unfall tag Beweis erhoben und sodann die Klage abgewiesen.
Auszüge aus den Gründen:
... Trotz des mithin feststehenden glättebedingten Fahrradsturzes der Klägerin haftet die Beklagte jedoch nicht für die Unfallfolgen aus Amtspflichtverletzung nach § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG i.V.m. §§ 9, 10 Abs. 1 und 49 Abs. 1,4 ThürStrG, sodass die zwischen den Parteien streitige Frage der Unfallkausalität des von der Klägerin geltend gemachten materiellen und immateriellen Schadens dahin stehen kann. Die Voraussetzungen, unter denen eine Pflicht der Beklagten bestanden hätte, den Unfallbereich zur Vermeidung bzw. Verhinderung einer Glatteisbildung zu bestreuen, sind nicht gegeben.
Nach der st. Rspr. des BGH und des Thüringer OLG besteht eine winterliche Räum- und Streupflicht innerhalb geschlossener Ortschaften lediglich an verkehrswichtigen und gefährlichen Straßenstellen, wobei die Streupflicht stets eine allgemeine Straßenglätte voraussetzt (BGHZ 31, 73; 40, 379; 112, 74; BGH MDR 1998, 402; OLG Jena NZV 2001, 87). Diese Voraussetzungen sind im Entscheidungsfall nicht erfüllt.
Das Merkmal der Verkehrswichtigkeit erfüllen regelmäßig nur verkehrsreiche Durchgangsstraßen, Ortsdurchfahrten von Bundesstraßen und städtische Hauptverkehrsstraßen (BGH a.a.O., OLG Jena a.a.O.). Diesen Kriterien genügt die H-L-Straße in ihrem hier streitrelevanten Abschnitt nicht.
Zwar folgt aus den Feststellungen des Sachverständigen N, dass es sich bei der H-L-Straße entgegen der nach Bekunden des Zeugen P von der Beklagten für den Winterdienst vorgenommenen Straßeneinteilung nicht um eine bloße Anliegerstraße handelt. Der Sachverständige hat vielmehr nachvollziehbar und plausibel dargelegt, dass 63,9 % des von ihm anlässlich seiner Verkehrszählung festgestellten Verkehrsaufkommens dem Durchgangsverkehr zuzuordnen ist. Nach seinen Feststellungen kann nur 36,1 % des Verkehrsaufkommens dem Anliegerverkehr zugeordnet werden, sodass im Ergebnis von einer nahezu ausschließlich von Anwohnern und deren Besuchern benutzten Straße nicht ausgegangen werden kann.
Auch wenn es sich mithin bei der H-L-Straße nicht um eine reine Anliegerstraße handelt, kommt ihr im Ergebnis jedoch nicht die Bedeutung einer verkehrsreichen Durchgangsstraße oder einer städtischen Hauptverkehrsstraße zu. Nur unter diesen Maß gaben kommt eine Verkehrsbedeutung im haftungsbegründenden Sinne überhaupt in Betracht, nachdem außer Streit steht, dass es sich bei der H-L-Straße nicht um eine Bundesstraße handelt. Nach den anlässlich der von dem Sachverständigen durchgeführten Verkehrszählung gewonnenen Ergebnissen beträgt das Verkehrsaufkommen in dem streitrelevanten Abschnitt der H-L-Straße im Schnitt 287 Fahrzeuge pro Stunde. Auf diesen Stundendurchschnitt entfallen auf den Durchgangsverkehr 63,9 %, sodass von einem durchschnittlichen stündlichen Durchgangsverkehr von rund 183 Fahrzeugen auszugehen ist. Dieser Durchschnittswert kann unter Berücksichtigung der maßgebenden Umstände des Entscheidungsfalles nicht als verkehrsreich im haftungsrechtlichen Sinne verstanden werden. Insoweit gilt es zu berücksichtigen, dass es sich bei der Beklagten nicht um eine Kleinstadt mit eher mäßigem Verkehrsaufkommen, sondern vielmehr um eine der größten Städte des Landes Thüringen handelt, die zudem als Universitätsstadt durch einen lebhaften Fahrzeugverkehr geprägt ist. Bei dieser gerichts- und allgemein bekannten Tatsache kann das vom Sachverständigen ermittelte durchschnittliche Durchgangsverkehrsaufkommen nicht als verkehrsreich bewertet werden, was der aus den Feststellungen des Sachverständigen folgende Minutendurchschnittswert anschaulich vor Augen führt. Bei einem stündlichen Durchschnittswert für den Durchgangsverkehr von 183 Fahrzeugen ergibt sich ein Minutendurchschnittswert von 1,5 Fahrzeugen. Hieraus folgt, dass ein stetiger Durchgangsverkehrsfluss nicht gegeben ist. Ein solcher wäre jedoch Voraussetzung, um eine Straße in einer größeren Universitätsstadt mit lebhaftem Verkehrsaufkommen als verkehrsreiche Durchgangsstraße im haftungsrechtlichen Sinne einordnen zu können. In die haftungsrechtliche Bewertung einer Straße hat nämlich das Postulat mit einzufließen, dass die Räum- und Streupflicht unter dem Vorbehalt des Zumutbaren steht, wobei es auf die Leistungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen ankommt (BGHZ 112, 74; BGH MDR 1998,402; OLG Jena NZV 2002, 319; OLG Jena NZV 200 I, 87). Angesichts des allgemein bekannten Umstandes der angespannten Haushaltslagen der Kommunen und unter weiterer Berücksichtigung des von dem Zeugen P anschaulich und nachvollziehbar geschilderten Sachverhalts, dass die Beklagte im Winterdienst zunächst und vordringlich die Bundesstraßen und die Straßen mit Busverkehrsaufkommen beraumt und streut, wobei ihr selbst deren Gefahrloshaltung unter Einsatz aller verfügbaren Kapazitäten nicht immer gelingt, kann dem streitrelevanten Abschnitt der H-L-Straße, der nach dem glaubhaften Bekunden des Zeugen F nicht von Bussen angefahren wird, unter dem Gesichtspunkt des Verkehrsaufkommens keine haftungsbegründende Bedeutung beigemessen werden.
Auch als gefährlich im haftungsrechtlichen Sinne kann der streitrelevante Abschnitt der H-L-Straße nicht eingestuft werden. Grundsätzlich liegt eine gefährliche Straßenstelle nur dort vor, wo unvermutete Gefahren auftreten können, die auch bei einer den winterlichen Bedingungen angepassten Fahrweise nicht beherrschbar sind. Die höchst- und obergerichtliche Rspr. nimmt daher eine Gefährlichkeit im haftungsrechtlichen Sinne zum Beispiel bei starken Gefällstrecken an (BGHZ 112,74; OLG Jena NZV 2001,87 jeweils m.w.N.).
Von einer bei einer sorgfältigen, winterlichen Bedingungen angepassten Fahrweise nicht beherrschbaren Gefahrenstelle kann nach den in Augenschein genommenen Lichtbildern jedoch nicht ausgegangen werden. Das hieraus ersichtliche Gefälle der H-L-Stelle ist nicht derartig stark und steil ausgeprägt, dass es eine Bewertung als nicht mehr beherrschbare Gefahrenstelle zulässt. Vielmehr folgt aus den Lichtbildern - wie es auch der Zeuge B bekundet hat -, dass das Gefälle zunächst leicht beginnt und dann ansteigt, was ein gefahrloses Befahren der Straße auch bei winterlichen Verhältnissen unter frühzeitigem Bremsen und Verringern der Geschwindigkeit sowie nachfolgender weiterer Bremsbereitschaft möglich erscheinen lässt.
Schließlich und insbesondere fehlt es im Entscheidungsfall an der Haftungsvoraussetzung einer am Morgen des 22.1.2002 vorherrschenden allgemeinen Straßenglätte. In diesem Sinne hat weder der Unfallaugenzeuge W, noch der den Unfall aufnehmende Zeuge PHM B ausgesagt. Vielmehr haben beide übereinstimmend bekundet, in der Umgebung der Unfallstelle sei es nicht vereist und glatt gewesen. Lediglich die Unfallstelle selbst und deren unmittelbare Nähe sei überfroren gewesen, wobei der Zeuge W diesen gleichfalls partiell vereisten Umgebungsbereich auf eine Strecke von etwa 100 m nach oben und eine solche von etwa 5 bis 6 m nach unten begrenzt hat. Seiner Aussage nach war weder der weitere untere Bereich der H-L-Straße, noch der unterhalb liegende Kornblumenweg glatt und vereist. Hiermit in Einklang stehend hat der Zeuge B bekundet, bei seiner Anfahrt zur Unfallstelle weder auf der Tazendpromenade, noch auf dem ersten Stück der H-L-Straße Glatteis bemerkt zu haben. Anlass, diese übereinstimmenden und jeweils anschaulich und widerspruchsfrei vorgetragenen und damit bereits jeweils für sich betrachtet glaubhaften Bekundungen der beiden neutralen Zeugen W und B zu bezweifeln, besteht nicht. Die Bekundungen der Zeugen Wund B zu den Straßenverhältnissen am Unfallmorgen werden gestützt durch die Aussage des Zeugen P. Dieser hat ausgesagt, nach dem Winterdienstbuch der Beklagten hätten am 22.1.2002 im Allgemeinen keine winterlichen Straßenverhältnisse mehr geherrscht. Eine allgemeine Glättebildung habe an diesem Tag nicht bestanden, weshalb sich der Winterdienst der Beklagten auf Kontrollfahrten beschränkt habe. Soweit die Zeugen Mund S von einer partiellen großflächigen Eisesglätte in dem Wohngebiet R bekundet haben, kann hieraus nicht auf eine am Morgen des 22.1.2002 vorherrschende allgemeine Straßenglätte geschlossen werden. Anders als die Zeugen W und B, die zu keiner der bei den Prozessparteien in einem besonderen Näheverhältnis stehen, handelt es sich bei den Zeugen M und S um Arbeitskollegen der Klägerin. Erscheint demzufolge allenfalls bei den beiden letztgenannten Zeugen ein die Glaubhaftigkeit der Bekundungen erschütterndes Bestreben, zu Gunsten einer der beiden Prozessparteien aussagen zu wollen, denkbar, stehen die Aussagen der fünf Zeugen zu den Straßenverhältnissen am Morgen des 22.1.2002 bei genauerer Betrachtung nur scheinbar im Widerspruch zueinander. Die von den Zeugen M und S als großflächig vereist beschriebenen Straßenstellen befinden sich nämlich etwa 0,5 bis 3 km von der Unfallörtlichkeit entfernt. Auch aus den Bekundungen der Zeugen M und S kann mithin eine die nähere Umgebung der Unfallörtlichkeit prägende allgemeine Straßenglätte nicht entnommen werden. Vielmehr hat es insoweit auf Grund der glaubhaften Aussagen der Zeugen Wund B dabei zu verbleiben, dass am Unfallmorgen lediglich ein Bereich von etwa 100 m um die Unfallstelle selbst vereist war. Schließlich besteht auch zwischen dem Bekunden des Zeugen P, am 22.1.2002 habe insgesamt in J keine allgemeine Straßenglätte (mehr) geherrscht, und den Schilderungen der Zeugen M und S, am Morgen des 22.1.2002 seien Straßenstellen des Wohngebietes Ringwiese zwar nicht durchgängig, aber partiell-großflächig überfroren gewesen, kein unauflösbarer Widerspruch. Selbst wenn tatsächlich großflächige Überfrierungen im Wohngebiet Ringwiese zu verzeichnen waren, lässt dies den Schluss auf eine in J insgesamt bestandene allgemeine Straßenglätte nicht zu. Im Ergebnis der Zeugeneinvernahme kann somit weder eine die nähere Umgebung der Unfallstelle prägende, noch eine im gesamten Stadtgebiet bestandene allgemeine Straßenglätte festgestellt werden.
Hat es nach alledem am Morgen des 22.1.2002 an einer Streupflicht der Beklagten gefehlt, unterliegt die aus diesem Grunde unbegründete Klage der Abweisung.
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