Haftung für eine HIV-Infektion durch die Verabreichung von Blutprodukten
Gericht
BGH
Art der Entscheidung
Urteil
Datum
14. 07. 2005
Aktenzeichen
VI ZR 179/04
Zur Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises für eine HIV-Infektion durch die Verabreichung von Blutprodukten (im Anschluß an BGHZ 114, 284).
Zur Dokumentationspflicht und zur sekundären Darlegungslast des Verwenders von Blutprodukten hinsichtlich der Chargennummer des verabreichten Produkts.
Ist eine Aufklärung über die Gefahr einer HIV-Infektion bei Verabreichung von Blutprodukten nicht möglich, ist der Patient jedenfalls nachträglich über diese Gefahr aufzuklären und ihm zu einem HIV-Test zu raten (nachträgliche Sicherungsaufklärung). d) Auch ein im Behandlungszeitpunkt noch nicht bekannter Ehepartner des Patienten ist in den Schutzbereich der Pflicht zur nachträglichen Sicherungsaufklärung über die Gefahr einer transfusionsassoziierten HIV-Infektion einbezogen.
Die Revision gegen das Urteil des 13. Zivilsenats des Oberlandesgerichts
Koblenz vom 7. Juni 2004 wird auf Kosten des Beklagten
zurückgewiesen.
Der Streithelfer trägt seine Kosten selbst.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin verlangt von dem Beklagten ein angemessenes Schmerzensgeld
von mindestens 127.823 € (250.000 DM) nebst Zinsen und die Feststellung
der Ersatzpflicht für zukünftige materielle Schäden wegen einer bei ihr
festgestellten HIV-Infektion.
Der Beklagte ist seit 1. Februar 1986 Träger des Krankenhauses W.,
das zuvor vom Streithelfer des Beklagten getragen worden war.
Die Klägerin ist seit 1988 mit M., einem ehemaligen Patienten des Beklagten,
bekannt und seit dem 11. August 1994 mit ihm verheiratet. Dieser erhielt
nach einem Motorradunfall am 29. Juni 1985 im Krankenhaus W. Frischblut
von drei Spendern sowie mehrere aus Blutspenden hergestellte Produkte
(Erythrozyten-Konzentrat, GFP, PPSB und Biseko). Er wurde nach seiner zunächst
bis 24. Dezember 1985 dauernden stationären Behandlung noch bis
9. Oktober 1987 mehrfach stationär im Krankenhaus W. behandelt.
Im Dezember 1997 wurden in einer Blutprobe von M. HIV-Antikörper
festgestellt. Im Januar 1998 stellte sich heraus, daß auch die Klägerin HIVinfiziert
ist. Sie erhält seit 1998 aus der Stiftung "Humanitäre Hilfe für durch
Blutprodukte HIV-infizierte Personen" eine Rente von 766,94 € (1.500 DM) monatlich.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin
hat das Berufungsgericht der Klage stattgegeben. Mit der vom Berufungsgericht
zugelassenen Revision erstreben der Beklagte und sein Streithelfer die
Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht bejaht einen Kausalzusammenhang zwischen der
HIV-Infektion der Klägerin und der Behandlung ihres Ehemanns mit Blutprodukten
im Jahre 1985. Es bestehe ein von dem Beklagten nicht entkräfteter
Beweis des ersten Anscheins dafür, daß der Ehemann der Klägerin damals mit
HIV infiziert worden sei und den Virus auf die Klägerin übertragen habe. Die
Eheleute hätten weder zu den HIV-gefährdeten Risikogruppen gehört noch seien
sie durch die Art ihrer Lebensführung einer (gesteigerten) Infektionsgefahr
ausgesetzt gewesen. Die Lebenserfahrung spreche dafür, daß die verabreichten
Blutprodukte als Infektionsquelle anzusehen seien. Außerdem sei davon
auszugehen, daß zumindest das verabreichte Blutprodukt PPSB der B. AG
HIV-kontaminiert gewesen sei. Da der Beklagte die Chargennummern des verwendeten
Produktes im Rechtsstreit nicht angegeben habe, könne die Klägerin
keine näheren Einzelheiten dazu vortragen, ob das PPSB auch aus Blut HIVinfizierter
Spender gewonnen worden sei und ob weitere transfusionsassoziierte
HIV-Infektionen Dritter bekannt geworden seien. Zu ihren Gunsten sei daher
von einer Kontaminierung des Produkts auszugehen.
Die Ärzte hätten die ihnen auch gegenüber der Klägerin obliegenden
Sorgfaltspflichten verletzt, weil sie trotz der vielen 1985 verabreichten Blutprodukte
bei keinem der zahlreichen späteren Krankenhausaufenthalte ihren
Ehemann auf die Möglichkeit einer HIV-Infektion hingewiesen und einen HIVTest
angeraten hätten. Das Risiko einer transfusionsassoziierten HIV-Infektion
sei Mitte 1985 hinreichend bekannt gewesen. Diese Hinweispflicht habe ihnen
auch im Interesse der Klägerin oblegen, denn die behandelnden Ärzte hätten
damit rechnen müssen, daß ihr Ehemann sich nach seiner Genesung eine
Partnerin suchen und heiraten werde. Der Wechsel in der Trägerschaft des
Krankenhauses sei unerheblich, da der Beklagte als neuer Träger bei Übernahme
des Krankenhauses alle Verbindlichkeiten aus dem Betrieb übernommen
habe.
II.
Die Revision des Beklagten und seines Streithelfers hat keinen Erfolg.
1. Ohne Rechtsfehler und von der Revision nicht angegriffen hat das Berufungsgericht
die Infizierung der Klägerin mit dem HIV-Virus als tatbestandliche
Gesundheitsverletzung im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB angesehen. Darunter
fällt jedes Hervorrufen eines von den normalen körperlichen Funktionen
nachteilig abweichenden Zustandes; unerheblich ist, ob Schmerzzustände auftreten,
ob eine tiefgreifende Veränderung der Befindlichkeit eingetreten ist (vgl.
Senatsurteil BGHZ 114, 284, 289 sowie BGHSt 36, 1, 6 f. und 36, 262, 265 - zu
HIV; BGHZ 8, 243, 246 und BGH, Urteil vom 14. Dezember 1953
- III ZR 183/52 - VersR 1954, 116, 117, insoweit nicht in BGHZ 11, 227 - zu
Lues) oder ob es zum Ausbruch der Immunschwächekrankheit AIDS gekommen
ist (vgl. Senatsurteil BGHZ 114, 284, 289; BGHSt 36, 1, 6).
2. Die Klägerin ist durch ihren Ehemann infiziert worden, der seinerseits
im Krankenhaus des Beklagten durch die Gabe von Blutprodukten infiziert worden
war.
a) Das Berufungsgericht hat - von der Revision nicht angegriffen - aufgrund
Anscheinsbeweises festgestellt, daß der Ehemann den HIV-Virus an die
Klägerin übertragen hat.
b) Der Ehemann der Klägerin ist im Krankenhaus des Beklagten infiziert
worden. Das Berufungsgericht hat auch dies - entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung
- nach dem Beweis des ersten Anscheins ohne Rechtsfehler
festgestellt. Die Einwendungen der Revision hiergegen haben keinen Erfolg.
aa) Der Beweis des ersten Anscheins greift bei typischen Geschehensabläufen
ein, also in Fällen, in denen ein bestimmter Tatbestand nach der Lebenserfahrung
auf eine bestimmte Ursache für den Eintritt eines bestimmten
Erfolgs hinweist. Ein solcher typischer Geschehensablauf kann anzunehmen
sein, wenn die Kontaminierung eines verwendeten Blutprodukts feststeht und
keine weiteren Ursachen außerhalb des Verantwortungsbereichs der Behandlungsseite
für die der Kontaminierung entsprechende Erkrankung ersichtlich
sind (vgl. Senatsurteile BGHZ 114, 290; vom 29. Juni 1982 - VI ZR 206/80 -
VersR 1982, 972). Bei einer HIV-Infektion nach Bluttransfusion setzt das voraus,
daß der Patient weder zu den HIV-gefährdeten Risikogruppen gehört noch
durch die Art seiner Lebensführung einer gesteigerten Infektionsgefahr ausgesetzt
ist, aber HIV-kontaminiertes Blut oder kontaminierte Blutprodukte erhalten
hat (vgl. Senatsurteil BGHZ 114, 290; OLG Düsseldorf, NJW 1995, 3060;
VersR 1996, 377, 378; VersR 1996, 1240; VersR 1998, 103; OLG Hamm,
VersR 1995, 709; NJW-RR 1997, 217, 218; OLG Karlsruhe, OLGR 2002, 170;
s.a. im Zusammenhang mit einer Hepatitis-Infektion OLG Brandenburg, NJW
2000, 1500; OLG Celle, NJW-RR 1997, 1456; LG Nürnberg-Fürth, VersR 1998,
461 mit Anm. Bender; MüKo-BGB/Wagner, 4. Aufl., § 823 Rn. 731; Hecker/
Weimann, VersR 1997, 532, 534; a.A. OLG Koblenz, NJW-RR 1998, 167,
168). Diese Voraussetzungen hat das Berufungsgericht für den Ehemann der
Klägerin bejaht.
(1) Die erste Voraussetzung für die Anwendung des Anscheinsbeweises,
daß der Patient weder zu den HIV-gefährdeten Risikogruppen gehörte noch
durch die Art seiner Lebensführung einer gesteigerten Infektionsgefahr ausgesetzt
war, hat das Berufungsgericht für den Ehemann der Klägerin festgestellt.
Die Revision beanstandet das nicht. Rechtsfehler sind nicht ersichtlich.
(2) Das Berufungsgericht hat auch eine Kontaminierung des verabreichten
PPSB festgestellt. Das begegnet aus Rechtsgründen keinen Bedenken.
(a) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts haben die Ärzte des
Krankenhauses W. lediglich eine trockenhitzeinaktivierte, nicht pasteurisierte
und damit potentiell infektiöse PPSB-Charge verwendet, die HIV-kontaminiert
gewesen war. Die entsprechende Behauptung der Klägerin hat das Oberlandesgericht
mangels substantiierten Bestreitens des Beklagten als unstreitig
angesehen. Das ist nach Lage des Falles unter den gegebenen Umständen
aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden.
Die Klägerin hatte vorgetragen, die ihrem Ehemann verabreichte Charge
PPSB sei HIV-kontaminiert gewesen. Das hatte der Beklagte nicht "substantiiert"
und damit nicht ausreichend bestritten.
Nach § 138 Abs. 2 und 3 ZPO hat eine Partei, soll ihr Vortrag beachtlich
sein, auf Behauptungen des Prozeßgegners substantiiert, d.h. mit näheren Angaben
zu erwidern. Eine solche Pflicht besteht zwar nicht schlechthin. Sie ist
aber nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast dann zu bejahen,
wenn der Beklagte - wie hier - alle wesentlichen Tatsachen kennt oder kennen
muß und es ihm zumutbar ist, nähere Angaben zu machen (vgl. Senatsurteile
BGHZ 100, 190, 196; vom 12. Juli 1983 - VI ZR 280/81 - VersR 1983, 1035,
1037 und vom 24. November 1998 - VI ZR 388/97 - VersR 1999, 774, 775).
Nach diesen Grundsätzen hätte der Beklagte zumindest die Nummer der verabreichten
Charge näher darlegen müssen, damit die Klägerin Indizien vortragen
konnte, aus denen sich eine Kontamination dieser dem Ehemann der Klägerin
verabreichten Charge PPSB ergeben hätte. Der Beklagte hat hierzu jedoch
nichts im einzelnen dargelegt und insbesondere auch nicht vorgetragen,
daß und weshalb ihm die Angabe der Chargennummer, welche Klarheit über
die Frage des Herstellungsdatums und damit die Art der Virusinaktivierung gebracht
hätte, unzumutbar oder unmöglich gewesen wäre. Angesichts der Patientenunterlagen
und der nach dem Vortrag des Beklagten bestehenden Möglichkeit,
aus den Apothekerunterlagen die Chargennummern der verabreichten
anderen Blutprodukte vorzutragen, genügte es nicht, wenn der Beklagte sich
darauf beschränkte, bei einer Aufbewahrungsfrist von zehn Jahren für Daten
sei es nicht verwunderlich, daß der Fall heute nicht mehr komplett nachvollzogen
werden könne. Vielmehr hätte er vortragen müssen, aus welchen Gründen
ihm die vom Berufungsgericht für erforderlich gehaltene Darlegung nicht möglich
sei. Die Klägerin konnte die von ihr benötigten Informationen zu den Chargen
nicht auf anderem Wege - insbesondere nicht aus den Patientenunterlagen
ihres Ehemannes, die diese Angaben nicht enthalten - ermitteln und hatte
daher ausreichend vorgetragen.
(b) Die Einwendungen der Revision hiergegen greifen nicht durch.
Zwar weist sie zu Recht darauf hin, daß Voraussetzung der "sekundären
Darlegungslast" des Beklagten die Zumutbarkeit näherer Angaben ist. Auch
mögen nähere Angaben zur HIV-Infektion der Charge dem Beklagten nicht ohne
weiteres möglich gewesen sein, weil dieser das Blutprodukt nicht selbst hergestellt
hat und deshalb auch nicht gehalten war, dessen Herstellung zu überwachen.
Das Berufungsgericht hat jedoch im Rahmen der sekundären Darlegungslast
des Beklagten lediglich die Angabe der Chargennummern, nicht nähere
Angaben zu den Spendern verlangt.
Die Chargennummern waren dokumentationspflichtig. Das ergibt schon
ein Rückschluß aus der ausdrücklich als deklaratorisch bezeichneten Äußerung
des Vorstandes der Bundesärztekammer vom 15. Oktober 1993, nach der
die Pflicht des Arztes zur ordnungsgemäßen Dokumentation (vgl. Rat-
zel/Lippert, Kommentar zur Musterberufsordnung der deutschen Ärzte (MBO),
3. Aufl., § 10 Rn. 4) auch die Dokumentation der Chargennummern von Blutzubereitungen
umfasse, weil dies Voraussetzung sei, Blutzubereitungen zum
Empfänger später sicher zurückverfolgen zu können (AIDS-Forschung [AIFO]
1994, 39, 41). Anhaltspunkte dafür, daß eine solche Dokumentationspflicht
1985 noch nicht bestanden hätte, sind nicht ersichtlich und von der Revision
auch nicht dargelegt.
Die Revision meint, Rückfragen bei der B. AG und Vortrag hinsichtlich
der HIV-Kontaminierung von PPSB-Produkten seien der Klägerin auch ohne
die Chargennummern möglich gewesen. Deswegen müsse der Grundsatz gelten,
daß keine Partei gehalten sei, dem Gegner für seinen Prozeßsieg das Material
zu verschaffen, über das er nicht schon von sich aus verfüge (vgl. BGH,
Urteil vom 26. Juni 1958 - II ZR 66/57 - WM 1958, 961, 962; Urteil vom 11. Juni
1990 - II ZR 159/89 - VersR 1990, 1254, 1255). Das geht fehl. Ungeachtet der
Frage, ob es der Klägerin zumutbar und möglich gewesen wäre, ohne Eingrenzung
auf eine bestimmte Charge von der B. AG Informationen über Fälle von
HIV-Infizierung in allen Chargen von 1984 zu erlangen, hätte sie ihren Vortrag
durch Anfrage ohne die Chargennummer nicht ausreichend substantiieren können.
Ohne Zuordnung zu einer bestimmten Charge ist nämlich der Vortrag, daß
1984 bei B. AG infizierte PPSB-Produkte im Umlauf waren, nicht geeignet, die
primär der Klägerin obliegende Darlegungslast zur Kontaminierung des bei ihrem
Ehemann verwendeten Blutproduktes zu erfüllen. Für einen substantiierten
Vortrag auch hinsichtlich der HIV-Kontaminierung benötigte die Klägerin die
Chargennummer, zu deren Offenbarung der Beklagte - wie ausgeführt - prozeßrechtlich
verpflichtet war.
Der Meinung der Revision, auch die Angabe der Chargennummer hätte
der Klägerin keine näheren Angaben über die Spender ermöglicht, da wegen
der Poolung der Humanplasmen bei der Herstellung des PPSB die Spenderdaten
bereits nicht ermittelbar gewesen seien und zumindest wegen der abgelaufenen
Zeit für die Aufbewahrung von Krankenunterlagen die Spenderdaten
nicht mehr zur Verfügung gestanden hätten, vermag der Senat nicht zu folgen.
Zwar ist es richtig, daß die Geständnisfiktion des § 138 Abs. 2, 3 ZPO nicht
dazu dient, der Klägerin über Beweisschwierigkeiten hinwegzuhelfen, die sie
auch gehabt hätte, wäre der Beklagte seiner sekundären Darlegungslast nachgekommen.
Der Beklagte hat jedoch die Chargennummer nicht vorgetragen,
die für eine Darlegung der Kontaminierung seitens der Klägerin erforderlich
gewesen wäre. Die Angabe von Spenderdaten war dagegen nicht zwingend
erforderlich, um den Nachweis der Kontaminierung einer Charge zu ermöglichen.
bb) Das Berufungsgericht hat - von der Revision unbeanstandet - festgestellt,
daß aufgrund des bei der Erstvorstellung des Ehemanns der Klägerin
in der Universitätsklinik F. im Jahre 1998 nachgewiesenen deutlichen Immundefekts
und des mäßiggradig erhöhten Virussloads ein länger zurückliegender
Infektionszeitpunkt von etwa zehn Jahren sehr wahrscheinlich ist und deshalb
für M. andere Infektionsquellen als die 1985 verabreichten Blutprodukte ausscheiden.
Der hiernach vom Berufungsgericht rechtsfehlerfrei bejahte Anscheinsbeweis
wird durch die Ausführungen der Revision zu einem anderen
möglichen Infektionsweg nicht erschüttert. Hierzu hätte es der konkreten Darlegung
einer anderen Infektionsquelle, nicht nur einer theoretisch möglichen
anderen Ursache bedurft (vgl. Senatsurteil vom 4. März 1997 - VI ZR 51/96 -
VersR 1997, 835, 836; BGHZ 11, 227, 230 f.). Daß auch das verabreichte
Biseko kontaminiert gewesen sein konnte, läßt die Haftung des Beklagten we-
gen der Verabreichung von kontaminiertem PPSB nicht entfallen. Soweit die
Revision eine Infektionsmöglichkeit bei der Notarztbehandlung behauptet, fehlt
es an jeglichem Vortrag dazu, aufgrund welcher tatsächlichen Anhaltspunkte
es hier zu einer HIV-Infektion gekommen sein könnte.
3. Ohne Fehler hat das Berufungsgericht auch eine Pflicht der Ärzte des
Beklagten bejaht, den Ehemann der Klägerin angesichts der zahlreichen Bluttransfusionen
auf die Möglichkeit einer HIV-Infektion hinzuweisen und zu einem
HIV-Test zu raten (nachträgliche Sicherungsaufklärung), was ihnen anläßlich
seiner weiteren Krankenhausaufenthalte unschwer möglich gewesen wäre.
a) Eine Aufklärungspflicht über die Gefahren der Verabreichung von
Blutprodukten entspricht den vom erkennenden Senat bereits früher aufgestellten
Anforderungen an die Risikoaufklärung bei Bluttransfusionen (vgl.
BGHZ 116, 379, 382 ff.).
Die Aufklärungspflicht setzte keine sichere Kenntnis in Fachkreisen davon
voraus, daß HIV-Infektionen transfusionsassoziiert auftraten; angesichts
der erheblichen Beeinträchtigungen, die mit einer HIV-Infektion/AIDSErkrankung
einhergehen, genügte für das Entstehen einer Aufklärungspflicht
schon die ernsthafte Möglichkeit der Gefahr (vgl. Senatsurteil vom
21. November 1995 - VI ZR 329/94 - VersR 1996, 233). Daß 1985 die Möglichkeit
transfusionsassoziierter HIV-Infektionen in Fachkreisen ernsthaft (wenn
auch "zurückhaltend") diskutiert wurde, zieht auch die Revision nicht in Zweifel.
Ist eine präoperative Aufklärung wegen der Notfallbehandlung oder Unansprechbarkeit
des schwer verunfallten Patienten - wie hier - nicht möglich,
wandelt sich die Aufklärungsverpflichtung des Arztes gegenüber dem Patienten
jedenfalls bei für den Patienten und dessen Kontaktpersonen lebensgefährli-
chen Risiken zu einer Pflicht zur alsbaldigen nachträglichen Selbstbestimmungs-
und Sicherungsaufklärung. Dies liegt in der in ständiger Rechtsprechung
angenommenen Pflicht von Ärzten und Krankenhausträgern begründet,
die höchstmögliche Sorgfalt anzuwenden, damit der Patient durch eine Behandlung
nicht geschädigt wird. Im hier zu entscheidenden Fall kam die Pflicht
hinzu dafür Sorge zu tragen, daß sich eine gefährliche Infektion nicht verbreitet
(vgl. jetzt §§ 6, 7 Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten
beim Menschen - Infektionsschutzgesetz - vom 20. Juli 2000 - BGBl. I
S. 1045 ff.; Senatsurteil vom 10. November 1970 - VI ZR 83/69 - VersR 1971,
227, 229; BGHZ 126, 386, 388 ff.; schon RG HRR 1932 Nr. 1828; Deutsch,
Rechtsprobleme von AIDS, 1988, 15).
b) Entgegen der Ansicht der Revision ist im vorliegenden Fall auch nicht
entscheidend, ob es eine standesrechtliche Verpflichtung für Ärzte gab, die
Empfänger von Blutprodukten nachträglich zu ermitteln und sie zu einem Test
zu bewegen. Der Ehemann der Klägerin war fortlaufend in Behandlung der Ärzte
des Beklagten, die bei den Folgebehandlungen im Besitz der vollständigen
Krankenunterlagen waren und wußten, daß ihm im Krankenhaus des Beklagten
zahlreiche Blutprodukte verabreicht worden waren. Die Frage der Nachermittlung
ehemaliger Empfänger stellte sich hier deshalb nicht.
c) Das Berufungsgericht hat entgegen der Rüge der Revision das Fehlen
ärztlicher Richtlinien zur Frage der Sicherungsaufklärung gesehen und als
nicht erheblich bewertet. Es ist unter Auswertung der Ausführungen des Sachverständigen
und der von diesem ausgewerteten Literatur zu der Überzeugung
gelangt, daß bereits im Jahre 1985 das Risiko einer transfusionsassoziierten
HIV-Übertragung bekannt war, und hat daraus den Schluß gezogen, unabhängig
von der Existenz standesrechtlicher Richtlinien sei der Patient über dieses
Risiko zumindest nachträglich zu informieren gewesen. Das ist aus Rechtsgründen
nicht zu beanstanden.
Soweit die Revision unter Hinweis auf fehlende Richtlinien zur Aufklärung
und die vom Streithelfer eingereichte Bekanntmachung des Bundesgesundheitsamtes
vom 6. Juni 1988 über die in Fachkreisen noch 1988 bestehende
Unklarheit über die Sicherheit hinsichtlich des Risikos einer HIVInfektion
bei der Anwendung von Blut oder Blutkonserven das Ergebnis des
Berufungsgerichtes angreift, setzt sie ihre Beweiswürdigung an die Stelle der
des Berufungsgerichtes. Das ist ihr verwehrt (§ 559 Abs. 2 ZPO). Im übrigen
hat der Sachverständige hierzu ausgeführt, daß die von der Revision erwähnte
Unklarheit nicht den Übertragungsweg des HIV-Erregers über die Transfusion,
sondern die Virus-Sicherheit der Blutprodukte trotz entsprechender Testung
betraf. Gegen die Pflicht zur nachträglichen Sicherungsaufklärung spricht auch
nicht das Fehlen von Richtlinien, da die Formulierung von Richtlinien notwendigerweise
dem tatsächlichen Erkenntnisstand hinterherhinken muß (vgl. LG
Hannover, NJW 1997, 2455, 2456). Fehler des Berufungsgerichts in der umfassenden
und widerspruchsfreien Auseinandersetzung mit dem Inhalt der
Verhandlungen und den Beweisergebnissen oder Verstöße gegen Denkgesetze
oder Erfahrungssätze sind nicht erkennbar.
d) Das Berufungsgericht hat auch nicht gegen § 412 Abs. 1 ZPO verstoßen.
Entgegen der Auffassung der Revision durfte es die Ausführungen des
Sachverständigen Br. seiner Überzeugungsbildung zugrundelegen und war
nicht gehalten, ein weiteres Gutachten eines Unfallchirurgen oder Transfusionsmediziners
einzuholen. Ermessensfehler des Berufungsgerichts liegen
nicht vor.
Die Einwendungen der Revision gegen die Sachkunde des Sachverständigen
haben keinen Erfolg. Zwar ist der Sachverständige selbst nicht Arzt,
sondern Diplom-Biologe; er verfügte aber aus seiner Tätigkeit im Bundesinstitut
für Arzneimittel und Medizinprodukte, das als Nachfolger des Bundesgesundheitsamts
- der zentralen Anlaufstelle für das Problem der HIV-Infektionen in
den achtziger Jahren - dessen Aktenbestand verwaltet (vgl. § 2 Abs. 3 Gesetz
über die Nachfolgeeinrichtungen des Bundesgesundheitsamts vom 24. Juni
1994 - BGBl. I S. 1416), über die erforderliche Sachkunde hinsichtlich der 1985
aufgrund der Veröffentlichungen des Bundesgesundheitsamts zur Verfügung
stehenden Informationen über transfusionsassoziierte HIV-Infektionen. Zu klären
war der allgemein bzw. in der Fachpresse allen Ärzten zugängliche Informationsstand
über derartige Infektionswege. Maßgeblich war nicht die Sicht
eines 1985 "in einem ländlichen Krankenhaus tätigen Unfallchirurgen", wie die
Revision meint; entscheidend waren vielmehr die für Ärzte 1985 allgemein gegebenen
Informationsmöglichkeiten, die der Sachverständige dargestellt hat.
Daß den Ärzten des Beklagten diese Informationsmöglichkeiten nicht zur Verfügung
gestanden oder daß sich aus deren Informationsmöglichkeiten andere
Erkenntnisse ergeben hätten, ist nicht ersichtlich und wird von der Revision
nicht vorgetragen.
Ebensowenig hat die Revision Vortrag vor dem Tatrichter dazu aufgezeigt,
daß ein Sachverständiger für Unfallchirurgie oder Transfusionsmedizin
über überlegene Forschungsmittel oder neuere Erkenntnisse verfügt hätte, die
das Berufungsgericht hätte in Anspruch nehmen müssen (vgl. Senatsurteile
vom 4. März 1980 - VI ZR 6/79 - VersR 1980, 533 und vom 16. März 1999
- VI ZR 34/98 - VersR 1999, 716, 717 f.).
4. Zutreffend hat das Berufungsgericht ferner nicht nur den behandelten
Patienten, sondern auch dessen zum Behandlungszeitpunkt noch nicht bekannten
Ehepartner in den Schutzbereich der Pflicht zur nachträglichen Sicherungsaufklärung
über die Gefahr einer transfusionsassoziierten HIV-Infektion
einbezogen.
a) Die gegenteilige Auffassung - insbesondere der vom Streithelfer für
den Beklagten geführten Revision - wird nicht von der an sich zutreffenden Erkenntnis
getragen, daß es sich bei den Ersatzansprüchen Dritter im Rahmen
der §§ 844, 845 BGB um Ausnahmevorschriften handelt, deren Anwendungsbereich
regelmäßig nicht auszudehnen ist. Der erkennende Senat hat bereits
ausgeführt, daß es für den Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB unerheblich ist,
daß der unmittelbare Schaden des Dritten durch die Verletzung einer anderen
Person vermittelt worden ist (vgl. Senatsurteil BGHZ 56, 163, 169). Der Grundsatz,
daß für mittelbare Schäden außerhalb der §§ 844, 845 BGB deliktisch
nicht gehaftet wird, gilt nur für Vermögensschäden, die aus der Verletzung eines
Rechtsguts des Primärgeschädigten bei Dritten hervorgehen. Er beansprucht
dagegen keine Geltung, wenn der Geschädigte - wie hier - einen Schaden
erleidet, der in der Verletzung eines eigenen Rechtsguts des § 823 Abs. 1
BGB besteht und für den der Schädiger im Rahmen des Zurechnungszusammenhanges
zu haften hat (vgl. von Gerlach, Festschrift für Steffen, 1995, 147,
150).
b) Soweit die Auffassung vertreten wird, es bedürfe einer personalen
Sonderbeziehung um eine uferlose Ausweitung des Kreises der Ersatzberechtigten
zu verhindern (vgl. OLG Düsseldorf, MDR 1994, 44), sind diese Erwägungen
ersichtlich im Rahmen des Schockschadens, also eines psychisch
vermittelten Schadens angestellt worden (vgl. RGRK/Steffen, BGB, 12. Aufl.,
§ 823 Rn. 11; Soergel/Zeuner, BGB, 12. Aufl., § 823 Rn. 27). Bei derartigen
Schadensfällen dient die enge personale Verbundenheit dazu, den Kreis derer
zu beschreiben, die den Integritätsverlust des Opfers als Beeinträchtigung der
eigenen Integrität und nicht als "normales" Lebensrisiko der Teilnahme an den
Ereignissen der Umwelt empfinden. Dieser Gesichtspunkt hat keine Berechtigung
in Fällen wie dem vorliegenden. Hier stehen im Vordergrund die besonderen
Gefahren einer Infektion mit HIV nicht nur für den primär Infizierten, sondern
- ähnlich wie bei einer Seuche wie Cholera - gerade auch für Dritte. Ebenso
wie in BGHZ 114, 284 ff. nötigt die vorliegende Fallgestaltung nicht zur Entscheidung
der Frage, ob jeder Dritte in den Schutzbereich der Pflicht zur nachträglichen
Sicherungsaufklärung fällt (vgl. BGHZ 126, 386, 393; von Gerlach
aaO 154; weitergehend Staudinger/Hager, BGB, 13. Bearbeitung, § 823,
Rn. B 24 f.). Jedenfalls der Ehepartner oder ein ständiger Lebensgefährte des
Patienten muß in den Schutzbereich der Sicherungsaufklärung einbezogen
sein (vgl. Senatsurteil BGHZ 114, 284, 290). Das ist vom haftungsrechtlichen
Zurechnungszusammenhang her geboten, zumal mit einer HIV-Infektion Lebensgefahr
verbunden ist. Bei dieser Erkrankung trägt die Behandlungsseite in
besonderem Maße Verantwortung dafür, eine Verbreitung der lebensgefährlichen
Infektion möglichst zu verhindern. Hinzu kommt, daß die Ärzte des Beklagten
während einer der zahlreichen stationären Nachbehandlungen mit einem
einfachen Hinweis an den Ehemann der Klägerin diesen zu einem Test
hätten veranlassen und so die Gefahr einer Verbreitung der Infektion unschwer
hätten verringern können.
5. Das Berufungsgericht ist - von der Revision nicht beanstandet und
ohne Rechtsfehler - davon ausgegangen, daß im hier zu entscheidenden Fall
der Wechsel in der Trägerschaft des Krankenhauses vom Streithelfer auf den
Beklagten nicht entscheidungserheblich ist. Die Frage bedarf deshalb keiner
näheren Ausführungen, zumal der zweite Krankenhausaufenthalt des Ehemanns
der Klägerin zwar noch unter der Trägerschaft des Streithelfers begann,
aber erst unter der Trägerschaft des Beklagten endete.
6. Das Berufungsgericht hat schließlich eine Kürzung der Ansprüche der
Klägerin nach den Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld im Ergebnis zutreffend
verneint. Es kann dahinstehen, ob diese Grundsätze vorliegend überhaupt
eingreifen könnten, weil es - anders als in den bisher vom erkennenden
Senat entschiedenen Fällen - nicht um ein sozialversicherungsrechtliches Haftungsprivileg
geht (vgl. Senatsurteile BGHZ 61, 51, 55; vom 17. Februar 1987
- VI ZR 81/86 - NJW 1987, 2669, 2670; vom 24. Juni 2003 - VI ZR 434/01 -
VersR 2003, 1260, 1261 f.; vom 11. November 2003 - VI ZR 13/03 - VersR
2004, 202; vom 14. Juni 2005 - VI ZR 25/04 - z.V.b.; vgl. allerdings auch Senatsurteil
vom 23. April 1985 - VI ZR 91/83 - VersR 1985, 763). Die Anwendung
dieser Grundsätze würde jedenfalls voraussetzen, daß zwischen dem
Beklagten und einem anderen Schädiger ein Gesamtschuldverhältnis im Sinne
von §§ 421, 840 Abs. 1 BGB besteht. Hiervon kann nach den tatsächlichen
Feststellungen des Berufungsgerichts indes nicht ausgegangen werden. Zwar
müßte entgegen seiner Auffassung eine Haftung der B. AG nicht an der Kausalität
scheitern, von der das Berufungsgericht selbst ausgegangen ist. Indessen
fehlt es nach seinen tatsächlichen Feststellungen an dem für die Annahme eines
Gesamtschuldverhältnisses im Sinne des § 840 BGB erforderlichen Verschulden
der B. AG bei der Herstellung des kontaminierten Blutprodukts. Erst
die Erkennbarkeit eines Risikos kann Verpflichtungen des Herstellers im Sinne
der Produktsicherung oder der Gefahrenabwehr auslösen. Eine nicht bekannte
Entwicklungsgefahr geht im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB nicht zu Lasten
des Herstellers, weil dieser nicht für unbekannte Entwicklungsfehler haftet (vgl.
Kullmann/Pfister, Produzentenhaftung, Kza 1526, S. 28 zu FN 145; Kuchinke
in: Festschrift für Laufke, 1971, S. 126; vgl. LG Bonn, AIFO 1994, 419 ff. zur
Produzentenhaftung bei Herstellung von PPSB). Bei dieser Sachlage kann eine
Verschuldenshaftung für Virusinfektionen durch Blutprodukte erst einsetzen,
wenn der Virus erkennbar war und Möglichkeiten zu seiner Abtötung gegeben
waren (vgl. Deutsch, VersR 1997, 905, 908; Reinelt, VersR 1990, 565, 571).
Das Berufungsgericht hat hierzu revisionsrechtlich bindend festgestellt, daß
hinreichend sichere Testverfahren zur Feststellung des Virus erst im Herbst
1985 zur Verfügung standen. Daß die B. AG das 1985 bei der Herstellung von
PPSB verwandte Pasteurisierungsverfahren schon 1984 hätte anwenden müssen,
kann hiernach nicht angenommen werden. Die Revision legt auch nicht
dar, daß das Berufungsgericht insoweit rechtsfehlerhaft Vortrag des Beklagten
oder des Streithelfers zum Verschulden der B. AG übergangen hätte.
Müller
Greiner
Wellner
Pauge
Stöhr
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