Unfallversicherung: Ärtztliche Feststellung der Invalidität
Gericht
BGH
Art der Entscheidung
Urteil
Datum
30. 11. 2005
Aktenzeichen
IV ZR 154/04
Der Versicherer kann sich auch dann ohne Rechtsmissbrauch auf das Fehlen einer fristgerechten ärztlichen Feststellung unfallbedingter Invalidität berufen, wenn er den Versicherungsnehmer nicht rechtzeitig vor Ablauf der Frist für die ärztliche Invaliditätsfeststellung auf deren Fehlen hingewiesen hat, weil dem Versicherer bis zu diesem Zeitpunkt keine greifbaren Anhaltspunkte dafür vorgelegen haben, dass ein unfallbedingter Dauerschaden nahe liege.
Eine im Einzelfall gebotene Belehrung entfällt nicht deshalb, weil der Versicherungsnehmer anwaltlich beraten ist.
Tatbestand:
Der Kläger verlangt von der Beklagten eine Invaliditätsentschädigung
aufgrund eines Verkehrsunfalls vom 4. November 1999. Er hat mit
deren Rechtsvorgängerin (im Folgenden: Beklagten) eine Unfallversicherung
abgeschlossen, der die Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen
(AUB 88, vgl. VerBAV 1987, 417) zugrunde liegen; zusätzlich hat der
Kläger eine Insassenunfallversicherung nach Maßgabe der Allgemeinen
Bedingungen für die Kraftfahrtversicherung (AKB). Beide Versicherungen
setzen für den Anspruch auf eine Leistung wegen dauernder Beeinträchtigung
der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit u.a. voraus,
dass die Invalidität innerhalb von 15 Monaten nach dem Unfall ärztlich
festgestellt worden ist (§ 7 I (1) Satz 3 AUB 88; § 20 I Nr. 1 Satz 3 AKB).
Die Beklagte hat mit Schreiben vom 4. Juli 2000 die Deckung abgelehnt,
weil der Unfall auf einer Kreislaufschwäche des seinerzeit
71 Jahre alten Klägers beruhe und damit auf einer den Versicherungsschutz
nach § 2 I (1) AUB 88 und § 19 Nr. 1 AKB ausschließenden Bewusstseinsstörung.
Der Kläger behauptet, die Kreislaufschwäche sei
plötzlich aufgetreten und falle nicht unter die angeführten Ausschlusstatbestände.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht
hat die Abweisung durch Teilurteil bestätigt, soweit der Kläger u.a. die
Zahlung einer Invaliditätsentschädigung von 71.580,86 € verlangt. Dagegen
richtet sich die Revision des Klägers.
Entscheidungsgründe:
Die Revision bleibt ohne Erfolg.
I. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen, weil die Invalidität
nicht innerhalb von 15 Monaten seit dem Unfall ärztlich festgestellt
worden ist. Das bestreitet der Kläger nicht, macht aber geltend, die Beklagte
könne sich darauf nach Treu und Glauben nicht berufen. Dem ist
das Berufungsgericht nicht gefolgt. Es könne dahinstehen, ob sich eine
unfallbedingte Invalidität des Klägers aus Sicht der Beklagten aufgedrängt
habe. Da der Kläger bis zum Ablauf der 15-Monatsfrist bereits
anwaltlich vertreten gewesen sei und sein Anwalt sich schon mit Schreiben
vom 23. Oktober 2000 bei der Beklagten gemeldet habe, habe diese
darauf vertrauen dürfen, dass der Anwalt den Kläger auf die am
4. Februar 2001 ablaufende 15-Monatsfrist hinweisen werde. Die auf andere
Gründe gestützte Ablehnung der Leistungspflicht durch Schreiben
der Beklagten vom 4. Juli 2000 ändere nichts daran, dass die fristgerechte
ärztliche Feststellung eines unfallbedingten Dauerschadens weiterhin
Anspruchsvoraussetzung bleibe. Der Kläger habe auch die (von
ihm erfüllte) Forderung der Beklagten, die Ärzte von der Schweigepflicht
zu entbinden, nicht dahin verstehen können, dass sich die Beklagte
selbst um die erforderliche ärztliche Feststellung der Invalidität kümmern
werde.
II. Diese Würdigung des Berufungsgerichts ist nicht frei von
Rechtsfehlern; sein Urteil ist im Ergebnis aber richtig.
1. Die Ansicht der Revision, nach einer endgültigen Leistungsablehnung
des Versicherers komme es auf die Einhaltung der Frist für die
ärztliche Invaliditätsfeststellung nicht mehr an, insbesondere wenn der
Versicherungsnehmer wie hier zugleich auf den Weg der gerichtlichen
Geltendmachung seiner Ansprüche gemäß § 12 Abs. 3 VVG verwiesen
worden ist, trifft nicht zu. Das Erfordernis fristgerechter ärztlicher Feststellung
der Invalidität ist eine Anspruchsvoraussetzung, deren Nichtvorliegen
nicht entschuldigt werden kann (BGHZ 137, 174, 177; 162, 210,
215 = Urteil vom 23. Februar 2005 - IV ZR 273/03 - VersR 2005, 639 unter
II 3 a). Auch eine Leistungsablehnung ändert nichts daran, dass der
Anspruch des Versicherungsnehmers nicht entsteht, wenn Invalidität
nicht fristgerecht ärztlich festgestellt wird (Senat, Beschluss vom
23. Oktober 2002 - IV ZR 154/02 - VersR 2002, 1578 unter 3).
2. Indessen kann sich das Berufen des Versicherers auf den Ablauf
der Frist zur ärztlichen Feststellung im Einzelfall als rechtsmissbräuchlich
erweisen, wie der Senat in seinem Urteil vom 23. Februar
2005 klargestellt hat (aaO unter II 4). Das ist etwa dann anzunehmen,
wenn dem Versicherer ein Belehrungsbedarf des Versicherungsnehmers
hinsichtlich der Rechtsfolgen der Fristversäumnis deutlich wird, er aber
gleichwohl eine solche Belehrung unterlässt. Davon kann auszugehen
sein, wenn der Versicherte Invaliditätsansprüche rechtzeitig geltend
macht, seine Angaben oder die von ihm vorgelegten ärztlichen Atteste
den Eintritt eines Dauerschadens nahe legen, die erforderliche ärztliche
Feststellung der Invalidität aber noch fehlt. Gleiches kommt in Betracht,
wenn der Versicherer nach Geltendmachen von Invalidität von sich aus
noch innerhalb der Frist zur ärztlichen Feststellung ein ärztliches Gutachten
einholt, ohne den Versicherungsnehmer darauf hinzuweisen,
dass er unbeschadet dessen selbst für eine fristgerechte ärztliche Feststellung
der Invalidität zu sorgen habe.
a) Diese, sich aus Treu und Glauben ergebenden Nebenpflichten
des Versicherers entfallen - entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts
- nicht deshalb, weil der Versicherungsnehmer schon vor Fristablauf
anwaltlich beraten wird. Unabhängig von der Sorgfaltspflicht, die den
Anwalt trifft, bleibt der Versicherer seinerseits zur Belehrung verpflichtet,
wenn er Anlass hat anzunehmen, dass der Versicherungsnehmer die
Frist für die ärztliche Feststellung der Invalidität übersehen oder deren
Rechtsfolgen verkannt haben könnte.
b) Nicht zu beanstanden ist dagegen die Ansicht des Berufungsgerichts,
auch wenn der Versicherer wie hier seine Leistungspflicht aus
einem Gesichtspunkt abgelehnt habe, der in keinem Zusammenhang mit
der Einhaltung der Frist für die ärztliche Invaliditätsfeststellung steht, berechtige
dies den Versicherungsnehmer nicht zu der Annahme, dass sich
der Versicherer auf das Fehlen einer fristgerechten Feststellung nicht
berufen werde. Im vorliegenden Fall war die insoweit nach den Bedingungen
einzuhaltende Frist von 15 Monaten im Zeitpunkt der Ablehnung
des Versicherungsschutzes noch längst nicht abgelaufen. Schon deshalb
hatte die Beklagte keinen Anlass, zugleich mit ihrer Leistungsablehnung
auf den Ablauf dieser Frist hinzuweisen. Ungeachtet dessen lässt sich
einer Leistungsablehnung im Allgemeinen nicht entnehmen, dass der
Versicherer den geltend gemachten Anspruch allein aus den dort angegebenen
Gründen für nicht gegeben hält. Zu der Frage, wie der Anspruch
zu beurteilen wäre, wenn sich die in der Leistungsablehnung angegebenen
Gründe nicht als zutreffend erweisen sollten, hat sich die Beklagte
in ihrer Leistungsablehnung hier ersichtlich nicht geäußert. Dazu
war sie auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und
Glauben (§ 242 BGB) nicht verpflichtet.
c) Der Senat folgt dem Berufungsgericht ferner in der Auffassung,
dass die Entbindung der Ärzte von der Schweigepflicht für sich genommen
den Kläger noch nicht zu der Annahme berechtigt habe, die Beklagte
werde selbst für die erforderliche ärztliche Feststellung der geltend
gemachten Invalidität sorgen. Die Obliegenheit des Versicherungsnehmers,
die ihn behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden
(§ 9 V AUB 88), dient dem Interesse des Versicherers an einer Überprüfung
der Behauptungen des Versicherungsnehmers (vgl. zur Untersuchungsobliegenheit Senatsurteil vom 16. Juli 2003 - IV ZR 310/02 -
VersR 2003, 1165 unter B I 1 a). Das Berufen des Versicherers auf das
Fehlen einer fristgerechten ärztlichen Invaliditätsfeststellung ist erst
dann treuwidrig, wenn sich aus den eingeholten Auskünften greifbare
Anhaltspunkte für den vom Versicherungsnehmer geltend gemachten
Dauerschaden ergeben oder wenn der Versicherer von sich aus ein umfassendes
Gutachten auch zu Dauerfolgen des Unfalls einholt.
d) Daran fehlt es hier. Nach den der Beklagten bis zum Ablauf der
15-Monatsfrist für die ärztliche Invaliditätsfeststellung zugänglichen ärztlichen
Attesten und schriftlichen Auskünften lag der Eintritt eines Dauerschadens
als Unfallfolge beim Kläger nicht nahe. Wie das Landgericht in
seinem Urteil näher ausgeführt hat, ergaben die genannten Unterlagen
vielmehr im Wesentlichen nur Frakturen des Oberschenkels und des oberen
Sprunggelenks links sowie ein subakutes Subduralhämatom. Dass
diese Verletzungen etwa nicht vollständig ausheilen könnten, sondern
den Kläger voraussichtlich auf Dauer gesundheitlich beeinträchtigen
würden, war den schriftlichen Angaben der Ärzte nicht zu entnehmen;
das musste sich nach der Art der Verletzungen auch nicht aufdrängen.
Zwar hat der Hausarzt des Klägers als Zeuge vor dem Landgericht ausgesagt,
für ihn sei von vornherein absehbar gewesen, dass ein Dauerschaden
verbleibe. Darauf kommt es aber nicht an. Von der Beklagten
und deren Mitarbeitern können ärztliche Fachkenntnisse und Erfahrungen
grundsätzlich nicht verlangt werden. Legt man die ärztlichen Stellungnahmen
zugrunde, gab es hier für die Beklagte bei vernünftiger Betrachtung
keinen greifbaren Anhaltspunkt dafür, dass der Kläger einen
Dauerschaden davontragen werde. Bei einer solchen Sachlage verhält
sich ein Versicherer nicht rechtsmissbräuchlich, wenn er den Versiche-
rungsnehmer, der gleichwohl den Eintritt eines Dauerschadens geltend
macht, nicht auf den drohenden Ablauf der Frist für die ärztliche Invaliditätsfeststellung
hinweist.
Die Klage ist daher im Ergebnis mit Recht abgewiesen worden.
Seiffert
Dr. Schlichting
Wendt
Felsch
Dr. Franke
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