Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplanes; Pferdehaltung im allgemeinen Wohngebiet

Gericht

OVG Lüneburg


Art der Entscheidung

Urteil


Datum

23. 11. 1979


Aktenzeichen

I OVG A 183/78


Leitsatz des Gerichts

Städtebauliche Gründe rechtfertigen eine Abweichung von Festsetzungen eines Bebauungsplanes nicht bereits, wenn die erstrebte Abweichung auch zulässiger Inhalt eines Planes sein könnte, vielmehr erst, wenn aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls die Festsetzung des Planes gegenüber der erstrebten Abweichung unangemessen erscheint.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Kl., der Eigentümer eines im Bebauungsplan als „WA“ festgesetzten 3270 qm großen Einfamilienhausgrundstücks in H. ist, wendet sich gegen die Versagung der Baugenehmigung für die Nutzungsänderung einer Doppelgarage zu einem Pferdestall. Die Klage blieb in den beiden ersten Instanzen erfolglos.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

… Die vom Kl. vorgesehene Nutzung der Garage als Pferdestall ist nach § 4 BauNutzVO im allgemeinen Wohngebiet - auch als Nebenanlage nach § 14 BauNutzVO - unzulässig. Allgemeine Wohngebiete dienen vorwiegend dem Wohnen; ausnahmsweise können nach § 4 III Nr. 6 BauNutzVO in der hier maßgebenden Fassung von 1968 auch Ställe für Kleintierhaltung als Zubehör zu Kleinsiedlungen und landwirtschaftlichen Nebenerwerbsstellen zugelassen werden. Zu diesem Vorhaben gehört der Pferdestall aus zwei Gründen nicht: Ponys gehören - im Gegensatz zu Hühnern, Kaninchen, Schweinen, Ziegen und Schafen - nicht mehr zu den „Kleintieren“ i.S. dieser Bestimmung. Ponys sind zwar kleine Pferde, aber keine Kleintiere. Der Kl. unterhält darüber hinaus keine Kleinsiedlung oder landwirtschaftliche Nebenerwerbsstelle, sondern hält die Ponys als Hobby. (Wird ausgeführt.)

Eine Ausnahme sieht der Bebauungsplan nicht vor. Auch die Voraussetzungen für die Gewährung einer Befreiung liegen nicht vor. Nach § 31 II BBauG 1979, der nach § 183 b BBauG 1979 hier maßgebend ist, kann die Baugenehmigungsbehörde im Einzelfall im Einvernehmen mit der Gemeinde und mit Zustimmung der höheren Verwaltungsbehörde Befreiung erteilen, wenn

(1) Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern oder

(2) städtebauliche Gründe die Abweichung rechtfertigen und die Grundzüge der Planung nicht berührt werden oder

(3) die Durchführung des Bebauungsplanes zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde,

und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. DerBekl. ist zu Recht davon ausgegangen, daß die Durchführung des Bebauungsplanes nicht zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führt (§ 31 II Nr. 3 BBauG 1979). Die Befreiung trägt der mit jeder Verallgemeinerung verbundenen Gefahr Rechnung, daß die Festsetzung eines Bebauungsplanes als Norm - in besonders gelagerten Fällen - Wirkungen zeitigt, die dem Ziel der Regelung nicht entsprechen (vgl. BVerwG, BSR 25 Nr. 163; NJW 1979, 939 = BRS 33 Nr. 150). Die Befreiung setzt daher in jedem Fall voraus, daß es sich um einen dem Schutzgut der Norm entzogenen Sonderfall handelt, weil eine Befreiung für den Regelfall sich gerade über die Interessenabwägung hinwegsetzen würde, die der maßgeblichen Festsetzung zugrunde liegt. Die Schwierigkeiten, die sich für die Ponyhaltung des Kl. aus der Unzulässigkeit eines Ponystalls ergeben, mögen eine Härte darstellen. Die Beschränkung der baulichen Ausnutzbarkeit des Grundstücks ist jedoch vom Bebaungsplan beabsichtigt: Nutzungswünsche eines Grundstückseigentümers begründen keine Besonderheit, die eine Abweichung von der Norm rechtfertigt, vielmehr können nur Besonderheiten bodenrechtlicher Art - wie die Lage und der Zuschnitt eines Grundstücks - zu der Annahme führen, daß ein Einzelfall dem Schutzgut der Norm entzogen ist.

Auch eine Befreiung aus städtebaulichen Gründen nach § 31 II Nr. 2 BBauG 1979 kommt nicht in Betracht. Der Wortlaut des § 31 II und die Begründung des Regierungsentwurfs (BT-Dr 8/2451, S. 23) lassen keine Zweifel daran, daß § 31 II Nr. 2 BBauG 1979 einen Befreiungstatbestand darstellt und nicht ein Rechtsinstitut eigener Art, das Abweichungen vom Bebauungsplan unter grundsätzlich anderen Voraussetzungen als die Befreiung ermöglicht:

„Nr. 2 des Entwurfs trägt dem Umstand Rechnung, daß eine Befreiung nur unter besonderen Voraussetzungen zulässig sein kann.“ (BT-Dr 8/2451, S. 23)

Als gegenüber § 31 II BBauG 1976 zusätzliche Befreiungsalternative setzt § 31 II Nr. 2 BBauG 1979 daher - wie zu § 31 II Nr. 3 BBauG 1979 bereits dargelegt - voraus, daß ein in bodenrechtlicher Beziehung atypischer Sonderfall vorliegt. Die Atypik kennzeichnet der Gesetzgeber damit, daß städtebauliche Gründe die Abweichung rechtfertigen und die Grundzüge der Planung nicht berührt werden. Gegenüber dem in § 31 II Nr. 1 BBauG 1979 verwendeten „erfordern“ stellt „rechtfertigen“ nach dem sprachlichen Gehalt geringere Anforderungen (vgl. Gelzer, BauplanungsR, 3. Aufl. [1979], Rdnr. 784 c). Berücksichtigt man freilich, daß das BVerwG (NJW 1979, 939 = BRS 33 Nr. 150) das „Erfordern“ i.S. eines „vernünftigerweise Gebotensein“ ausgelegt hat, bleibt die Frage, ob „rechtfertigen“ i.S. des § 31 II Nr. 2 BBauG 1979 etwas grundsätzlich anderes meint.

Die Tatsache, daß es sich beim Bebauungsplan um Ortsrecht handelt, das auf die städtebauliche Entwicklung und Ordnung (§ 1 III BBauG 1979) des Gemeindegebietes ausgerichtet ist, dessen Abwägungsergebnis durch besondere verfahrensrechtliche Sicherungen gewährleistet wird, verbietet es, die Voraussetzungen der Befreiung in einer Weise zu reduzieren, die auch die Geltungskraft des Bebauungsplanes relativieren würde. Das bestätigt auch die Begründung des Regierungsentwurfs (aaO), in der es heißt:

„Diese Voraussetzungen (s.c. des § 31 II Nr. 2) … berücksichtigen, daß eine Abweichung vom Bebauungsplan als Rechtssatz nur im Einzelfall und unter besonderen Voraussetzungen zulässig sein kann …

Eine weitergehende Änderung des § 31 II würde zu dem - rechtlich unhaltbaren - Ergebnis führen, daß ein Bebauungsplan nur insoweit gilt, wie seine Geltungskraft im Einzelfall noch gerechtfertigt wird. Damit würde der Bebauungsplan seine Lenkungsfunktion und seine Aufgabe, Schutz des berechtigten Vertrauens für die zu gewähren, die sich auf ihn verlassen haben, nicht mehr erfüllen können.“

Der Rang des Bebauungsplanes als Satzung verbietet es daher, eine Abweichung von der Festsetzung eines Bebauungsplanes schon dann zuzulassen, wenn die erstrebte Abweichung gegenüber der Festsetzung eine lediglich gleichrangige städtebauliche Lösung darstellen würde. Dabei müssen alle diejenigen Lösungen als gleichrangig angesehen werden, die die Gemeinde im Rahmen ihrer planerischen Gestaltungsfreiheit zulässigerweise zum Inhalt eines Bebauungsplanes hätte machen können. Würde die Befreiung nach § 31 II Nr. 2 BBauG 1979 lediglich voraussetzen, daß die erstrebte Abweichung von der Festsetzung eines Bebauungsplanes auch zulässiger Inhalt eines Bebauungsplanes sein könnte, (so wohl Bielenberg-Dyong, Die Novellen zum BBauG, 3. Aufl. [1979], Rdnr. 141 c), oder sich nach Maßgabe des § 34 I BBauG 1979 in die tatsächliche Eigenart der näheren Umgebung einfügen würde (so VG Schleswig, Urt. v. 8. 8. 1979 - 2 A 102/79), würde die Grenze zur Planänderung völlig verwischt und der Rang des Bebauungsplanes als Rechtssatz mißachtet. Denn Festsetzungen eines Bebauungsplanes sind in aller Regel nicht in derartig eindeutiger Weise durch die Lage des Plangebietes und andere objektive Kriterien vorgezeichnet, daß nur eine einzige Festsetzung in Betracht käme. Eine Grundflächenzahl von 0,2 in einem allgemeinen Wohngebiet wird in der Regel eine städtebaulich zulässige Festsetzung sein, sicher aber nicht die einzig zulässige Festsetzung: auch eine Grundflächenzahl von 0,25 oder 0,3 wird - jedenfalls bei einem Plan „auf der grünen Wiese“ - in der Regel als Abwägungsergebnis nicht zu beanstanden sein. Käme es nur darauf an, daß die Abweichung von der Festsetzung des Bebauungsplanes zulässiger Inhalt eines Planes sein könnte, wäre schon in einem solchen Fall, in dem die Gemeinde auch eine andere Festsetzung hätte treffen können, eine Befreiung in Betracht zu ziehen. Auch der Zulässigkeitsmaßstab des § 34 I BBauG 1979, der für die weitere Voraussetzung des § 31 II Nr. 2, daß „die Grundzüge der Planung nicht berührt werden“, gewisse Bedeutung hat (vgl. BVerwG, NJW 1979, 939 = BSR 33 Nr. 150), rechtfertigt kein Abweichen von der Festsetzung eines Bebauungsplanes. Zutreffend weist der beigeladene Innenminister darauf hin, daß Bebauungspläne für bebaute Gebiete nicht selten gerade die städtebauliche Eigenart des Planbereichs ändern sollen, so daß in diesen Fällen eine Befreiung nach Maßgabe des § 34 I BBauG der Konzeption des Planes gerade zuwiderlaufen würde. Darüber hinaus kann ein Vorhaben, das sich in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen würde, eine Abweichung von den Festsetzungen eines Bebauungsplanes aus städtebaulichen Gründen auch deshalb nicht rechtfertigen, weil der Zulässigkeitsmaßstab des § 34 I BBauG damit den Plan „überlagern“ würde. Damit würde das System des Bundesbaugesetzes aus den Angeln gehoben, das dem Maßstab des Bebauungsplanes bei der Zulässigkeit von Vorhaben Vorrang vor dem Maßstab des § 34 BBauG einräumt. Dieser Vorrang des Bebauungsplanes kommt nicht nur in § 34 I BBauG selbst zum Ausdruck, der nur anwendbar ist, „sofern § 30 keine Anwendung findet“, sondern ergibt sich vor allem aus der Funktion des Bebauungsplanes als dem Instrument zur städtebaulichen Entwicklung und Ordnung des Gemeindegebiets.

Städtebauliche Gründe rechtfertigen eine Abweichung von der Festsetzung eines Bebauungsplanes nach alledem erst, wenn aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalles die konkrete Festsetzung gegenüber der erstrebten Abweichung nicht mehr als angemessenes Abwägungsergebnis erscheint. Welche Fallgestaltungen danach für eine Befreiung nach § 31 II Nr. 2 BBauG 1979 in Betracht kommen, ob insbesondere diese Befreiungsalternative nur einen Unterfall der Befreiung aus Gründen des Wohls der Allgemeinheit (in der Auslegung des BVerwG, NJW 1979, 939 = BRS 33 Nr. 150) darstellt, bedarf hier keiner weiteren Erörterung, denn die einen Ponystall ausschließende Festsetzung eines allgemeinen Wohngebiets im Bebauungsplan Nr. 2 der Beigeladenen erscheint durchaus angemessen. Wie die zwischenzeitliche Bebauung zeigt, entspricht die Festsetzung eines allgemeinen Wohngebiets am Rande von H. einem Bedürfnis. Die Festsetzung des Grundstücks des Kl. als Kleinsiedlungs- oder Dorfgebiet, in denen der Pferdestall zulässig wäre, erscheint angesichts des großzügigen Landhauses des Kl. geradezu als ausgeschlossen, mindestens aber drängt sich eine derartige Festsetzung nicht auf.

Rechtsgebiete

Baurecht

Normen

BBauG 1979 § 31 II 2; BauNutzVO §§ 4, 14