Betriebsübergang - Fortgeltung und Ablösung von Tarifverträgen

Gericht

EuGH


Art der Entscheidung

Urteil


Datum

09. 03. 2006


Aktenzeichen

C‑499/04


Entscheidungsgründe


Urteil

1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 77/187/EWG des Rates vom 14. Februar 1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen (ABl. L 61, S. 26, im Folgenden: Richtlinie).

2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Hans Werhof (im Folgenden: Kläger) und der Freeway Traffic Systems GmbH & Co. KG (im Folgenden: Beklagte) im Hinblick auf die Anwendung eines Tarifvertrags.


Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

3
Artikel 3 der Richtlinie bestimmt:

„(1) Die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs im Sinne des Artikels 1 Absatz 1 bestehenden Arbeitsvertrag oder Arbeitsverhältnis gehen auf Grund des Übergangs auf den Erwerber über.

(2) Nach dem Übergang im Sinne des Artikels 1 Absatz 1 erhält der Erwerber die in einem Kollektivvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen bis zu der Kündigung oder dem Ablauf des Kollektivvertrags bzw. bis zum Inkrafttreten oder bis zu der Anwendung eines anderen Kollektivvertrags in dem gleichen Maße aufrecht, wie sie in dem Kollektivvertrag für den Veräußerer vorgesehen waren.

Die Mitgliedstaaten können den Zeitraum der Aufrechterhaltung der Arbeitsbedingungen begrenzen, sofern dieser nicht weniger als ein Jahr beträgt.“

4
Diese Bestimmungen wurden bei einer Änderung durch die Richtlinie 98/50/EG des Rates vom 29. Juni 1998 zur Änderung der Richtlinie 77/187 (ABl. L 201, S. 88), deren Umsetzungsfrist am 17. Juli 2001 abgelaufen ist, im Wesentlichen beibehalten.


Nationales Recht

5
Artikel 3 der Richtlinie wurde durch § 613a Absatz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) in deutsches Recht umgesetzt; dessen Sätze 1 und 2 lauten:

„Geht ein Betrieb oder Betriebsteil durch Rechtsgeschäft auf einen anderen Inhaber über, so tritt dieser in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein. Sind diese Rechte und Pflichten durch Rechtsnormen eines Tarifvertrags oder durch eine Betriebsvereinbarung geregelt, so werden sie Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer und dürfen nicht vor Ablauf eines Jahres nach dem Zeitpunkt des Übergangs zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert werden.“


Das Ausgangsverfahren und die Vorabentscheidungsfragen

6
Der Kläger wurde zum 1. April 1985 von der DUEWAG AG eingestellt. Nach dem Arbeitsvertrag galten für das Arbeitsverhältnis die Bestimmungen des Manteltarifvertrags und des jeweils gültigen Lohnabkommens für Arbeiter der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens.

7
Dieser Tarifvertrag war zwischen dem Arbeitgeberverband der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens (im Folgenden: AGV) und der Industriegewerkschaft Metall (im Folgenden: IG Metall) geschlossen worden. Zur Zeit der Einstellung war die DUEWAG AG Mitglied des AGV.

8
Am 1. April 1999 wurde diese Gesellschaft in die Siemens DUEWAG GmbH umgewandelt. Am 1. Oktober 1999 veräußerte diese den Teil ihres Betriebes, in dem der Kläger beschäftigt war, an die Beklagte. Die Beklagte ist nicht Mitglied eines Arbeitgeberverbandes, der Tarifverträge abschließt.

9
In einer Betriebsvereinbarung vom 2. August 2001 vereinbarte die Beklagte mit dem Betriebsrat ein Raster über die Eingruppierung der Arbeitnehmer in Anlehnung an die Bestimmung des genannten Tarifvertrags. Am 13. August 2001 schloss die Beklagte eine weitere Betriebsvereinbarung ab, die eine einmalige Gehaltszahlung vorsah.

10
Mit Schreiben vom selben Tag erklärte der Kläger, gegen Zahlung dieses Einmalbetrags verzichte er gegenüber der Beklagten unwiderruflich auf alle eventuell bestehenden individuellen Ansprüche aus Tariferhöhungen, die sich auf den Zeitraum vor Inkrafttreten dieser Vereinbarung beziehen. Am 29. August 2001 schloss die Beklagte mit dem Kläger eine Zusatzvereinbarung zum Arbeitsvertrag, nach der er die Grundvergütung nach der Lohn-/Tarifgruppe 8 und eine Leistungszulage erhält.

11
Am 23. Mai 2002 schlossen die IG Metall und der AGV einen neuen Tarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens ab, der eine Erhöhung der Löhne um 2,6 % und eine weitere Leistung ab 1. Juni 2003 vorsah.

12
Der Kläger erhob Klage beim Arbeitsgericht Wuppertal und beantragte, die Beklagte zu verurteilen, an ihn ab dem 1. Juni 2003 den Differenzbetrag zwischen der Grundvergütung und dem im Tarifvertrag vom 23. Mai 2002 vorgesehenen Betrag sowie die vereinbarte weitere tarifliche Leistung zu zahlen. Diese Klage wurde mit Urteil vom 7. Januar 2004 abgewiesen.

13
Der Kläger legte Berufung beim Landesarbeitsgericht Düsseldorf ein. Dieses Gericht ist der Ansicht, dass § 613a Absatz 1 BGB nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts keine Grundlage für den Vergütungsanspruch des Klägers enthält. Da das Landesarbeitsgericht Düsseldorf jedoch Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Rechtsprechung mit Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 98/50 hat, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

  1. Ist es mit Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 98/50 zur Änderung der Richtlinie 77/187 vereinbar, wenn der nicht tarifgebundene Betriebserwerber an eine Vereinbarung zwischen dem tarifgebundenen Betriebsveräußerer und dem Arbeitnehmer, nach der die jeweiligen Lohntarifverträge, an die der Betriebsveräußerer gebunden ist, Anwendung finden, in der Weise gebunden ist, dass der zur Zeit des Betriebsübergangs gültige Lohntarifvertrag Anwendung findet, nicht aber später in Kraft tretende Lohntarifverträge Anwendung finden?

  2. Falls dies zu verneinen ist:

    Ist es mit Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 98/50 vereinbar, wenn der nicht tarifgebundene Betriebserwerber nur so lange an nach dem Zeitpunkt des Betriebsübergangs in Kraft getretene Lohntarifverträge gebunden ist, so lange eine solche Bindung für den Betriebsveräußerer besteht?


Zu den Vorabentscheidungsfragen

Vorbemerkung

14
Vorab ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht Fragen nach der Auslegung des Artikels 3 Absatz 1 der Richtlinie in der durch die Richtlinie 98/50 geänderten Fassung stellt.

15
Das Ausgangsverfahren betrifft die Rechtsfolgen des Übergangs eines Betriebsteils am 1. Oktober 1999, d. h. zu einem Zeitpunkt, zu dem die Umsetzungsfrist für die Richtlinie 98/50 noch nicht abgelaufen war (vgl. u. a. Urteil vom 11. November 2004 in der Rechtssache C‑425/02, Delahaye, Slg. 2004, I‑10823, Randnr. 28).

16
Es ist daher nicht erforderlich, im Rahmen der vorgelegten Fragen der Auslegung der Richtlinie in ihrer durch die Richtlinie 98/50 geänderten Fassung nachzugehen.


Zur ersten Frage

17
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie im Fall eines Unternehmensübergangs und bei Bestehen eines Arbeitsvertrags, der auf einen Kollektivvertrag verweist, dessen Partei der Veräußerer, nicht aber der Erwerber ist, dahin auszulegen ist, dass der Erwerber durch Kollektivverträge, die dem zum Zeitpunkt dieses Übergangs geltenden Vertrag nachfolgen, nicht gebunden ist.

Erklärungen vor dem Gerichtshof

18
Der Kläger macht geltend, aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergebe sich, dass dann, wenn ein Individualarbeitsvertrag eine Klausel enthalte, die auf in einer bestimmten Branche geschlossene Kollektivverträge Bezug nehme, diese Klausel zwingend „dynamischen“ Charakter habe und gemäß Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie auf nach dem Zeitpunkt des Unternehmensübergangs geschlossene Kollektivverträge verweise (vgl. u. a. Urteile vom 14. September 2000 in der Rechtssache C‑343/98, Collino und Chiappero, Slg. 2000, I‑6659, Randnr. 53, und vom 6. November 2003 in der Rechtssache C‑4/01, Martin u. a., Slg. 2003, I‑12859, Randnrn. 29, 48 und 54). Im Übrigen ergebe sich diese Auslegung der Richtlinie aus deren Sinn und Zweck, die Beschäftigten beim Wechsel des Inhabers des Unternehmens zu schützen und insbesondere die Wahrung ihrer Ansprüche zu gewährleisten.

19
Die Beklagte und die deutsche Regierung sind demgegenüber der Auffassung, dass nur der Kollektivvertrag, der zum Zeitpunkt des Übergangs in Kraft gewesen sei, anwendbar sei. Andernfalls, d. h. wenn nach dem Zeitpunkt des Übergangs in Kraft tretende Kollektivverträge für Arbeitgeber gälten, die nicht an den Verhandlungen teilgenommen hätten, läge eine Behinderung der Vertragsfreiheit des Arbeitgebers vor, die einer Enteignung gleichkomme. Außerdem sei der Grundsatz der Vereinigungsfreiheit zu berücksichtigen, der das Recht des Arbeitgebers umfasse, nicht Mitglied einer Vereinigung oder eines Berufsverbandes zu sein. Schließlich sei aus dem Ziel der Richtlinie und dem Wortlaut ihres Artikels 3 Absatz 1 abzuleiten, dass nur die Rechte und Pflichten, die sich für den Veräußerer aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Vertrag ergäben, auf den Erwerber übergingen.

20
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften trägt vor, Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie, der sich auf die Wahrung der kollektivvertragsrechtlich erworbenen Ansprüche des Arbeitnehmers beziehe und der den Arbeitgeber verpflichte, das durch einen Kollektivvertrag geregelte Arbeitsverhältnis aufrechtzuerhalten, enthalte zwei im vorliegenden Fall anwendbare Bestimmungen.

21
Zum einen gelte entsprechend der „Gleichstellungsklausel“, die bewirke, dass die vom Veräußerer geschlossenen Kollektivverträge auf den Arbeitsvertrag anwendbar seien, die Verpflichtung des Erwerbers, dem Kläger weiterhin den individualvertraglich vereinbarten Lohn sowie die seinerzeit im Kollektivvertrag vorgesehenen weiteren Leistungen zu zahlen, nur „bis zu der Kündigung oder dem Ablauf“ dieses Vertrages. Die Kommission ist der Auffassung, dass der neue, am 23. Mai 2002 mit Wirkung ab 1. Juni 2003 geschlossene Tarifvertrag den Tarifvertrag ersetzt habe, der den Erwerber aufgrund des Übergangs gebunden habe, so dass dieser ab 1. Juni 2003 durch diesen Vertrag nicht mehr gebunden sei.

22
Zum anderen sei die Beklagte, da die in Artikel 3 Absatz 2 Unterabsatz 2 der Richtlinie vorgesehene Möglichkeit, den Zeitraum der Aufrechterhaltung der Arbeitsbedingungen zu begrenzen, durch § 613a Absatz 1 Satz 2 BGB in deutsches Recht umgesetzt worden sei, auch berechtigt gewesen, sich nach Ablauf eines Zeitraums von einem Jahr seit dem Übergang von ihrer Verpflichtung zur Beachtung des Tarifvertrags zu lösen.

Antwort des Gerichtshofes

23
Zunächst ist daran zu erinnern, dass ein Vertrag im Allgemeinen durch das Prinzip der Privatautonomie gekennzeichnet ist, wonach die Parteien frei darin sind, gegenseitige Verpflichtungen einzugehen. Nach diesem Prinzip gelten in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der die Beklagte nicht Mitglied einer Arbeitgeberorganisation und durch keinen Kollektivvertrag gebunden ist, die Rechte und Pflichten aus einem derartigen Vertrag für sie daher grundsätzlich nicht. Andernfalls handelte es sich, wie der Generalanwalt in Nummer 52 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, um einen Verstoß gegen den Grundsatz, dass Verträge zu Lasten Dritter unzulässig sind.

24
Im Rahmen eines Unternehmensübergangs und der Folgen, die er für die Arbeitsverhältnisse mit sich bringt, könnte sich jedoch eine schrankenlose Anwendung des genannten Grundsatzes nachteilig auf die Ansprüche auswirken, die dem Arbeitnehmer aufgrund seines Arbeitsvertrags und des Kollektivvertrags zustehen, dem zwar der Veräußerer des Betriebes, nicht aber dessen Erwerber angehört. Daher wollte der Gemeinschaftsgesetzgeber den Arbeitnehmern beim Übergang des Unternehmens einen besonderen Schutz garantieren, der diese Nachteile, die sich aus der Anwendung des genannten Grundsatzes ergeben könnten, verhindern soll.

25
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes soll die Richtlinie außerdem die Wahrung der Ansprüche der Arbeitnehmer bei einem Wechsel des Inhabers des Unternehmens dadurch gewährleisten, dass sie ihnen die Möglichkeit gibt, ihr Beschäftigungsverhältnis mit dem neuen Arbeitgeber zu eben den Bedingungen fortzusetzen, die mit dem Veräußerer vereinbart waren (vgl. u. a. Urteile vom 10. Februar 1988 in der Rechtssache 324/86, Daddy’s Dance Hall, Slg. 1988, 739, Randnr. 9, vom 25. Juli 1991 in der Rechtssache C‑362/89, d’Urso u. a., Slg. 1991, I‑4105, Randnr. 9, und vom 12. November 1998 in der Rechtssache C‑399/96, Europièces, Slg. 1998, I‑6965, Randnr. 37).

26
Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung sind die Bestimmungen der Richtlinie als zwingend in dem Sinne anzusehen, dass von ihnen nicht zum Nachteil der Arbeitnehmer abgewichen werden darf (vgl. genanntes Urteil Martin u. a., Randnr. 39). Infolgedessen gehen die Arbeitsverträge und Arbeitsverhältnisse, die zum Zeitpunkt des Übergangs eines Unternehmens zwischen dem Veräußerer und den in dem übertragenen Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmern bestehen, allein aufgrund des Übergangs von Rechts wegen vom Veräußerer auf den Erwerber über (vgl. in diesem Sinne Urteile d’Urso u. a., Randnr. 20, und vom 14. November 1996 in der Rechtssache C‑305/94, Rotsart de Hertaing, Slg. 1996, I‑5927, Randnr. 18).

27
Im vorliegenden Fall verwies der Arbeitsvertrag des Klägers hinsichtlich der Vergütung auf einen Tarifvertrag. Diese Klausel des Arbeitsvertrags wird von Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie erfasst. Damit gehen nach der Richtlinie die Rechte und Pflichten aus einem Kollektivvertrag, auf den der Arbeitsvertrag verweist, von Rechts wegen auf den Erwerber über, auch wenn dieser, wie im Ausgangsverfahren, keinem Kollektivvertrag angehört. Daher binden die Rechte und Pflichten aus einem Kollektivvertrag den Erwerber nach dem Betriebsübergang weiterhin.

28
Was die Auslegung des Artikels 3 Absatz 1 der Richtlinie betrifft, so kann eine Klausel, die auf einen Kollektivvertrag verweist, keine weiter gehende Bedeutung haben als dieser Kollektivvertrag. Daher ist Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie Rechnung zu tragen, der Beschränkungen des Grundsatzes der Anwendbarkeit des Kollektivvertrags enthält, auf den der Arbeitsvertrag verweist.

29
Zum einen werden die in diesem Kollektivvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen nur bis zu seiner Kündigung oder seinem Ablauf bzw. bis zum Inkrafttreten oder bis zu der Anwendung eines anderen Kollektivvertrags aufrechterhalten. Aus der Richtlinie ergibt sich somit nicht, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber den Erwerber durch andere Kollektivverträge als die zum Zeitpunkt des Übergangs geltenden binden und demnach verpflichten wollte, die Arbeitsbedingungen später durch die Anwendung eines neuen, nach dem Übergang geschlossenen Kollektivvertrags zu ändern. Das entspricht auch dem Ziel dieser Richtlinie, die nur bezweckt, die am Tag des Übergangs bestehenden Rechte und Pflichten der Arbeitnehmer zu wahren. Dagegen wollte die Richtlinie nicht bloße Erwartungen und somit hypothetische Vergünstigungen schützen, die sich aus zukünftigen Entwicklungen der Kollektivverträge ergeben könnten.

30
Zum anderen können die Mitgliedstaaten den Zeitraum der Aufrechterhaltung der Arbeitsbedingungen aus dem Kollektivvertrag begrenzen, sofern dieser nicht weniger als ein Jahr beträgt. Diese Beschränkung ist in gewisser Weise subsidiär, weil sie Anwendung findet, wenn keiner der erwähnten Fälle – Kündigung oder Ablauf des bestehenden Kollektivvertrags, Inkrafttreten oder auch Anwendung eines neuen Kollektivvertrags – binnen eines Jahres nach dem Übergang eintritt.

31
Außerdem können, auch wenn gemäß dem Ziel der Richtlinie die Interessen der von dem Übergang betroffenen Arbeitnehmer zu schützen sind, die Interessen des Erwerbers nicht unberücksichtigt bleiben, der in der Lage sein muss, die für die Fortsetzung seiner Tätigkeit erforderlichen Anpassungen vorzunehmen.

32
Hierzu ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes bei der Auslegung der Bestimmungen einer Richtlinie dem Grundsatz der Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung Rechnung zu tragen ist, der verlangt, dass das abgeleitete Gemeinschaftsrecht gemäß den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts ausgelegt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. April 2004 in der Rechtssache C‑1/02, Borgmann, Slg. 2004, I‑3219, Randnr. 30).

33
Die Vereinigungsfreiheit, die auch das Recht umfasst, einer Gewerkschaft nicht beizutreten (vgl. in diesem Sinne Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Sigurjónsson/Island vom 30. Juni 1993, Serie A Nr. 264, § 35, und Gustafsson/Schweden vom 25. April 1996, Reports of Judgements and Decisions 1996‑II, 637, § 45), ist in Artikel 11 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert und gehört zu den Grundrechten, die nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützt werden (vgl. Urteil vom 15. Dezember 1995 in der Rechtssache C‑415/93, Bosman, Slg. 1995, I‑4921, Randnr. 79), worauf Artikel 6 Absatz 2 EU hinweist (Urteil vom 6. März 2001 in der Rechtssache C‑274/99 P, Connolly/Kommission, Slg. 2001, I‑1611).

34
Würde die vom Kläger vertretene „dynamische“ Auslegung der in Randnummer 18 des vorliegenden Urteils erwähnten vertraglichen Verweisklausel vorgenommen, so bedeutete dies, dass künftige Kollektivverträge für den Erwerber gälten, der dem Kollektivvertrag nicht angehört, und dass sein Grundrecht der negativen Vereinigungsfreiheit beeinträchtigt werden könnte.

35
Dagegen erlaubt es die von der Beklagten und der deutschen Regierung vertretene „statische“ Auslegung dieser Klausel, zu vermeiden, dass der Erwerber des Betriebes, der dem Kollektivvertrag nicht angehört, durch die künftigen Entwicklungen dieses Vertrages gebunden wird. Sein Recht auf negative Vereinigungsfreiheit wird somit umfassend gewährleistet.

36
Daher kann der Kläger nicht geltend machen, dass eine Klausel in einem Individualarbeitsvertrag, die auf die in einer bestimmten Branche geschlossenen Tarifverträge verweist, zwingend „dynamischen“ Charakter habe und nach Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie auf die nach dem Zeitpunkt des Unternehmensübergangs geschlossenen Kollektivverträge verweise.

37
Nach alledem ist die erste Frage dahin zu beantworten, dass Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er nicht dem entgegensteht, dass der Erwerber, der nicht Partei eines den Veräußerer bindenden Kollektivvertrags ist, auf den der Arbeitsvertrag verweist, durch Kollektivverträge, die dem zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs geltenden nachfolgen, nicht gebunden ist.


Zur zweiten Frage

38
In Anbetracht der auf die erste Frage erteilten Antwort braucht die zweite Frage nicht beantwortet zu werden.


Kosten

39
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 77/187/EWG des Rates vom 14. Februar 1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen ist dahin auszulegen, dass er nicht dem entgegensteht, dass der Erwerber, der nicht Partei eines den Veräußerer bindenden Kollektivvertrags ist, auf den der Arbeitsvertrag verweist, durch Kollektivverträge, die dem zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs geltenden nachfolgen, nicht gebunden ist.

Unterschriften.

* Verfahrenssprache: Deutsch.

Rechtsgebiete

Arbeitsrecht