Einbeziehung von Sozialversicherungsbeiträgen des Kindes in den Grenzbetrag
Gericht
BVerfG
Art der Entscheidung
Beschluss über Verfassungsbeschwerde
Datum
11. 01. 2005
Aktenzeichen
2 BvR 167/02
Der Beschluss des BFH vom 11. 12. 2001, VI R 16/00, verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes, soweit Sozialversicherungsbeiträge des Kindes in die Bemessungsgröße des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einbezogen werden und deshalb ein Anspruch auf Kindergeld für das Jahr 1998 wegen Überschreitung des Jahresgrenzbetrags versagt wird. Die Entscheidung des BFH wird aufgehoben und das Verfahren an den BFH zurückverwiesen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen des Verfassungsbeschwerdeverfahrens zu erstatten.
Auszüge aus dem Sachverhalt:
A. Die Verfassungsbeschwerde betrifft mittelbar die Frage, ob § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG i. V. m. § 52 Abs. 22a Satz 2 Buchst. a EStG i. d. F. des Jahressteuergesetzes 1997 vom 20. 12. 1996 (BGBl I 1996, 2049, 2066, 2070) verfassungsmäßig ist, insbesondere, ob für die Berücksichtigungsfähigkeit von Kindern im Familienleistungsausgleich deren eigene Einkünfte um Sozialversicherungsbeiträge zu mindern sind.
I. Die im Streitjahr 1998 geltende Fassung des hier angegriffenen § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG lautete:
Nach Satz 1 Nr. 1 und 2 wird ein Kind nur berücksichtigt, wenn es Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als 12 000 Deutsche Mark im Kalenderjahr hat; ...
Gemäß § 52 Abs. 22a Satz 2 EStG galt folgende Anwendungsregel:
§ 32 Abs. 4 Satz 2 ist anzuwenden
a) für den Veranlagungszeitraum 1998 mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Betrags von 12 000 Deutsche Mark der Betrag von 12 360 Deutsche Mark tritt, und
b) ab dem Veranlagungszeitraum 1999 ...
Im Streitjahr 1998 galt die Regelung unmittelbar für den Kinderfreibetrag nach § 32 Abs. 6 EStG, der auf das heute so genannte sächliche Existenzminimum des Kindes bezogen ist. Die Regelung galt zugleich für das Kindergeld (§ 63 Abs. 1 Satz 2 EStG) und mittelbar für den Haushaltsfreibetrag (§ 32 Abs. 7 EStG). Auch die damaligen Ausbildungsfreibeträge entfielen mit Wegfall des Kinderfreibetrags oder des Kindergeldes wegen eigener Einkünfte und Bezüge des Kindes (§ 33a Abs. 2 Satz 1 EStG).
Mittlerweile ist der Familienleistungsausgleich - veranlasst durch die Beschlüsse des BVerfG zur Familienbesteuerung vom 10. 11. 1998 (BVerfGE 99, 216; 99, 246; 99, 268; 99, 273, DStRE 1999, 96, 97, 99) - grundlegend weiterentwickelt worden. Der Kinderfreibetrag ist für das sächliche Existenzminimum seit den Jahren 2000 bzw. 2002 um einen Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf ergänzt worden (vgl. § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG). Der Haushaltsfreibetrag (§ 32 Abs. 7 EStG) wurde aufgehoben und 2004 durch einen Entlastungsbetrag für Alleinerziehende (§ 24b EStG) ersetzt. Der Sonderbedarf für ein volljähriges Kind, das sich in der Berufsausbildung befindet und auswärtig untergebracht ist, wird darüber hinaus mit einem weiteren Freibetrag abgegolten (§ 33a Abs. 2 EStG).
Anspruchsvoraussetzung in diesen Fällen sowie für das Kindergeld - unabhängig davon, ob es als erforderliche Steuerentlastung oder als Sozialleistung gewährt wird (vgl. § 31 Satz 2 EStG) - ist nach wie vor, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes die Freigrenze des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht überschreiten. In Fällen des § 33a Abs. 2 EStG kommt es überdies schon bei niedrigen Einkünften und Bezügen (ab 1 848 DM) zur Abschmelzung des Freibetrages.
II.1. Die Beschwerdeführerin bezog bis einschließlich Dezember 1997 für ihren 1979 geborenen Sohn Kindergeld. Der Sohn ließ sich seit August 1997 zum Industriemechaniker ausbilden. Im Streitjahr 1998 errechnete der Beklagte des Ausgangsverfahrens (das Arbeitsamt - Familienkasse) aus der Ausbildungsvergütung des Sohnes nach Abzug des Arbeitnehmerpauschbetrags (2 000 DM) Einkünfte i. H. von 12 489 DM und legte diesen Wert als Bemessungsgröße der Freigrenze in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG zu Grunde. Da die so ermittelte Bemessungsgröße um 129 DM über der Freigrenze (12 360 DM) lag, setzte die Familienkasse das Kindergeld ab 1. 1. 1998 auf null DM fest. Bei der Ermittlung der Bemessungsgröße blieb unberücksichtigt, dass der Sohn im Streitjahr 1998 Sozialversicherungsbeiträge i. H. von 3 078,38 DM (Krankenversicherung 1 051,34 DM, Rentenversicherung 1 535,38 DM, Arbeitslosenversicherung 491,66 DM) zahlen musste.
2. Das Niedersächsische FG wies die Klage der Beschwerdeführerin ab (EFG 1999, 713). Die Freigrenze sei überschritten. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG sei verfassungsgemäß, da das Existenzminimum des Kindes hinreichend freigestellt werde. Eine Härte- oder Übergangsregelung bei geringfügiger Überschreitung der Freigrenze sei verfassungsrechtlich nicht geboten.
3. Mit ihrer Revision trug die Beschwerdeführerin vor, die endgültigen Einkünfte des Sohnes betrügen für das Streitjahr 1998 13 127 DM, so dass die Freigrenze letztlich um 767 DM überschritten werde. Der ihr zustehende jährliche Kindergeldanspruch i. H. von 2 640 DM dürfe aus verfassungsrechtlichen Gründen nur um den den Grenzbetrag überschreitenden Betrag von 767 DM gekürzt werden, so dass ein Kindergeldanspruch i. H. von 1 873 DM verbleibe.
4. Der BFH wies die Revision gegen das Urteil mit Beschluss vom 11. 12. 2001 (HFR 2002, 508) als unbegründet zurück. Der Beschwerdeführerin stehe kein Anspruch auf Kindergeld für ihren Sohn zu, weil dessen Einkünfte die Freigrenze des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überschritten.
Der Begriff der „Einkünfte“ in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG entspreche der Legaldefinition in § 2 Abs. 2 EStG. Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit - wie im Streitfall - seien der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten, nicht das „zu versteuernde Einkommen“ (§ 2 Abs. 5 EStG). Der Beschluss führt die ständige Rechtsprechung des BFH fort (vgl. BFHE 107, 436, 439; 113, 28, 29; vgl. auch nachfolgend BFHE 204, 126, 129 ff., DStRE 2004, 314), nach der sich der einschränkende Relativsatz „die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind“ im Tatbestand des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG allein auf „Bezüge“ und nicht auf „Einkünfte“ bezieht.
Bei einem solchen Normverständnis mindern insbesondere die vom Sohn der Beschwerdeführerin geleisteten Sozialversicherungsbeiträge i. H. von 3 078,38 DM die Bemessungsgröße in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht. Der BFH geht dennoch in ständiger Rechtsprechung (vgl. BFHE 192, 316, 323 ff., DStR 2000, 1642; 204, 126,129 ff., DStRE 2004, 314; BFH/NV 2001, 1559; 2002, 788) auf der Grundlage seiner Auslegung der Norm von der Verfassungsmäßigkeit des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG aus. Das begründet er im Wesentlichen damit, dass unvermeidbare Sonderausgaben des Kindes - wie Sozialversicherungsbeiträge - bei der gesetzlichen Bemessung der Freigrenze (12 360 DM) i. H. von 1 436 DM (Streitjahr 1998) pauschal abgegolten und damit verfassungsrechtlich hinreichend berücksichtigt würden.
Dieses Ergebnis stützt der BFH auf folgende Erwägungen (vgl. die Begründung in BFHE 192, 316, 323 ff., DStR 2000, 1642, auf die die angegriffene Entscheidung verweist): Zweck der Regelung in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG sei die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern. Von der Gewährung des Kinderfreibetrags oder des Kindergeldes seien Eltern auszuschließen, deren Kinder über Einkünfte und Bezüge verfügten, die die Freigrenze überstiegen. Kinder mit Einkünften und Bezügen oberhalb der Freigrenze seien nicht bedürftig, so dass die Unterhaltspflicht der Eltern entfalle oder sich mindere. Die Freigrenze müsse allerdings der Höhe nach so bemessen sein, dass das Kind nach Abzug der nicht vermeidbaren Sonderausgaben - insbesondere der Sozialversicherungsbeiträge - seinen existenznotwendigen Bedarf decken könne (vgl. BFHE 192, 316, 328, DStR 2000, 1642). Existenzminimum und nicht vermeidbare Sonderausgaben dürften aber in der Freigrenze pauschaliert werden (vgl. BFHE 192, 316, 329, 330, DStR 2000, 1642).
Verfassungsrechtlich sei es nicht geboten, bei der Bemessung das Existenzminimum eines Erwachsenen zu Grunde zu legen (sog. Grundfreibetrag, vgl. § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG). Als Ausgangspunkt sei ein besonders zu errechnendes Existenzminimum für über 18-jährige Kinder in Berufsausbildung mit auswärtiger Unterbringung heranzuziehen (vgl. BFHE 192, 316, 326, DStR 2000, 1642). Dieses Existenzminimum entspreche etwa dem Kinder- und Ausbildungsfreibetrag für ein solches Kind. Mit Blick auf die angegriffene Freigrenze in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG könne offenbleiben, ob für die gebotene Freistellung des Existenzminimums des Kindes dessen Mehrbedarf im Fall einer Berufsausbildung mit auswärtiger Unterbringung in voller Höhe (des Ausbildungsfreibetrags von 4 200 DM gemäß § 33a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG) oder nur hälftig (2 100 DM) anzurechnen sei (vgl. BFHE 192, 316, 328, DStR 2000, 1642): Die gesetzliche Freigrenze von 12 000 DM werde auch beim Ansatz des vollen Ausbildungsfreibetrags nicht überschritten, wenn unvermeidbare Sonderausgaben - insbesondere Sozialversicherungsbeiträge - für das Jahr 1997 lediglich mit einer „Vorsorgepauschale“ i. H. von 1 400 DM berücksichtigt würden. Der Betrag von 10 600 DM (Freigrenze abzüglich „Vorsorgepauschale“ im Jahr 1997) decke das Existenzminimum von über 18-jährigen Kindern in Berufsausbildung mit auswärtiger Unterbringung ab. Insoweit berücksichtige die Freigrenze die verfassungsrechtlich gebotene Freistellung des familiären Existenzminimums hinreichend.
Bei dem Ansatz einer „Vorsorgepauschale“ von 1 400 DM (für das Jahr 1997) orientiert sich der BFH im Ausgangspunkt an der Vorsorgepauschale beim Bezug von Arbeitslohn gemäß § 10c Abs. 2 EStG a. F.: 20 v. H. eines nach der gesetzlichen Freigrenze noch „unschädlichen“ Bruttoarbeitslohns, für das Jahr 1997 also 20 v. H. von 14 000 DM (freigestellte Einkünfte zuzüglich Werbungskosten-Pauschbetrag von 2000 DM), ergibt 2 800 DM (entspricht 2 872 DM im Streitjahr 1998). Für den von der Freigrenze des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG zu berücksichtigenden Aufwand soll es nach der Ansicht des BFH allerdings ausreichen, wenn dieser nach dem Vorbild des § 10c Abs. 2 EStG a. F. ermittelte Betrag nicht in voller Höhe, sondern nur zur Hälfte pauschal angerechnet wird - für das Jahr 1997 also i. H. von 1 400 DM (entsprechend für das Streitjahr 1998 i. H. von 1 436 DM).
Diesen nur hälftigen Ansatz einer „Vorsorgepauschale“ begründet der BFH wie folgt (BFHE 192, 316, 329 ff., DStR 2000, 1642): Zwar lasse sich der Rechtsprechung des BVerfG nicht entnehmen, in welcher Höhe die Beiträge des Kindes zur Sozialversicherung bei der gesetzlichen Freigrenze anzusetzen seien, jedoch enthalte der Beschluss des Ersten Senats des BVerfG zum Ausbildungsfreibetrag (BVerfGE 89, 346) Ausführungen dahingehend, dass die Aufwendungen der Eltern für die Berufsausbildung ihrer Kinder der Familie als solcher zu Gute kämen, so dass der Gesetzgeber sie nur zur Hälfte zum Steuerabzug zulassen dürfe. Gleiches sei auch bei der pauschalen Berücksichtigung der Sozialversicherungsbeiträge anzunehmen, so dass nur eine hälftige Vorsorgepauschale auf die Freigrenze in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG anzurechnen sei. Zumindest die Beiträge zur Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung kämen nicht allein dem Kind zu Gute, sondern der Familie insgesamt. Die Beiträge zur Rentenversicherung seien auch Ausdruck des so genannten Generationenvertrages, und Ähnliches gelte für die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung. Diese dienten zwar in erster Linie der Absicherung des Kindes gegen die finanziellen Folgen einer Erkrankung und gegen das Pflegerisiko. Darüber hinaus kämen sie jedoch der Gemeinschaft der Versicherten in dem Sinne zu Gute, dass daraus auch Versicherungsleistungen für die Familien gezahlt würden, deren Beitragslast sich - unabhängig von der Zahl der Familienmitglieder - allein nach der Höhe der sozialversicherungspflichtigen Einkünfte der Eltern richte.
Diese Erwägungen hat der BFH in einer dem hier angegriffenen Beschluss nachfolgenden Entscheidung vom 4. 11. 2003 (vgl. BFHE 204, 126, 134, DStRE 2004, 314) bestätigt und ergänzt: Zwar führten die Sozialversicherungsbeiträge nicht stets zu - gegenwärtigen oder zukünftigen - Versicherungsleistungen für die Familie des pflichtversicherten Kindes. Jedoch komme es bei der gebotenen typisierenden und pauschalierenden Betrachtungsweise darauf nicht an. Entscheidend sei, dass ein Teil der Sozialversicherungsbeiträge der Solidargemeinschaft und über die dadurch bedingte Risikoverteilung auch wieder der Familie des Versicherten zugute kommen könne, indem sie diese von Unterhaltspflichten entlaste, wie sie etwa im Falle der Krankheit des Kindes, seiner Arbeitslosigkeit oder seiner Arbeitsunfähigkeit zu erfüllen seien. Die hälftige Anrechnung der Vorsorgepauschale statt des tatsächlichen Aufwands für Pflichtbeiträge berücksichtige auch, dass Sozialversicherungsbeiträge nicht bei allen Einkünften anfielen. Deshalb müsse allgemein eine hinreichende Vorsorgepauschale berücksichtigt werden, die nicht realitätsgerecht an der Höhe der tatsächlich anfallenden Kosten zu orientieren sei; es genüge, unter Berücksichtigung der Lastenverteilung zwischen Familien und Staat einen angemessenen Betrag festzusetzen.
Darüber hinaus geht der BFH im hier angegriffenen Beschluss im Einklang mit seiner ständigen Rechtsprechung (vgl. BFHE 192, 316, 331 ff., DStR 2000, 1642; 199, 194, 197, DStR 2002, 1391) davon aus, dass die Ausgestaltung des Grenzbetrags als Freigrenze in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG verfassungsgemäß sei. Erziele das Kind Einkünfte und Bezüge oberhalb der Freigrenze, seien weder Kindergeld noch ein Freibetrag zur Freistellung des existenznotwendigen Bedarfs erforderlich. Daraus folge, dass in Bezug auf den als Freigrenze ausgestalteten Grenzbetrag die verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen gleichmäßigen Belastungsanstieg und an die Vermeidung gleichheitswidriger Progressionssprünge keine Anwendung fänden (vgl. BFHE 192, 316, 332, DStR 2000, 1642).
III. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Versagung des Kindesgeldes im Streitjahr 1998. Die im angegriffenen Beschluss des BFH angewendete Regelung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG verletze sie u. a. in ihren Grundrechten aus Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG. Im Wesentlichen rügt sie:
1. Der Grenzbetrag in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG dürfe nicht als Freigrenze ausgestaltet sein. Vielmehr müsse die Norm eine Härte- und Übergangsregelung für den Fall enthalten, dass die Grenze knapp überschritten werde. Die starre Grenze belaste besonders hart, weil das gesamte, für das Jahr bereits ausgezahlte Kindergeld zurückgezahlt werden müsse, wenn die Freigrenze nur um eine DM überschritten sei. Ohne Härte- und Übergangsregelung entstünden gleichheitswidrige Progressionssprünge. Das lasse sich auch nicht mit Praktikabilitätserwägungen rechtfertigen. Eine Staffelung der Kinderfreibeträge sei unproblematisch und erfordere keinen erheblichen Verwaltungsmehraufwand.
2. In die Bemessungsgröße für die Freigrenze dürften die Sozialversicherungsbeiträge i. H. von 3 078,38 DM, die ihr Sohn gezahlt habe, nicht einfließen. Diese Pflichtbeiträge seien zwangsläufig pflichtbestimmte Aufwendungen ihres Sohnes, die abgezogen werden müssten. Anderenfalls entstünden Ungleichbehandlungen zwischen Kindern, die sozialversicherungspflichtige Arbeitseinkünfte erzielten, und Kindern, die übrige Einkünfte erzielten. Das gelte unabhängig davon, ob dem Kind durch die Pflichtbeiträge soziale Ansprüche erwüchsen oder solche geltend gemacht werden könnten. Es entstünde kein Mehraufwand durch eine „Schattenveranlagung“, da auch die Einkünfte und Bezüge des Kindes ermittelt werden müssten.
IV. Zu der Verfassungsbeschwerde hat für die Bundesregierung das BMF Stellung genommen. Es hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet, weil § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der Auslegung des BFH verfassungsgemäß sei.
1. Die Anknüpfung allein an den Begriff der „Einkünfte“ i. S. des § 2 Abs. 2 EStG als endgültige Bemessungsgröße sichere im Massenverfahren des Kindergeldrechts die verwaltungspraktische Umsetzung des Familienleistungsausgleichs ab und verhindere eine so genannte Schattenveranlagung der Familienkasse. Der Gesetzgeber habe darüber hinaus sicherstellen wollen, dass sonstige steuerliche Abzugsbeträge wie Sonderausgaben, die dem Steuerpflichtigen gewisse Gestaltungsspielräume eröffneten (z. B. durch Abschluss eines Lebensversicherungsvertrages), bei der Bestimmung der Freigrenze außer Betracht blieben. Auch werde durch die Anknüpfung an den steuerlichen Begriff der Einkünfte ausgeschlossen, dass die Finanzverwaltung Begriffsbestimmungen anderer Rechtsgebiete, wie z. B. des Unterhaltsrechts („wirtschaftliche Bedürftigkeit“) oder des Sozialversicherungsrechts, bei der Ermittlung der Bemessungsgröße anwenden müsse.
2. Die Freigrenze des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG genüge auch der Höhe nach den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Für das Jahr 2004, das hinsichtlich der Wertrelationen von Grenzbetrag und sozialhilferechtlichem Existenzminimum dem Streitjahr 1998 entspreche, zeige sich dies an der Freigrenze von 7 680 EUR. Diese übersteige das tatsächliche Existenzminimum (3 648 EUR) zuzüglich eines Betrags für den Betreuungs- und Erziehungsbedarf (2 160 EUR). Selbst wenn man den Sonderbedarf für die Ausbildung gemäß § 33a Abs. 2 EStG (924 EUR) hinzuziehe, erreiche man nur einen Betrag von 6 732 EUR für das Existenzminimum. Im Vergleich zur Freigrenze von 7 680 EUR sei der Differenzbetrag von 948 EUR ausreichend, um typisierend und unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Abzugsmöglichkeiten bei den einzelnen Einkunftsarten diejenigen Aufwendungen zu berücksichtigen, denen sich ein Kind nicht entziehen könne. Selbst wenn eine Vorsorgepauschale (§ 10c Abs. 2 EStG a. F.) zur Hälfte berücksichtigt werden müsse, bleibe der Gesamtbetrag des so ermittelten existenznotwendigen Bedarfes mit 7 592 EUR unter der Freigrenze.
Auszüge aus den Gründen:
B. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.
Die angegriffene Entscheidung des BFH verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG. Die Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG wird den Anforderungen an eine folgerichtige Ausgestaltung der verfassungskonkretisierenden Grundentscheidung des Gesetzes für die steuerliche Verschonung des familiären Existenzminimums und für eine weitergehende Familienförderung durch die Gewährung von Kinderfreibeträgen und Kindergeld nicht gerecht (I.). Die Vorschrift ist verfassungskonform so auszulegen, dass nicht nur Bezüge, sondern auch Einkünfte des Kindes nur dann in den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einfließen, wenn sie zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind (II.). Auf die Frage, ob die Ausgestaltung des Grenzbetrags in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG als Freigrenze verfassungsmäßig ist, kommt es danach nicht mehr an (III.).
I.1. Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfGE 98, 365, 385; st. Rspr.). Er gilt für ungleiche Belastungen wie auch für ungleiche Begünstigungen (vgl. BVerfGE 79, 1, 17). Verboten ist daher auch ein gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss (vgl. BVerfGE 93, 386, 396; 105, 73, 110 ff., 133, DStR 2002, 443), bei dem eine Begünstigung einem Personenkreis gewährt, einem anderen aber vorenthalten wird (vgl. BVerfGE 110, 412, 431). Differenzierungen, die dem Gesetzgeber verboten sind, dürfen auch von den Gerichten im Wege der Auslegung oder Fortbildung gesetzlicher Vorschriften nicht für Recht erkannt werden (vgl. BVerfGE 84, 197, 199).
Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen (vgl. BVerfGE 55, 72, 88; 88, 87, 96; 101, 54, 101; 107, 27, 45 f., DStR 2003, 633). Für die Anforderungen an Rechtfertigungsgründe für gesetzliche Differenzierungen kommt es wesentlich darauf an, in welchem Maß sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann (vgl. BVerfGE 105, 73, 110 f., DStR 2002, 443; 106, 166, 176; st. Rspr.). Genauere Maßstäbe und Kriterien dafür, unter welchen Voraussetzungen im Einzelfall der allgemeine Gleichheitssatz verletzt ist, lassen sich nicht abstrakt und allgemein, sondern nur bezogen auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche bestimmen (vgl. BVerfGE 75, 108, 157; 93, 319, 348 f.; 107, 27, 46 , DStR 2003, 633; st. Rspr.).
2. Mit seiner Begrenzung des Anspruchs auf Kinderfreibeträge gemäß § 32 Abs. 6 EStG und auf Kindergeld gemäß §§ 62 ff. EStG ist § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG zwei unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen zuzuordnen. Zum einen geht es um die verfassungsrechtlich gebotene steuerliche Verschonung des Familienexistenzminimums, zum anderen dienen die Regelungen zum Kindergeld, soweit dieses für die steuerliche Freistellung nicht erforderlich ist, der Förderung der Familie (§ 31 Satz 2 EStG), haben also eine von den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die steuerrechtliche Belastung unabhängige sozialrechtliche Funktion. Je nachdem, welche der möglichen Funktionen des Kindergeldes betroffen ist, können unterschiedliche Maßstäbe und Kriterien verfassungsrechtlich gebotener Gleichbehandlung in Betracht kommen (vgl. näher BVerfGE 110, 412, 433). Wieweit der im Ausgangsverfahren von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Anspruch auf Kindergeld steuerrechtliche oder (auch) davon unabhängige sozialrechtliche Funktionen erfüllt, kann hier gleichwohl offen bleiben. In jedem Fall fehlt es an verfassungsrechtlich hinreichenden Gründen für die Versagung des Anspruchs, soweit dies auf der Einbeziehung von Sozialversicherungsbeiträgen des Kindes in die Bemessungsgröße des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG beruht.
Bei der verfassungsrechtlich gebotenen einkommensteuerrechtlichen Freistellung des Familienexistenzminimums (vgl. BVerfGE 82, 198, 207; 99, 246, 259 f., DStRE 1999, 90), der differenzierenden Würdigung und Berücksichtigung auch von Aufwendungen jenseits des Existenzminimums, jedoch innerhalb der grundrechtlich geschützten Sphäre privater Lebensführung (vgl. BVerfGE 107, 27, 49, DStR 2003, 633), sowie bei der grundsätzlichen Ausrichtung der Steuerbelastung an der wirtschaftlichen bzw. finanziellen Leistungsfähigkeit (vgl. BVerfGE 82, 60, 86) unterliegt der Gesetzgeber tendenziell strikteren Bindungen als bei sozialrechtlichen Regelungen zur Förderung der Familie (vgl. BVerfGE 110, 412, 436, m. w. N.). Bei der Überprüfung, ob eine Regelung, die allein eine Begünstigung gewährt, den begünstigten vom nicht begünstigten Personenkreis im Einklang mit dem allgemeinen Gleichheitssatz abgrenzt, ist nicht zu untersuchen, ob der Gesetzgeber die zweckmäßigste oder gerechteste Lösung gefunden hat, sondern nur, ob er die verfassungsrechtlichen Grenzen seiner hierbei grundsätzlich weiten Gestaltungsfreiheit eingehalten hat (vgl. BVerfGE 23, 258, 264, m. w. N.; 52, 277, 280 f.; 84, 348, 359; st. Rspr.). Dem Gesetzgeber ist aber, auch soweit etwa das Kindergeld als Sozialleistung zu den Maßnahmen der darreichenden Verwaltung gehört, nicht gestattet, bei der Abgrenzung der Leistungsberechtigten sachwidrig zu differenzieren (vgl. BVerfGE 29, 71, 82; vgl. auch BVerfGE 99, 165, 178). Gewährt er aus bestimmten Gründen eine staatliche Sozialleistung, so hat deren Zweckbestimmung wesentliche Bedeutung dafür, unter welchen Voraussetzungen Ausnahmen sachlich hinreichend gerechtfertigt sind (vgl. BVerfGE 29, 71, 79; 110, 412, 436). Danach bleibt auch für die Würdigung der Kindergeldregelungen in ihrer sozialrechtlichen Funktion verfassungsrechtlich von Gewicht, dass der Gesetzgeber diese Regelungen in ein abgestimmtes System von Steuerentlastung und Sozialleistung eingefügt hat und dass es in jedem Fall auch um die Erfüllung und Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Schutzauftrags des Art. 6 Abs. 1 GG geht mit der Zielsetzung, die im Vergleich mit Kinderlosen verminderte finanzielle Leistungsfähigkeit der Familie teilweise auszugleichen (vgl. BVerfG v. 6. 7. 2004, 1 BvL 4/97 u. a., NVwZ 2005, 201, 202).
3. Nach diesen Maßstäben verstößt § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der Auslegung des BFH gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.
a) Die Einbeziehung von Sozialversicherungsbeiträgen in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG benachteiligt unterhaltsverpflichtete Eltern von Kindern, die sozialversicherungspflichtige Einkünfte oberhalb der Freigrenze beziehen, wie dies bei der Beschwerdeführerin der Fall ist, gegenüber unterhaltsverpflichteten Eltern, deren Kinder keine Einkünfte und Bezüge haben oder solche Mittel in einer Höhe beziehen, die noch unterhalb der Freigrenze bleiben, jedoch dieselbe Höhe erreichen, die sich bei sozialversicherungspflichtigen Einkünften oberhalb der Freigrenze erst nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge ergeben würde. Die anderen Eltern kommen in den Genuss eines Ausgleichs für ihre durch Unterhaltsverpflichtungen geminderte finanzielle Leistungsfähigkeit durch Gewährung von Kindergeld oder Kinderfreibeträgen. Dagegen wird ein solcher Ausgleich in der Fallgruppe mit Sozialversicherungspflicht versagt, obwohl Einkünfte in Höhe der gesetzlichen Pflichtbeiträge für den laufenden Unterhalt des Kindes, unabhängig von einer Willensbetätigung der Beteiligten, von vornherein nicht verfügbar sind und deshalb eine unmittelbare Erhöhung der finanziellen Leistungsfähigkeit der Eltern nicht bewirken können.
b) Für die Benachteiligung dieser Gruppe unterhaltspflichtiger Eltern fehlen hinreichende Gründe. Sie beruht schon nach dem Zweck der Gewährung von Kindergeld zur Förderung der Familie auf sachwidrigen Differenzierungen und verletzt deshalb den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.
Die entgegenstehende Rechtsprechung des BFH beruht entscheidend auf zwei Überlegungen, die nicht zu einer verfassungsrechtlich hinreichenden Begründung für das Auslegungsergebnis führen: Zum einen sei es im Anschluss an die Rechtsprechung des Ersten Senats des BVerfG zulässig, die gesetzlichen Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung des Kindes bei der Bewertung der Unterhaltslast der Eltern nur zur Hälfte zu berücksichtigen (aa), zum anderen sei dieser hälftige Betrag in verfassungsrechtlich zulässiger Weise bereits pauschalierend bei der Bemessung des Jahresgrenzbetrags berücksichtigt worden (bb).
aa) Wie auch der BFH (BFHE 192, 316, 328 f., DStR 2000, 1642) hervorhebt, ist deutlich erkennbarer und verfassungsrechtlich bedenkenfreier Zweck der Begrenzung von Ansprüchen gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG, diejenigen Eltern von finanziellen Entlastungen durch Freibeträge und Kindergeld auszuschließen, deren Kinder über eigene Einkünfte und Bezüge in einer das zu schützende Existenzminimum übersteigenden Höhe verfügen, so dass zugleich die Unterhaltspflicht der Eltern entfällt oder sich mindert. Die folgerichtige Beachtung dieses Zwecks verlangt, dass für die Einbeziehung von Mitteln des Kindes in die Bemessungsgröße für die Freigrenze die mögliche Entlastungswirkung solcher Mittel bei den unterhaltspflichtigen Eltern entscheidet, denn auf deren Leistungsfähigkeit kommt es für Gewährung und Begrenzung von Kindergeld und Kinderfreibeträgen an. Das Gesetz präsentiert so ein im Ansatz stimmiges Konzept von Grund- und Folgeentscheidung: Mit den zunächst für alle unterhaltspflichtigen Eltern geltenden Beträgen für Kindergeld und Kinderfreibeträge für Kinder im Alter von 18 bis 27 Jahren, die sich in der Ausbildung befinden und auswärtig untergebracht sind, bestimmt der Gesetzgeber die bezweckte Entlastungswirkung dem Grunde und der Höhe nach. Mit dem Jahresgrenzbetrag für „unschädliche“ Einkünfte und Bezüge des Kindes wird bestimmt, ob und wieweit anderweitige finanzielle Entlastungen der Unterhaltsverpflichteten eine aus öffentlichen Haushalten finanzierte zusätzliche Entlastung ausschließen. Stellt man bei dieser Abgrenzung dagegen auf Mittel ab, die eine effektive Entlastung der unterhaltsverpflichteten Eltern nicht bewirken können, so wird das folgerichtige Konzept des Gesetzes durchbrochen und einer Teilgruppe der durch Unterhaltspflichten belasteten Eltern die staatliche Entlastung zweckwidrig und deshalb ohne hinreichenden sachlichen Grund verweigert.
Dies ist der Fall bei der Einbeziehung von Sozialversicherungsbeiträgen in den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG. In Höhe dieser Beiträge, die vom Arbeitgeber abgeführt werden und deshalb nicht in den Verfügungsbereich des Arbeitnehmers gelangen, können Einkünfte des Kindes keine Minderung der Unterhaltslasten und somit auch keine Erhöhung der Leistungsfähigkeit der unterhaltsverpflichteten Eltern bewirken - unabhängig von deren Willen und vom Willen des unterhaltsberechtigten Kindes.
Der BFH stimmt mit dieser Beurteilung zwar im Ansatz überein (vgl. BFHE 192, 316, 324 ff., DStR 2000, 1642), nimmt aber gleichwohl die Entscheidung des Ersten Senats des BVerfG (BVerfGE 89, 346) zur Verfassungsmäßigkeit des Ausbildungsfreibetrags für seine Auslegung in Anspruch, wonach die Sozialversicherungsbeiträge des Kindes im Ergebnis jedenfalls zur Hälfte zum Nachteil der betroffenen Eltern berücksichtigt werden dürfen. Dies beruht auf einer Vermischung unterschiedlicher Entscheidungsgegenstände und -kriterien, nämlich einerseits der Grundentscheidung für den Ausgleich verminderter finanzieller Leistungsfähigkeit durch Unterhaltspflichten und andererseits der Folgeentscheidung über die anspruchsbegrenzende Berücksichtigung anderweitiger Entlastung der Unterhaltsverpflichteten durch eigene Einkünfte und Bezüge des Kindes.
In der vom BFH herangezogenen Entscheidung des BVerfG geht es um das Maß der steuerlichen Berücksichtigung von Ausbildungskosten bei auswärtiger Unterbringung. Der Erste Senat unterscheidet dort zwischen der „Existenzsicherung im engeren Sinne“ und der „Berufsausbildung von Kindern, insbesondere deren auswärtige(r) Unterbringung im Zusammenhang mit einer beruflichen Ausbildung“. Letztere Ausgaben entstünden nicht mit gleicher Zwangsläufigkeit wie die zur Existenzsicherung und stellten zudem zumindest auf längere Sicht „Investitionen der Eltern in die wirtschaftliche Zukunft ihrer Kinder dar“. Deshalb, so der Erste Senat, sei eine verfassungsrechtliche „Untergrenze“ bei der steuerlichen Berücksichtigung solcher Ausgaben jedenfalls dann noch nicht unterschritten, wenn deren Absetzbarkeit auf die Hälfte der üblicherweise anfallenden Kosten begrenzt sei (vgl. BVerfGE 89, 346, 354 f.).
Vor dem Hintergrund der Trennung zwischen der Grundentscheidung über einen Ausgleich geringerer finanzieller Leistungsfähigkeit unterhaltsverpflichteter Eltern und der Folgeentscheidung über eine sachgerechte Begrenzung entsprechender Ansprüche Unterhaltsverpflichteter bei anderweitiger Entlastung wird deutlich, dass die Erwägungen des Ersten Senats nur für die Grundentscheidung von Bedeutung sind, nicht aber für die Frage, was als effektive Entlastung zu werten ist und deshalb zu einer sachgerechten Begrenzung von Ansprüchen führen darf. Nur bei der Grundentscheidung kann es um eine differenzierende Bewertung von Unterhaltsaufwendungen in verschiedenen und auch unterschiedlich gestalteten Lebensphasen der Kinder gehen. Dabei kann dann auch berücksichtigt werden, dass Kosten für erhöhte Bedarfe in der Ausbildungsphase, die auch Folge gegenwärtiger wie Ursache späterer privilegierter Positionen der Unterhaltsberechtigten sein können, nicht unbesehen auf die Allgemeinheit der Steuerpflichtigen zu verteilen sind. Dies alles hat aber mit einer sachgerechten Bestimmung der in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geregelten Freigrenze nichts zu tun: Darüber, in welcher Höhe der Gesetzgeber unterhaltsverpflichtete Eltern von über 18-jährigen Kindern in Berufsausbildung mit auswärtiger Unterbringung grundsätzlich entlasten will, geben die Tatbestände der Kinderfreibeträge und des Kindergeldes Auskunft. Die Freigrenze des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG dagegen bestimmt eine folgerichtige Begrenzung von Ansprüchen nur für jene spezielle Teilgruppe Unterhaltsverpflichteter, die auf Grund zusätzlicher Merkmale, nämlich wegen eigener Einkünfte und Bezüge des Kindes, nicht vergleichbar entlastungsbedürftig sind.
Auch die zusätzlichen Hinweise auf etwaige Begünstigungen der Unterhaltsverpflichteten durch die Risikoabsicherung des versicherten Kindes in Fällen von Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit (vgl. BFHE 204, 126, 134, DStRE 2004, 314) können nicht rechtfertigen, dass von vornherein nicht verfügbare Mittel des Kindes wie Sozialversicherungsbeiträge (zur Hälfte) so wie andere, für den Unterhalt des Kindes verfügbare Mittel als Beitrag zur Entlastung der unterhaltsverpflichteten Eltern zu werten wären. Versicherungsleistungen an das Kind wie Arbeitslosengeld und Rentenleistungen sind nach der Konzeption des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG erst zum Zeitpunkt des Zuflusses gegebenenfalls als Einkünfte oder Bezüge zu berücksichtigen. Insbesondere Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung erhält die ganz überwiegende Mehrheit aller Kinder jedoch unabhängig von eigenen sozialversicherungspflichtigen Einkünften, da fast 90 v. H. der Bevölkerung in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind (vgl. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Bd. 137, Daten des Gesundheitswesens, Ausgabe 2001, S. 337) und diese ohne Auswirkung auf die Beitragshöhe als Familienversicherung ausgestaltet ist, Kinder ohne versicherungspflichtige eigene Einkünfte also beitragsfrei mitversichert sind (§ 10 SGB V sowie für die Pflegeversicherung § 25 SGB XI).
bb) Auch die Annahme, der (hälftige) Ansatz einer „Vorsorgepauschale“ innerhalb der Bemessungsgröße des Jahresgrenzbetrags gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG genüge den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine gleichheitsgerechte Ausgestaltung (vgl. BFHE 192, 316, 328 ff., DStR 2000, 1642), leidet an der mangelnden Differenzierung zwischen Entlastungsgrundentscheidung und Folgeentscheidung über sachgerechte Anspruchsbegrenzungen und verfehlt mangels Orientierung am typischen Fall auch die Anforderungen an eine realitätsgerechte Typisierung.
Der Ansatz einer Pauschale statt der tatsächlich gezahlten und nicht verfügbaren Sozialversicherungsbeiträge soll die Gleichbehandlung mit den Fällen sichern, in denen nicht sozialversicherungspflichtige Einkünfte, z. B. aus Kapitalvermögen, erzielt werden. Indes wirkt ein solcher Ansatz in den Fällen, in denen Einkünfte ohne Sozialversicherungspflicht erzielt werden, ganz überwiegend als ein Vorteil, dem keine entsprechende Belastung korrespondiert. Dasselbe gilt für alle Fälle, in denen das Kind Bezüge erhält, die von vornherein nur insoweit angerechnet werden, als sie für den Unterhalt bestimmt oder geeignet sind. Nur in der vergleichsweise sehr kleinen Gruppe von weniger als 10 v. H. der Bevölkerung, die nicht gesetzlich, sondern privat krankenversichert ist (vgl. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Daten des Gesundheitswesens, a. a. O.), kann es zusätzliche besondere Belastungen unterhaltsverpflichteter Eltern insbesondere mit Kosten einer privaten Krankenversicherung auch für ihr nicht beitragsfrei mitversichertes Kind geben. Eine Berücksichtigung dieser Belastung wäre jedoch bei der grundsätzlichen Bemessung der Freibeträge zu thematisieren. Ein Problem der Bemessung eines Grenzbetrags speziell in den Fällen eigener Einkünfteerzielung von Kindern in der Ausbildungsphase ist dies ersichtlich nicht.
Dem unterstellten Ansatz einer - hälftigen - „Vorsorgepauschale“ innerhalb des Jahresgrenzbetrags gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG fehlt nach allem auch die Orientierung am typischen Fall der Normanwendung: In den Fällen tatsächlicher Belastung mit Sozialversicherungsbeiträgen trägt er dieser Belastung nicht hinreichend Rechnung, in den übrigen Fällen, in denen das unterhaltsberechtigte Kind Einkünfte und Bezüge ohne Sozialversicherungspflicht erhält, wirkt er jedoch überwiegend wie eine zusätzliche Begünstigung. Eine mögliche Rechtfertigung der Pauschalierung als eine hinreichend realitätsgerechte Typisierung (vgl. BVerfGE 27, 142, 150; 39, 316, 329; 66, 214, 223; 68, 143, 153) kommt danach nicht in Betracht, zumal auch angesichts der leichten Feststellbarkeit der tatsächlichen Höhe von Sozialversicherungsbeiträgen der Gewinn an Praktikabilität des Verfahrens nicht erheblich ins Gewicht fällt.
c) Für die Benachteiligung unterhaltsverpflichteter Eltern mit Kindern, die sozialversicherungspflichtige Einkünfte beziehen, fehlt es schon im Hinblick auf den Zweck der Familienförderung an verfassungsrechtlich tragfähigen Gründen. Angesichts der tendenziell strikteren Anforderungen an die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen bei der steuerrechtlichen Freistellung des Familienexistenzminimums (oben I. 2.) bedarf es keiner weiteren Begründung dafür, dass die Einbeziehung von Sozialversicherungsbeiträgen in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG auch im Hinblick auf die steuerrechtliche Funktion des Kindergeldes die Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG an eine folgerichtige Ausgestaltung der gesetzlichen Grundentscheidung verfehlt. Da sich der Verfassungsverstoß bereits daraus ergibt, dass die Einbeziehung von Sozialversicherungsbeiträgen das Kriterium einer tatsächlichen Entlastung der unterhaltsverpflichteten Eltern verfehlt, kommt es auf weitere Fragen der Bemessung der Höhe des Jahresgrenzbetrags nicht an. Offen bleiben kann insbesondere die grundsätzliche Frage, ob die Höhe der Freigrenze von Verfassungs wegen am Existenzminimum eines Alleinstehenden zu orientieren ist, wie dies ausweislich der Entstehungsgeschichte (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses zum Entwurf eines Jahressteuergesetzes 1996, BT-Drs. 13/1558, S. 139 f.) tatsächlich durch die annähernde Übereinstimmung des Betrags mit dem Grundfreibetrag (§ 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG) geschehen ist, oder ob die Höhe des Grenzbetrags in Anlehnung an das niedrigere Kindesexistenzminimum zu bestimmen ist (so etwa BFHE 192, 316, 326 f., DStR 2000, 1642; 204, 126, 132 f., DStRE 2004, 314; BFH/NV 2001, 1559, 1560).
II. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ist verfassungskonform so auszulegen, dass von den Bezügen wie von den Einkünften nur diejenigen in die Bemessungsgröße des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einfließen, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind. Beim Sohn der Beschwerdeführerin betragen die danach zu berücksichtigenden Einkünfte 10 048,52 DM, so dass der Beschwerdeführerin im Streitjahr 1998 Kindergeld in voller Höhe zu gewähren ist.
1. Die verfassungskonforme Auslegung einer Norm ist dann geboten, wenn unter Berücksichtigung von Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesamtzusammenhang und Zweck mehrere Deutungen möglich sind, von denen nicht alle, aber zumindest eine zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt (vgl. BVerfGE 2, 266, 282; 68, 337, 344; 88, 203, 331). Durch den Wortlaut (BVerfGE 87, 209, 224; 101, 312, 329; 101, 397, 408; 102, 254, 340, m. w. N.), die Entstehungsgeschichte (vgl. BVerfGE 80, 1, 23; 88, 40, 56 f.) und den Gesetzeszweck (vgl. BVerfGE 101, 54, 87) werden der verfassungskonformen Auslegung Grenzen gezogen. Ein Normverständnis, das in Widerspruch zu dem klar erkennbar geäußerten Willen des Gesetzgebers treten würde, kann auch im Wege verfassungskonformer Auslegung nicht begründet werden (vgl. BVerfGE 95, 64, 93; 99, 341, 358; 101, 312, 329, m. w. N.; st. Rspr.). Anderenfalls würde das BVerfG der rechtspolitischen Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers vorgreifen (vgl. BVerfGE 8, 71, 79).
2. Hiernach nicht zu beanstanden ist die Auslegung des BFH, wonach es nicht möglich sei, den Begriff der Einkünfte in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG als „zu versteuerndes Einkommen“ zu interpretieren. Der Begriff der Einkünfte ist in § 2 Abs. 2 EStG klar bestimmt und deutlich vom Begriff des zu versteuernden Einkommens (vgl. § 2 Abs. 5 EStG) zu unterscheiden. Eine andere Auslegung, die von der tradierten steuerrechtlichen Terminologie abwiche, würde in Widerspruch zu Wortlaut und systematischem Zusammenhang der Norm treten und damit auch zum klar geäußerten Willen des Gesetzgebers. Zudem bietet sich eine näher liegende Alternative bei der Suche nach einem verfassungsmäßigen Ergebnis an.
3. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG bietet Raum für eine verfassungskonforme Auslegung. Der Relativsatz „die zur Bestreitung des Unterhalts (...) bestimmt oder geeignet sind“ ist nicht nur auf Bezüge, sondern auch auf Einkünfte des Kindes zu beziehen (so auch Jachmann, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 32 Rn. A 71; Kanzler, FamRZ 2003, 1886, 1887, DStRE 2003, 975). Dabei kann hier offen bleiben, in welchen Fällen der Relativsatz im Einzelfall auf Einkünfte anzuwenden ist. Jedenfalls sind diejenigen Beträge, die, wie die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge, von Gesetzes wegen dem einkünfteerzielenden Kind oder dessen Eltern nicht verfügbar sind und deshalb keine Entlastung bei den Eltern bewirken können, sondern anderen Zwecken als der Bestreitung des Unterhalts zu dienen bestimmt sind, nicht in die Bemessungsgröße des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einzubeziehen.
Dieses Ergebnis steht im Einklang mit dem Wortlaut der Norm. Die Trennung der Begriffe Einkünfte und Bezüge durch die Konjunktion „und“ statt „oder“ spricht nicht dafür, dass sich der Relativsatz nur auf Bezüge beziehen muss. Die Konjunktion „und“ kann ebenso - klarstellend - zum Ausdruck bringen, dass Einkünfte und Bezüge kumulativ und nicht alternativ bei der Berechnung der Bemessungsgröße zu berücksichtigen sind. Die grundsätzliche Vereinbarkeit einer solchen Auslegung mit dem Wortlaut wird durch den Umstand bestätigt, dass der BFH 1958 zu einer gleich lautenden Vorschrift (§ 33a EStG a. F.) ebenfalls zu dem Ergebnis gekommen ist, dass sich der Relativsatz auf „Einkünfte“ ebenso wie auf „Bezüge“ beziehe (vgl. BFHE 66, 277, 280 f.).
Auch die Entstehungsgeschichte lässt keine durchgreifenden Bedenken erkennen, weshalb sich der Relativsatz nur auf „Bezüge“, nicht aber auf „Einkünfte“ beziehen soll. Ausweislich der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 4/2617, S. 6) sollte es für die Gewährung der Freibeträge nicht allein darauf ankommen, ob der unterhaltspflichtige Steuerpflichtige die Unterhalts- und Ausbildungskosten tatsächlich überwiegend getragen hat. Es sollte vielmehr auch berücksichtigt werden, ob das Kind aus seinen eigenen Einkünften und Bezügen zu den Kosten seines Unterhalts und seiner Berufsausbildung hätte beitragen können (BT-Drs. 4/2617, S. 6). Das ist mit einer Auslegung vereinbar, nach der nur die Einkünfte, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung geeignet sind, in die Bemessungsgröße einfließen. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich nicht ausdrücklich, dass sich der Relativsatz - der bereits im begründeten Gesetzesentwurf (BT-Drs. 4/2617, S. 12) vorgesehen war - nur auf Bezüge, nicht aber auf Einkünfte beziehen sollte.
Schließlich entspricht es dem Sinn und Zweck des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG, den Relativsatz auch auf Einkünfte anzuwenden, denn diese Auslegung dient einer widerspruchsfreien Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit der unterhaltspflichtigen Eltern unter Berücksichtigung des Gebots der steuerlichen Verschonung des Familienexistenzminimums wie des Ziels der Förderung der Familie.
III. Auf die Rüge, die Ausgestaltung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG als Freigrenze ohne Übergangs- oder Härtefallregelung sei verfassungswidrig, kommt es darauf nach dem vorangehenden Entscheidungsergebnis mangels nachteiliger Betroffenheit der Beschwerdeführerin nicht mehr an.
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