Kraftfahrer bei Vorbeifahrt an Straßenbahninsel

Gericht

OLG Celle


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

12. 05. 2005


Aktenzeichen

14 U 232/04


Leitsatz des Gerichts

Ein Kraftfahrer, der an einer Straßenbahnhalteinsel vorbeifährt, braucht nicht deshalb schon mit Schrittgeschwindigkeit zu fahren, weil Fußgänger auf die Straße laufen könnten. Er darf vielmehr darauf vertrauen, dass sein Vorrecht beachtet werden wird.

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 1. November 2004 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 20. Zivilkammer des Landgerichts Hannover teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche künftigen materiellen Schäden, die aus dem Verkehrsunfall vom 4. Dezember 2001 auf der P.straße in H. resultieren, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen werden.

Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin 88 % und die Beklagten 12 %.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 12.594,41 EUR festgesetzt.

Entscheidungsgründe


Entscheidungsgründe:

I.

Die Klägerin begehrt Schadensersatz, Schmerzensgeld und Feststellung anlässlich des im Tenor genannten Verkehrsunfalles. Wegen der näheren Sachdarstellung wird auf das angefochtene Urteil der Einzelrichterin der 20. Zivilkammer des Landgerichts Hannover vom 1. November 2004 verwiesen, mit dem die Klage insgesamt abgewiesen worden ist. Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr erstinstanzliches Prozessziel weiter. Das Landgericht habe schon angesichts des unstreitigen Vortrags der Parteien eine Geschwindigkeit des Beklagten von mindestens 20 km/h annehmen müssen, was angesichts der Beschilderung an der Unfallörtlichkeit und der dort angebrachten Warnblinkleuchten (vgl. Foto 6 auf Bl. 57 d. A.) zu schnell gewesen sei. Der Beklagte habe höchstens Schrittgeschwindigkeit fahren dürfen. Außerdem habe das Landgericht zu Unrecht die Zeugin L. für nicht glaubwürdig angesehen. Darüber hinaus sei der Klägerin nunmehr eine weitere Zeugin für das Geschehen bekannt geworden.

Die Klägerin beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils,

die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichtes gestellt wird, jedoch nicht unter 5.000 EUR liegen sollte, nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz seit dem 15. April 2002 zu zahlen,

sowie festzustellen, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche materiellen und immateriellen Schäden, die aus dem Verkehrsunfall resultieren, zu ersetzen, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind,

sowie die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie 4.594,11 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagten beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigen das angefochtene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens.


II.

Die Berufung erweist sich nur zum geringen Teil als begründet. Weil sich ein Verschulden des Beklagten zu 1 nicht nachweisen lässt (dazu unter 1.), haften die Beklagten nur aus dem Gesichtspunkt der Betriebsgefahr des von diesem geführten Fahrzeugs (dazu unter 2.). Deswegen hat die Klägerin keinen Anspruch auf das von ihr geltend gemachte Schmerzensgeld, da der Sachverhalt nach der Rechtslage vor Inkrafttreten des 2. Gesetzes zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften zu beurteilen ist. Die Kosten des von ihr in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachtens (als materielle Schadensposition) kann die Klägerin hingegen gleichwohl nicht ersetzt verlangen (dazu unter 3.).

1. Ein Verschulden des Beklagten zu 1 am Zustandekommen des Verkehrsunfalls ist nicht feststellbar, worauf der Senat bereits mit Verfügung vom 14. Januar 2005 (Bl. 167 d. A.) hingewiesen hat. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Beklagte nun mit einer Geschwindigkeit von unter 20 km/h gefahren ist, wie das Landgericht unter Berücksichtigung des sehr kurzen Anhalteweges angenommen hat, oder, wie die Klägerin mit der Berufung weiterverfolgt, mit einer Geschwindigkeit von mindestens 20 km/h (wie die Klägerin mit der Berufung unter Bezugnahme auf die Aussage ihrer Schwester und entsprechende Berechnungen behauptet, vgl. Bl. 161 unten d. A.) oder gar 30 km/h (wie sich aus der Schätzung einer im Berufungsverfahren als neues Beweismittel angebotenen weiteren Zeugin ergeben soll, auch wenn diese im Widerspruch zu der in der Berufungsbegründung in Bezug genommenen Berechnung stünde). Auch eine Geschwindigkeit von 20 oder 30 km/h wäre dem Beklagten zu 1 in der Verkehrssituation vor der Kollision nämlich nicht ohne weiteres als Verschulden anzulasten. Der Beklagte zu 1 befuhr zur Hauptverkehrszeit die P.straße, einen der bedeutendsten ... Verkehrswege, stadteinwärts. Auch wenn er dabei an einer in der Straßenmitte gelegenen, aber mit einer eigenen Verkehrsinsel versehenen Straßenbahnhaltestelle vorbeigefahren ist, in die soeben (in etwa gleichauf mit dem Beklagten zu 1) eine Straßenbahn einfuhr, weshalb die Warnblinkleuchten an einem Verkehrsschild über der Straße (vgl. Foto Bl. 57 unten d. A.) im Betrieb gewesen sein könnten, war der Beklagte zu 1 entgegen der Auffassung der Klägerin nicht gehalten, seine Geschwindigkeit auf Schritttempo zu reduzieren.

Etwas anderes könnte allenfalls gelten, wenn die (damals rd. 6 ½ Jahre alte) Klägerin bereits an der Straßenseite der rechtsseitig geparkten Pkw gestanden hätte und dort sichtbar gewesen wäre, was aber nach dem erstinstanzlichen Beweisergebnis nicht festgestellt werden kann. Allein die Tatsache, dass in der Mitte der P.straße eine Straßenbahnhaltestelle gelegen ist (welche auch die Klägerin erreichen wollte) und dass ein Zeichen 133 nach § 40 StVO in diesem Bereich angebracht ist, unter welchem sich gelbe Warnblinkleuchten befinden, ändert daran nichts. Diese Beschilderung soll ersichtlich Verkehrsteilnehmer vor denjenigen Gefahren warnen, die im Zusammenhang mit eingefahrenen Straßenbahnen und ihren ein und aussteigenden Fahrgästen bestehen können, insbesondere, weil zu befürchten ist, dass Aussteiger auf direktem Wege versuchen könnten, die Fahrbahn zu überqueren. Eine solche Gefahr konnte sich im vorliegenden Fall aber schon deswegen nicht verwirklichen, weil die Straßenbahn in die Haltestelle erst einfuhr (sie war in etwa gleichauf mit dem Beklagten zu 1). Die Warnbeschilderung dient ersichtlich nicht dem Zweck, Fußgängern das Überqueren der P.straße vom Bürgersteig zur „Fußgängerinsel“ an der Straßenbahnhaltestelle zu erleichtern oder gefahrlos möglich zu machen (anderenfalls hätte dort ein Zebrastreifen oder eine Fußgängerbedarfsampel angebracht werden müssen). Mit Fußgängern, die die Verkehrsinsel an der Straßenbahnhaltestelle erreichen wollen, ist schließlich immer, und nicht nur bei gerade einfahrenden Straßenbahnen zu rechnen. Angesichts dessen, dass die Straßenbahn neben ihm die Haltestelle noch nicht erreicht und auch noch nicht angehalten hatte, musste der Beklagte zu 1 nicht mit unvorsichtigen Aussteigern rechnen und seine Geschwindigkeit auf weniger als 20 (oder 30) km/h reduzieren.

Auch die von der Klägerin in der Berufungsbegründung zitierte Bestimmung des § 20 StVO sowie die Literatur und Rechtsprechung hierzu besagt nichts anderes. Die Vorschrift greift schon deswegen nicht ein, weil sich die Straßenbahnhaltestelle im vorliegenden Fall nicht auf der von Autos befahrenen Fahrbahn der P.straße befand, sondern an einer eigenen Haltestelleninsel, an der ein Kraftfahrer darauf vertrauen darf, dass Wartende und Aussteigende nicht unverhofft auf die Fahrbahn treten (vgl. BGH NJW 1967, 981 = MDR 1967, 579, auch Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl. 2005, Rn. 8 zu § 20 StVO). Hinzu kommt, dass der Beklagte zu 1 ohnehin jedenfalls mit einer deutlich niedrigeren Geschwindigkeit gefahren ist, als auf der P.straße generell zulässig. Auch nach dem Vortrag der Klägerin in der Berufungsbegründung ergibt sich aus dem kurzen Anhalteweg des Fahrzeugs des Beklagten (selbst nach der Aussage der Schwester der Klägerin war dieses bereits eineinhalb Fahrzeuglängen nach dem Kollisionspunkt zum Stehen gekommen) keine höhere Geschwindigkeit als 20 km/h. Dem entspricht es auch, dass es die Klägerin gewesen ist, die gegen das Fahrzeug des Beklagten seitlich gegengelaufen ist und nicht etwa der Beklagte die Klägerin mit seiner Fahrzeugfront erfasst hat. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der zu beurteilende Sachverhalt auch von dem, der der Entscheidung des OLG Naumburg (OLGR Naumburg 1996, 61 f.) zugrunde liegt und bei dem ein Kraftfahrer in einem Wohngebiet, in dem die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h beschränkt war, mit einer Geschwindigkeit von 31 km/h gefahren ist.

Aus diesem Grund steht der Klägerin weder ein Schmerzensgeldanspruch noch ein Feststellungsanspruch wegen späterer immaterieller Schäden zu, weil nach damaliger Rechtslage Schmerzensgeldansprüche nur bei Vorliegen eines Verschuldens eröffnet waren (§ 847 BGB a. F.).

2. Der Auffassung des Landgerichts, der Unfall sei für den Beklagten zu 1 darüber hinaus unabwendbar im Sinne des § 7 StVG a. F. gewesen, vermag sich der Senat hingegen nicht anzuschließen, worauf ebenfalls bereits hingewiesen worden ist. Die Unabwendbarkeit ist, anders als das zuvor erörterte Verschulden, vom Kraftfahrer und nicht vom Anspruchsteller zu beweisen. Auch insoweit gilt, dass sich der Standort der Klägerin vor der Kollision nicht mit ausreichender Gewissheit feststellen lässt. Dabei kommt es nicht, wie im angefochtenen Urteil formuliert, darauf an, ob anzunehmen ist, „dass der Beklagte bei besonderer Sorgfalt die Klägerin noch rechtzeitig hätte erkennen können“, sondern darauf, dass die Beklagten beweisen müssen, dass dies eben nicht der Fall gewesen ist. Immerhin hat die Zeugin L., die Schwester der Klägerin, bekundet, dass die Klägerin jedenfalls vor ihr (die Zeugin selber war auf dem Bürgersteig stehen geblieben) gewesen sei. Die weiteren vernommenen Zeugen haben zum Standort der Klägerin dagegen gar nichts angeben können. Angesichts dessen lässt es sich nicht sicher feststellen, dass der Beklagte die Klägerin (ein 6 ½jähriges Kind) und deren Überquerungsabsicht nicht vor der Kollision erkennen konnte und deshalb nicht doch Anlass zu weitergehender Geschwindigkeitsverminderung gehabt haben könnte. Im Übrigen haben auch die Beklagten zur Frage der Vermeidbarkeit (die ebenfalls Gegenstand des Hinweises des Senats war) in der Berufungsinstanz nichts weiteres vorgetragen.

Deshalb steht der Klägerin der geltend gemachte Feststellungsanspruch hinsichtlich materieller Schäden zu, wobei der Senat diesen dahin versteht, dass er auf zukünftige Schäden gerichtet ist (anderenfalls wäre ja auch vorrangig Leistungsklage zu erheben gewesen). Ein Feststellungsinteresse ist angesichts der durchaus gravierenden Verletzungen der Klägerin (darunter auch Frakturen) ohne weiteres zu bejahen.

3. Gleichwohl steht der Klägerin der von ihr geltend gemachte Anspruch auf Ersatz der Kosten für das eingeholte Gutachten des Sachverständigen Dr. Ing. J. nicht zu. Soweit sich die Klägerin zur Begründung darauf beruft, dass dieses Gutachten erforderlich gewesen sei, um dem Beklagten ein Verschulden vorwerfen zu können, gilt dies schon deshalb, weil ein Verschulden des Beklagten zu 1 nach dem oben Gesagten gerade nicht nachweisbar ist. Zur Vermeidbarkeit hingegen hatte die Klägerin schon deswegen keine Veranlassung ein Gutachten einzuholen, weil deren Gegenteil von der Gegenseite zu beweisen ist.

Im Übrigen stellt sich das eingeholte Gutachten als so wenig brauchbar dar, dass die Bezahlung der mit 4.600 EUR ohnehin exorbitant hohen Rechnung sogar ein Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht darstellen könnte. Die üblicherweise durch Unfallrekonstruktionsgutachten zu klärenden Fragen der Fahrtgeschwindigkeit, ZeitWegeBerechnungen usw. hat der Sachverständige (dessen Metier ausweislich des Kopfbogens des Gutachtens „Wertermittlungen, Beratungen, Planungen und Überwachungen“ sind) nicht beantwortet, sondern stattdessen überwiegend Zeugenaussagen aus den Ermittlungsakten dargestellt und gewürdigt sowie rechtliche „Forderungen im Straßenverkehr an KfzFahrer laut StVO“ zusammen gefasst, was als jeweils juristische Tätigkeit schwerlich Aufgabe eines technischen Sachverständigen gewesen sein kann.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 543 ZPO.

Den Streitgegenstand hat der Senat in Anlehnung an die Festsetzung des Landgerichtes bewertet. ...

Rechtsgebiete

Straßenverkehrs- und Straßenrecht

Normen

StVO § 20