Kein Meßabschlag, wenn die Einhaltung eines Grenzwertes von Immissionen ermittelt wird
Gericht
BGH
Art der Entscheidung
Revisionsurteil
Datum
08. 10. 2004
Aktenzeichen
V ZR 85/04
Beruft sich der Störer darauf, daß die in der TA-Lärm festgelegten Grenz- oder Richtwerte eingehalten seien, so daß nach § 906 Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB von einer nur unwesentlichen Beeinträchtigung auszugehen sei, so ist von dem ermittelten Lärmpegel kein Meßabschlag zu machen, wie er nach Nr. 6.9 der TA-Lärm für Überwachungsmessungen vorgesehen ist. Nur wenn ohne diesen Abschlag die Immissionen diesen Grenzwert einhalten, besteht eine gesicherte Grundlage dafür, daß dem Störer die sich aus § 906 Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB ergebende Beweiserleichterung zugebilligt werden kann.
Auf die Rechtsmittel der Kläger werden das Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Mönchengladbach vom 24. März 2004 aufgehoben und das Urteil des Amtsgerichts Erkelenz vom 7. März 2003 abgeändert.
Der Beklagte wird verurteilt, den Betrieb der beiden Windkraftanlagen des Typs Enercon E 40 mit einer Gesamthöhe von jeweils 85 m und einer Nennleistung von 500 KW, welche in einer Entfernung zum Wohnhaus der Kläger von 270 bzw. 310 m auf dem Grundstück der Stadt H. , Gemarkung B. , Flur 4, Flurstück 39/2 und 385 errichtet wurden, jeweils in der Zeit von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr zu unterlassen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Beklagte.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Kläger sind Eigentümer eines von ihnen bewohnten Hausgrundstücks in H. , das im Außenbereich in einem Dorfgebiet liegt. Der Beklagte betreibt auf Nachbargrundstücken vier Windkraftanlagen, von denen sich die zwei am nächsten zum Wohnhaus der Kläger gelegenen Anlagen in einem Abstand von etwa 270 bis 280 m bzw. 310 bis 320 m befinden. Die Kläger verlangen von dem Beklagten, den Betrieb von zwei der vier Anlagen in der Zeit von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr zu unterlassen. In einem selbständigen Beweisverfahren hat der Sachverständige bei Betrieb aller vier Anlagen einen Lärmpegel am Haus der Kläger von 46 bis 47 dB (A) gemessen. Die Parteien streiten darüber, ob bei der Frage des nach der technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA-Lärm) zulässigen Grenzwertes von nachts 45 dB (A) von diesem gemessenen Pegel auszugehen ist oder ob - wie dies der Sachverständige getan hat - ein Meßabschlag von 3 dB (A) vorzunehmen ist.
Das Amtsgericht hat die Unterlassungsklage abgewiesen. Die Berufung der Kläger ist ohne Erfolg geblieben. Mit der von dem Landgericht zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihren Anspruch weiter. Der Beklagte beantragt die Zurückweisung des Rechtsmittels.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hält den geltend gemachten Unterlassungsanspruch nach § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht für begründet, da der Betrieb der Windkraftanlagen die Benutzung des Grundstücks der Kläger nur unwesentlich beeinträchtige. Dies folge daraus, daß der in der TA-Lärm im konkreten Fall maßgebliche Grenzwert von 45 dB (A) nach den Feststellungen des Sachverständigen eingehalten werde. Es sei nämlich nicht zu beanstanden, daß der Sachverständige in Anwendung von Nr. 6.9 einen Meßabschlag von 3 dB (A) gemacht habe. Zum einen seien die Bewertungs- und Ermittlungsmaßstäbe der TA-Lärm nach § 906 Abs. 1 Satz 2 BGB auch im Verhältnis von Privatpersonen zueinander verbindlich. Zum anderen sei die Bewertungssituation vergleichbar. Nr. 6.9 gelte für eine Überwachungsmessung zur Klärung, ob ein Einschreiten der Behörde geboten ist. Dem gleiche die vorliegende Situation, in der von dem Beklagten auf privatrechtlicher Ebene eine Betriebsunterlassung verlangt werde. Werde aber der zulässige Grenzwert nicht überschritten, so sei nach § 906 Abs. 1 Satz 2 BGB im Regelfall, und so auch hier, von einer nur unwesentlichen und damit hinzunehmenden Beeinträchtigung auszugehen.
II.
Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Prüfung nicht stand. Sie verletzen die Regeln über die Darlegungs- und Beweislast.
1. Zutreffend geht das Berufungsgericht allerdings davon aus, daß die von den Windkraftanlagen herrührenden Lärmimmissionen von den Klägern zu dulden sind, wenn sie keine oder eine nur unwesentliche Beeinträchtigung darstellen, § 906 Abs. 1 Satz 1 BGB. Ob eine Beeinträchtigung wesentlich ist, hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs von dem Empfinden eines verständigen Durchschnittsmenschen ab und davon, was diesem auch unter Würdigung anderer öffentlicher und privater Belange billigerweise nicht mehr zuzumuten ist (Senat, BGHZ 120, 239, 255; 121, 248, 255; 146, 261, 264). Bei der von dem Tatrichter dazu anzustellenden Bewertung ist - wie das Berufungsgericht nicht verkannt hat - § 906 Abs. 1 Satz 2 BGB zu beachten.
Danach liegt eine unwesentliche Beeinträchtigung in der Regel vor, wenn die in Gesetzen oder Rechtsverordnungen festgelegten Grenzen oder Richtwerte von den nach diesen Vorschriften ermittelten und bewerteten Einwirkungen nicht überschritten werden. Das bedeutet, daß der Grundsatz, wonach der Störer darlegen und beweisen muß, daß sich eine Beeinträchtigung nur als unwesentlich darstellt (BGHZ 120, 239, 257), eine Einschränkung zu seinen Gunsten erfährt. Die in § 906 Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB genannten Grenz- oder Richtwerte stellen Umstände für eine Indizwirkung dar. Werden sie überschritten, indizieren sie die Wesentlichkeit der Beeinträchtigung, werden sie eingehalten oder unterschritten, so indizieren sie die Unwesentlichkeit der Beeinträchtigung (Senat, Urt. v. 13. Februar 2004, V ZR 217/03, NJW 2004, 1317, 1318). Eine solche indizielle Bedeutung hat der Tatrichter zu beachten. Er kann im Rahmen seines Beurteilungsspielraums von dem Regelfall abweichen, wenn dies besondere Umstände des Einzelfalls gebieten. Darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen sind solche die Indizwirkung erschütternde Umstände von demjenigen, der trotz Einhaltung der Grenzwerte eine wesentliche Beeinträchtigung geltend macht (Senat aaO). Im übrigen bleibt es aber bei der Darlegungs- und Beweislast des Störers. Er muß darlegen und gegebenenfalls nachweisen, daß seine Emissionen innerhalb der Grenz- oder Richtwerte bleiben. Nur wenn dies feststeht, kommt ihm die Indizwirkung zugute.
2. Geht man von diesen Grundsätzen aus, so ist die Frage, ob bei der Ermittlung der Immissionsrichtwerte nach Nr. 6.1 TA-Lärm der nach Nr. 6.9 TALärm für Überwachungsmessungen vorgesehene Meßabschlag von 3 dB (A) zu machen ist, entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts zu verneinen.
Dabei braucht nicht entschieden zu werden, ob die Berücksichtigung eines solchen Abschlags schon deswegen nicht in Betracht kommt, weil es sich vorliegend nicht um eine Überwachungsmessung handelt. Jedenfalls steht der Zweck des § 906 Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB und die damit verbundene Regelung der Darlegungs- und Beweislast einer Anwendung von Nr. 6.9 TA-Lärm zur Ermittlung des Richtwertes entgegen.
a) Der im konkreten Fall einzuhaltende Richtwert beträgt nach Nr. 6.1 TA-Lärm in der Zeit von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr 45 dB (A). Der Meßabschlag nach Nr. 6.9 TA-Lärm führt nicht zu einer Erhöhung dieses Wertes. Er dient vielmehr dem Ausgleich von eventuellen Meßungenauigkeiten und soll gewährleisten, daß die Behörde aufgrund einer Überwachungsmessung nur dann gegen den Betreiber einer störenden Anlage einschreitet, wenn auch unter Berücksichtigung aller Eventualitäten sichergestellt ist, daß die Immissionen den Richtwert überschreiten (vgl. BVerwG, DVBl. 2001, 1451, 1455). Er trägt damit vor allem auch dem Umstand Rechnung, daß die Beweislast für die Voraussetzungen zum Eingriff in die Rechte des Betreibers bei der Behörde liegt; Unsicherheiten bei der Sachverhaltsermittlung gehen daher zu ihren Lasten (Hansmann, in Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Band II, 3.1. TA-Lärm Nr. 6 Rdn. 35 ff.).
b) Trägt der Störer im Bereich des privatrechtlichen Immissionsschutzes die Darlegungs- und Beweislast für die Unwesentlichkeit der Beeinträchtigung und damit für die Einhaltung der Grenz- oder Richtwerte, die nach § 906 Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB die Indizwirkung auslöst, so gehen in gleicher Weise Unsicherheiten bei der Sachverhaltsermittlung zu seinen Lasten. Das führt dazu, daß die gemessenen Werte allein entscheidend sind und nicht um einen Meßabschlag reduziert werden dürfen. Nur wenn ohne diesen Abschlag die Immissionen den Grenzwert einhalten, besteht eine gesicherte Grundlage dafür, dem Störer die Beweiserleichterung des § 906 Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB zuzubilligen. Gewährte man sie ihm schon dann, wenn die Grenze nur mit Hilfe eines Meßabschlags eingehalten wird, so gingen Meßungenauigkeiten oder sonstige Unsicherheiten zu Lasten des Beeinträchtigten. Das ist mit den Grundsätzen der Darlegungs- und Beweislast im privaten Immissionsschutzrecht nicht vereinbar. Das schließt nicht aus, daß auch in einem solchen Fall eine Duldungspflicht bestehen kann. Besondere Umstände des Einzelfalls geben dem Tatrichter die Möglichkeit, im Rahmen seines Beurteilungsspielraums auch dann die Wesentlichkeit der Beeinträchtigung zu verneinen. Nur streitet hierfür nicht die Regelvermutung des § 906 Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB. Auch insoweit gibt es Parallelen zum öffentlichen Recht. Auch dort können besondere Umstände des Einzelfalls die Behörde zum Eingreifen berechtigen, obwohl die Immissionsrichtwerte nur ohne einen Abschlag von 3 dB (A) überschritten sind (Hansmann, aaO Rdn. 36).
3. Nach allem hat das angefochtene Urteil keinen Bestand (§ 562 ZPO). Da der Beklagte keine Umstände vorgetragen hat, die den Schluß darauf zulassen, daß trotz Überschreitens des zulässigen Immissionsrichtwertes für die Nachtzeit von einer nur unwesentlichen Beeinträchtigung auszugehen ist, ist der geltend gemachte Unterlassungsanspruch begründet. Dabei besteht an sich nur ein Anspruch darauf, wesentliche Lärmimmissionen zu unterlassen. Wie dies bewerkstelligt werden kann, ist grundsätzlich Sache des Störers (Senat, BGHZ 67, 252, 253; Urt. v. 12. Dezember 2003, V ZR 98/03, NJW 2004, 1035). Vorliegend bestand indes in den Tatsacheninstanzen kein Streit darüber, daß der zulässige Richtwert in der Nacht nur dann eingehalten werden kann, wenn zwei der Anlagen ausgeschaltet werden. Daher war dem darauf gerichteten Klageantrag stattzugeben.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
Kanzlei Prof. Schweizer Rechtsanwaltsgesellschaft mbH © 2020
Impressum | Datenschutz | Cookie-Einstellungen