Nachträgliche mündliche Individualvereinbarungen haben auch vor Schriftformklauseln in Formularverträgen über langfristige Geschäftsraummietverhältnisse Vorrang.
Gericht
BGH
Art der Entscheidung
Urteil
Datum
21. 09. 2005
Aktenzeichen
XII ZR 312/02
Nachträgliche mündliche Individualvereinbarungen haben auch vor Schriftformklauseln in Formularverträgen über langfristige Geschäftsraummietverhältnisse Vorrang.
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Rostock vom 2. Dezember 2002 insoweit aufgehoben, als darin - über den durch Anerkenntnisteilurteil vom 3. August 2001 ausgeurteilten Betrag hinaus - zum Nachteil des Beklagten entschieden worden ist.
Der Rechtsstreit wird im Umfang der Aufhebung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand:
Der Kläger macht rückständige Miete geltend.
Er vermietete mit schriftlichem Vertrag vom 7. Oktober 1999 Geschäftsräume
zu einem monatlichen Mietzins von 2.900 DM zuzüglich MWSt an den
Beklagten. § 21 Nr. 4 Satz 1 des Mietvertrages lautet:
"Nachträgliche Änderungen und Ergänzungen dieses Vertrages gelten
nur bei schriftlicher Vereinbarung."
In den Jahren 2000 und 2001 zahlte der Beklagte lediglich eine reduzierte
Miete mit der Begründung, die Parteien hätten sich nachträglich auf eine monatliche
Miete von 2.000 DM netto geeinigt.
Das Landgericht hat den Beklagten zur Zahlung der aufgelaufenen
Rückstände in Höhe von 14.040 DM nebst Zinsen verurteilt. Die Berufung des
Beklagten ist mit Ausnahme eines geringfügigen Zinsbetrages ohne Erfolg geblieben.
Dagegen wendet sich der Beklagte mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen
Revision.
Entscheidungsgründe:
Gegen den im Verhandlungstermin nicht erschienenen Kläger ist durch
Versäumnisurteil zu entscheiden. Dieses beruht jedoch inhaltlich nicht auf der
Säumnis; es berücksichtigt den gesamten Sach- und Streitstand (vgl. BGHZ 37,
79, 81 ff.).
Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils
und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.
1. Das Oberlandesgericht, dessen Entscheidung in OLGR Rostock 2003,
78 veröffentlicht ist, hat ausgeführt, die vom Beklagten behauptete einvernehmliche
Senkung der monatlichen Miete sei unwirksam, weil die Parteien hierbei
die in § 21 Nr. 4 Satz 1 des Mietvertrages vereinbarte Schriftform nicht beachtet
hätten. Diese gewillkürte Schriftform habe nicht lediglich Beweisfunktion, son-
dern sei Wirksamkeitsvoraussetzung für die Änderung des Mietvertrages. Der
Wortlaut "gelten nur bei schriftlicher Vereinbarung" sei eindeutig und lasse keine
andere Auslegung zu.
Die im Mietvertrag der Parteien enthaltene vorformulierte Schriftformklausel
sei nicht unwirksam im Sinne des § 9 AGBG (nunmehr: § 307 BGB).
Schriftformklauseln seien nicht generell unangemessen, ihre Wirksamkeit hänge
vielmehr von der Ausgestaltung und dem Anwendungsbereich der konkreten
Klausel ab. Unangemessen könne die Klausel sein, wenn sie dazu diene, nach
Vertragsschluss getroffene individualvertragliche Vereinbarungen zu unterlaufen,
indem sie bei dem anderen Vertragsteil den Eindruck erwecke, eine mündliche
Abrede sei entgegen den allgemeinen Grundsätzen unwirksam. Auch
könne die Schriftformklausel nicht den Vorrang der Individualabsprache abdingen;
demgemäß könnten die Vertragsparteien sie dadurch außer Kraft setzen,
dass sie deutlich den Willen zum Ausdruck brächten, ihre mündliche Abmachung
solle ungeachtet der Schriftformklausel gelten.
Unter Beachtung dieses Grundsatzes sei bei der langfristigen Vermietung
gewerblich genutzter Immobilien, die in den Anwendungsbereich des
§ 566 BGB a.F. (§ 550 BGB) falle, eine Schriftformklausel wirksam und
benachteilige den Vertragspartner des Verwenders nicht unangemessen. Von
dem gesetzlichen Leitbild entferne sie sich nicht wesentlich, denn § 566 Satz 1
BGB a.F. schreibe ohnehin die Schriftform bei Vertragsänderungen und -ergänzungen
vor. Nur hinsichtlich der Folgen des Formverstoßes unterschieden sich
die gesetzliche und die in einem vorformulierten Mietvertrag ausbedungene
Schriftform. Wegen der erheblichen wirtschaftlichen Tragweite einer langfristigen
Immobilienvermietung sei der Schutz vor einer übereilten, nicht hinreichend
bedachten Vertragsänderung, etwa einer Erhöhung oder Herabsetzung der
Miete, in die Überlegung, inwieweit die Schriftformklausel den Gegner des Ver-
wenders benachteilige, einzubeziehen. Auch bei einem Gewerberaummietvertrag
sei nicht ersichtlich, dass die Schriftformklausel einseitig die Interessen des
Verwenders bezwecke. Wegen der langen Dauer gewerblicher Mietverträge,
auch wegen des nicht seltenen Wechsels einer Partei, sei schließlich das Bedürfnis
beider Seiten anzuerkennen, als Vertragsinhalt nur gelten zu lassen,
was schriftlich dokumentiert sei.
Überschnitten sich die gesetzlich vorgeschriebene und die in einem Vertragsvordruck
für eine Vertragsänderung ausbedungene Schriftform, so könne
nicht unterstellt werden, dass die Vertragsparteien gleichwohl die Wirksamkeit
des mündlich Vereinbarten wollten und die in dem Vertrag enthaltene Schriftformabrede
als überholt betrachteten. Den Verlust der beiderseits gewollten
langfristigen Bindung, der regelmäßig den Interessen zumindest einer Partei,
wenn nicht gar beider Parteien widerspreche, wolle keine Partei in Kauf nehmen,
zumal sie im Zeitpunkt der Vertragsänderung nicht abschätzen könne,
wem die ordentliche Kündbarkeit des Mietverhältnisses nützen oder schaden
werde. Letztlich sprächen gewichtige Argumente für die Wirksamkeit der
Schriftformklausel, die beide Parteien vor der ungewollten Folge eines Formverstoßes
bei einer mündlichen Vertragsänderung schütze.
2. Die Entscheidung des Berufungsgerichts hält einer rechtlichen Nachprüfung
nicht stand.
Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass die Klausel, wonach
Änderungen und Ergänzungen der Schriftform bedürfen, von dem Grundsatz
abweicht, dass Individualvereinbarungen vorgehen und die Klausel deshalb
gegen das gesetzliche Leitbild verstößt. Diese Frage ist in der Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofs geklärt (BGH, Urteil vom 15. Februar 1995
- VIII ZR 93/94 - NJW 1995, 1488, 1489). Ob in den Fällen der gesetzlichen
Schriftform (§ 566 BGB a.F., § 550 BGB) etwas anderes zu gelten hat, wie das
Berufungsgericht meint, ist höchstrichterlich bisher nicht entschieden. Das Berufungsgericht
kann sich für seine Auffassung auf Wolf/Eckert/Ball, Handbuch
des gewerblichen Miet-, Pacht- und Leasingrechts 9. Aufl. Rdn. 142; Gerber/
Eckert Gewerbliches Miet- und Pachtrecht 5. Aufl. Rdn. 80; Erman/Roloff
BGB 11. Aufl. § 305 b Rdn. 11 (einschränkend Fritz Mietrecht 2. Aufl. Rdn. 48)
und eine Entscheidung des Kammergerichts (MDR 2000, 1241) stützen (anderer
Ansicht Schmidt-Futterer/Lammel Mietrecht 8. Aufl. § 550 Rdn. 68; JURIS
PK-BGB/Tonner § 550 Rdn. 17; Bub in Bub/Treier, Handbuch der Geschäfts-
und Wohnraummiete, 3. Aufl. Kap. II 564 und Heile daselbst Kap. II 776; Sternel
Mietrecht 3. Aufl. Kap. I 210; Drettmann in Graf von Westphalen, Vertragsrecht
und AGB-Klauselwerke, Geschäftsraummiete Rdn. 23).
a) Die Frage bedarf hier keiner Klärung, weil sie für die Entscheidung des
Falles nicht erheblich ist. Ist die Klausel unwirksam, dann konnten die Parteien
ohne weiteres nach Abschluss des Mietvertrages durch mündliche Absprache
den schriftlichen Mietvertrag ändern. Aber auch dann, wenn die Klausel als
wirksam angesehen wird, waren die Parteien nicht gehindert, nach Abschluss
des Mietvertrages die Klausel zu ändern. Der Vorrang der Individualabsprache
(§ 4 AGBG = § 305 b BGB) greift auch gegenüber einer nach AGBG angemessenen
Schriftformklausel (Ulmer in Ulmer/Brandner/Hensen AGBG 9. Aufl. § 4
Rdn. 33; Lindacher in Wolf/Lindacher AGBG 4. Aufl. § 4 Rdn. 33).
Im Ausgangspunkt richtig geht auch das Berufungsgericht vom Vorrang
einer Individualvereinbarung (§ 4 AGBG, nunmehr § 305 b BGB) aus. Soweit es
aber meint, es könne nicht unterstellt werden, dass die Vertragsparteien - wenn
sie die Schriftform für Vertragsänderungen vereinbart haben, um die beiderseitige
langfristige Bindung nicht zu gefährden - gleichwohl die Wirksamkeit des
mündlich Vereinbarten wollen und die Schriftformabrede als überholt betrach-
ten, so kann ihm nicht gefolgt werden. Vereinbaren die Parteien nach dem Abschluss
eines Formularvertrages eine Änderung mittels Individualabsprache, so
hat diese Änderung Vorrang vor kollidierenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen.
Es kommt nicht darauf an, ob die Parteien eine Änderung der Allgemeinen
Geschäftsbedingungen beabsichtigt haben oder sich der Kollision mit
den Allgemeinen Geschäftsbedingungen bewusst geworden sind (BGH,
Beschluß vom 20. Oktober 1994 - III ZR 76/94 - NJW-RR 1995, 179, 180; vgl.
auch BGHZ 71, 162, 164). Ebenso wenig stellt § 4 AGBG darauf ab, ob die Individualvereinbarung
ausdrücklich oder stillschweigend getroffen worden ist
(BGH, Urteil vom 6. März 1986 - III ZR 234/84 - NJW 1986, 1807; Münch-
Komm/Basedow BGB 4. Aufl. § 4 AGBG Rdn. 5). Den Vorrang gegenüber Allgemeinen
Geschäftsbedingungen haben individuelle Vertragsabreden ohne
Rücksicht auf die Form, in der sie getroffen worden sind, somit auch dann,
wenn sie auf mündlichen Erklärungen beruhen. Das gilt auch dann, wenn durch
eine AGB-Schriftformklausel bestimmt wird, dass mündliche Abreden unwirksam
sind (BGH, Beschluß vom 20. Oktober 1994 aaO; MünchKomm/Basedow
aaO § 4 AGBG Rdn. 11).
Der Vorrang der Individualvereinbarung muß auch dann gewahrt bleiben,
wenn man mit dem Berufungsgericht ein Interesse des Verwenders anerkennt,
einem langfristigen Mietvertrag nicht durch nachträgliche mündliche Abreden
die Schriftform zu nehmen und deshalb eine solche Klausel ausnahmsweise als
wirksam ansieht. Das gebieten Sinn und Zweck dieser Regelung. Der in § 4
AGBG niedergelegte Grundsatz besagt, dass vertragliche Vereinbarungen, die
die Parteien für den Einzelfall getroffen haben, nicht durch davon abweichende
Allgemeine Geschäftsbedingungen durchkreuzt, ausgehöhlt oder ganz oder
teilweise zunichte gemacht werden können. Er beruht auf der Überlegung, dass
Allgemeine Geschäftsbedingungen als generelle Richtlinien für eine Vielzahl
von Verträgen abstrakt vorformuliert und daher von vornherein auf Ergänzung
durch die individuelle Einigung der Parteien ausgelegt sind. Sie können und
sollen nur insoweit Geltung beanspruchen, als die von den Parteien getroffene
Individualabrede dafür Raum lässt (MünchKomm/Basedow aaO Rdn. 1). Wollen
die Parteien ernsthaft - wenn auch nur mündlich - etwas anderes, so kommt
dem der Vorrang zu.
Das Interesse des Klauselverwenders oder gar beider Vertragsparteien,
nicht durch nachträgliche mündliche Absprachen die langfristige beiderseitige
Bindung zu gefährden, muss gegenüber dem von den Parteien später übereinstimmend
Gewollten zurücktreten. Es kommt auch nicht darauf an, ob die Parteien
bei ihrer mündlichen Absprache an die entgegenstehende Klausel gedacht
haben und sich bewusst über sie hinwegsetzen wollten (so aber
Wolf/Eckert/Ball aaO Rdn. 143). Ein bewusstes Abweichen von einer Schriftformklausel
hat der Bundesgerichtshof lediglich gefordert, wenn von einer so
genannten qualifizierten Schriftformklausel, die individuell vereinbart war, abgewichen
wurde, weil in solchen Fällen der Vorrang der Individualvereinbarung
nach § 4 AGBG keine Anwendung findet, sondern die individuell vereinbarte
qualifizierte Schriftformklausel erst abgeändert werden muß (BGHZ 66, 378,
381 f.).
Allerdings obliegt der Beweis einer solchen mündlichen Abrede demjenigen,
der sich auf sie beruft. Er muss die Vermutung widerlegen, dass keine von
den Allgemeinen Geschäftsbedingungen abweichenden Absprachen getroffen
worden sind (MünchKomm/Basedow aaO § 4 AGBG Rdn. 8).
b) Danach kann die Entscheidung des Berufungsgerichts keinen Bestand
haben. Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass der Beklagte seine Behauptung,
die Parteien hätten nachträglich die Miete auf 2.000 DM monatlich
reduziert, nicht nachgewiesen habe. Der Beklagte hat die Beweiswürdigung mit
der Berufung angegriffen und für seine Behauptung einer nachträglichen Reduzierung
der Miete einen weiteren Zeugen angeboten. Mit seiner Auffassung, es
könne nicht unterstellt werden, dass die Parteien das mündlich Vereinbarte gewollt
haben, weil keine Partei den Verlust der langfristigen Bindung in Kauf
nehmen wolle, unterstellt das Berufungsgericht seinerseits einen Parteiwillen,
ohne die vom Beklagten angebotenen Beweise zu erheben und zu würdigen.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kommt es nicht darauf an, was
die Parteien gewollt hätten, falls sie die rechtlichen Folgen einer mündlichen
Absprache gekannt hätten, sondern was sie tatsächlich gewollt haben. Wollten
die Parteien ernsthaft eine Reduzierung der Miete, dann ist diese Vereinbarung
auch dann wirksam, wenn mit der Vereinbarung die langfristige Bindung verloren
geht. Das Berufungsgericht wird deshalb gegebenenfalls auch den angebotenen
Zeugen vernehmen und eine Beweiswürdigung vornehmen müssen, ob
die behauptete Absprache erfolgt ist.
Sprick
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