Aufklärung durch den Arzt bei Medikamenten mit möglichen schwerwiegenden Nebenwirkungen
Gericht
BGH
Art der Entscheidung
Revisionsurteil
Datum
15. 03. 2005
Aktenzeichen
VI ZR 289/03
Bei möglichen schwerwiegenden Nebenwirkungen eines Medikaments ist neben dem Hinweis in der Gebrauchsinformation des Pharmaherstellers auch eine Aufklärung durch den das Medikament verordnenden Arzt erforderlich.
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Rostock vom 12. September 2003 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt Ersatz des materiellen und immateriellen Schadens nach einer ärztlichen Heilbehandlung durch die Beklagte, eine Gynäkologin.
Diese behandelte die im Juli 1965 geborene Klägerin seit mehreren Jahren wegen einer Dysmenorrhoe mit einer damit einhergehenden Eisenmangelanämie. Am 30. November 1994 verordnete sie der Klägerin, welche - wie in der elektronischen Patientendatei vermerkt war - eine Raucherin war, das Antikonzeptionsmittel "Cyclosa" zur Regulierung der Menstruationsbeschwerden. Den von der Klägerin gegen die Verschreibung der "Pille" geäußerten Bedenken, daß sie solche Präparate in der Vergangenheit nicht vertragen habe bzw. diese nicht den gewünschten Erfolg gehabt hätten, begegnete die Beklagte damit, daß es sich um das modernste Mittel für Regelbeschwerden handele und sie ihr ansonsten nicht helfen könne.
Die Klägerin nahm daraufhin das verordnete Medikament seit Ende Dezember 1994 ein. Dessen Gebrauchsinformation enthielt unter dem Punkt "Nebenwirkungen" folgenden Hinweis:
"Warnhinweis:
Bei Raucherinnen, die östrogen-gestagenhaltige Arzneimittel anwenden, besteht ein erhöhtes Risiko, an zum Teil schwerwiegenden Folgen von Gefäßveränderungen (z.B. Herzinfarkt, Schlaganfall) zu erkranken. Das Risiko nimmt mit zunehmendem Alter und steigendem Zigarettenkonsum zu. Frauen, die älter als 30 Jahre sind, sollen deshalb nicht rauchen, wenn sie östrogen-gestagen- haltige Arzneimittel einnehmen."
Am 10. Februar 1995 erlitt die Klägerin einen Mediapartialinfarkt (Hirninfarkt, Schlaganfall), der durch die Wechselwirkung zwischen dem Präparat "Cyclosa" und dem von der Klägerin während der Einnahme zugeführten Nikotin verursacht wurde.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin blieb ohne Erfolg. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klageziel weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Zu dem noch geltend gemachten Anspruch auf Schadensersatz wegen der Verletzung einer Aufklärungspflicht hat das Berufungsgericht ausgeführt:
Eine Verletzung der Pflicht zur therapeutischen Sicherungsaufklärung sei nicht erwiesen. Zwar habe der Arzt bei der Medikation den Patienten über Unverträglichkeiten und Nebenwirkungen ins Bild zu setzen und bei gefährlichen Medikamenten Hinweise zu den Komplikationen und einem drohenden Schaden zu geben. Die Klägerin habe aber den ihr obliegenden Beweis für eine unterlassene oder eine unzureichende Sicherungsaufklärung nicht erbracht.
Bei der Medikation mit dem Medikament "Cyclosa" handele es sich jedoch auch um einen Eingriff, für den die Beklagte beim Fehlen einer wirksamen Einwilligung grundsätzlich einzustehen habe. Auch die Behandlung mit aggressiven Medikamenten sei ein Eingriff im weitesten Sinne. Im Hinblick darauf sei die Beklagte gehalten gewesen, die Klägerin über die gefährlichen Nebenwirkungen und insbesondere über die Risiken der Wechselwirkung mit Nikotin zu informieren.
Der der Beklagten obliegende Beweis für eine entsprechende Aufklärung wäre nach den Feststellungen des Landgerichts nicht erbracht worden. Es könne offenbleiben, ob hierfür ein Hinweis auf die Risiken der Wechselwirkung von Nikotin und den Wirkstoffen des Präparats ausgereicht hätte oder ob schon wegen der beruflichen Vorkenntnisse der Klägerin eine Aufklärung hätte entfallen können. Nach Anhörung der Klägerin sei der Senat nämlich davon überzeugt, daß sie sich auch nach gehöriger Aufklärung zu einer Einnahme des Medikaments entschlossen hätte. Es habe keine wirkliche Behandlungsalternative gegeben. Zudem habe sich die Klägerin für die Verordnung des Medikaments und dessen Einnahme entschieden, obgleich ihr die Beklagte die Möglichkeit eingeräumt habe, von der Medikation Abstand zu nehmen, und habe sie auch bei ihrer Anhörung ausgeführt, daß sie sich höchstwahrscheinlich für die Einnahme der Tabletten entschieden hätte. Die Klägerin habe sich auch nicht in einem echten Entscheidungskonflikt befunden, weil sie nach ihrer Bekundung sofort mit dem Rauchen aufgehört hätte, sofern sie richtig aufgeklärt worden wäre.
II.
Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.
1. Nicht zu beanstanden ist allerdings die Auffassung des Berufungsgerichts, daß sich ein Schadensersatzanspruch nicht aus einer Verletzung der Pflicht zur sogenannten Sicherungs- oder therapeutischen Aufklärung, also der ärztlichen Beratung über ein therapierichtiges Verhalten zur Sicherstellung des Behandlungserfolgs und zur Vermeidung möglicher Selbstgefährdungen des Patienten ergibt. In diesem Bereich wären ärztliche Versäumnisse als Behandlungsfehler anzusehen, so daß die Klägerin - wie vom Berufungsgericht angenommen - beweisen müßte, daß die gebotene Aufklärung unterblieben ist oder unzureichend war (vgl. Senatsurteil vom 14. September 2004 - VI ZR 186/03 - NJW 2004, 3703, 3704; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 4. Aufl. 2001, Rdn. B 95 ff.; Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, 9. Aufl. 2002, Rdn. 325, 574 ff.). Die Auffassung des Berufungsgerichts, die Klägerin habe diesen Beweis für eine unterlassene oder eine unzureichende Sicherungsaufklärung hinsichtlich der Nebenwirkungen des verordneten Präparats nicht erbracht, wird von der Revision nicht angegriffen.
2. Das Berufungsgericht ist auch ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, daß es sich bei der Verordnung des Medikaments "Cyclosa" um einen Eingriff handelt, für den die Beklagte beim Fehlen einer wirksamen Einwilligung grundsätzlich einzustehen hat. Bei der Aufklärung über eine solche Medikation handelt es sich um einen Fall der sogenannten Eingriffs- oder Risikoaufklärung, die der Unterrichtung des Patienten über das Risiko des beabsichtigten ärztlichen Vorgehens dient, damit dieser sein Selbstbestimmungsrecht ausüben kann. Die Beweislast für die Erfüllung dieser Aufklärungspflicht liegt beim Arzt (vgl. Senatsurteile vom 14. September 2004 - VI ZR 186/03 - aaO; vom 22. Mai 2001 - VI ZR 268/00 - VersR 2002, 120, 121; vom 29. September 1998 - VI ZR 268/97 - VersR 1999, 190, 191, jeweils m.w.N.).
Ausweislich der dem Medikament beigefügten Gebrauchsinformation bestand bei Raucherinnen ein erhöhtes Risiko, an zum Teil schwerwiegenden Folgen von Gefäßveränderungen (z.B. Herzinfarkt oder Schlaganfall) zu erkranken. Dieses Risiko nahm mit zunehmendem Alter und steigendem Zigarettenkonsum zu. Bei dieser Situation entspricht die Auffassung des Berufungsgerichts, die Beklagte sei verpflichtet gewesen, die Klägerin über die mit der Einnahme des Medikaments verbundenen Nebenwirkungen und Risiken zu informieren, der Rechtsprechung des erkennenden Senats. Danach ist auch die Medikation mit aggressiven bzw. nicht ungefährlichen Arzneimitteln als ein ärztlicher Eingriff im weiteren Sinne anzusehen, so daß die Einwilligung des Patienten in die Behandlung mit dem Medikament unwirksam ist, wenn er nicht über dessen gefährliche Nebenwirkungen aufgeklärt worden ist (vgl. Senatsurteile vom 27. Oktober 1981 - VI ZR 69/80 - VersR 1982, 147, 149 = AHRS 5100/5 und vom 13. Januar 1970 - VI ZR 121/68 - NJW 1970, 511, 512 f. = AHRS 5100/3; vgl. auch OLG Oldenburg VersR 1986, 69 = AHRS 5100/6 mit Nichtannahmebeschluß des Senats vom 11. Dezember 1984 - VI ZR 51/84 -; OLG Hamm VersR 1989, 195 = AHRS 5100/13; OLG München AHRS 5100/102; OLG Bamberg AHRS 5100/110 mit Nichtannahmebeschluß des Senats vom 15. April 1997 - VI ZR 305/96; OLG Stuttgart AHRS 5100/112; OLG Hamm AHRS 5100/117; OLG Düsseldorf OLGR Düsseldorf 2003, 387, 389; Deutsch/Spickhoff, 5. Aufl., 2003, Rdn. 208; a.A. LG Dortmund MedR 2000, 331, 332 = AHRS 5100/116).
Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung reicht unter den hier gegebenen Umständen der Warnhinweis in der Packungsbeilage des Pharmaherstellers nicht aus. Kommen derart schwerwiegende Nebenwirkungen eines Medikaments in Betracht, so ist neben dem Hinweis in der Gebrauchsinformation auch eine Aufklärung durch den das Medikament verordnenden Arzt erforderlich. Dieser muß nämlich dem Patienten eine allgemeine Vorstellung von der Schwere des Eingriffs und den spezifisch mit ihm verbundenen Risiken vermitteln (vgl. Senatsurteile BGHZ 90, 103, 106, 108 und zur Aufklärungspflicht bei einer Routineimpfung BGHZ 144, 1, 5). Die Notwendigkeit zur Aufklärung hängt dabei nicht davon ab, wie oft das Risiko zu einer Komplikation führt. Maßgebend ist vielmehr, ob das betreffende Risiko dem Eingriff spezifisch anhaftet und es bei seiner Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belastet (vgl. Senatsurteile BGHZ 90, 103, 107; 144, 1, 5 f.; vom 21. November 1995 - VI ZR 341/94 - VersR 1996, 330, 331; vom 2. November 1993 - VI ZR 245/92 - VersR 1994, 104, 105 = AHRS 4510/104).
Hier handelte es sich ausweislich des Warnhinweises um eine typischerweise auftretende Nebenwirkung des Medikaments. Das Risiko nahm zwar mit zunehmendem Alter zu, bestand aber ausweislich des Satzes 1 des Warnhinweises auch bei Raucherinnen, die noch nicht älter als 30 Jahre waren. Daher mußte die Beklagte die im 30. Lebensjahr stehende Klägerin über die spezifischen Gefahren informieren, die für eine Raucherin bei der Einnahme des Medikaments bestanden. Dies gilt umsomehr als sich nach den Feststellungen des Berufungsgerichts in der elektronischen Patientendatei unter dem 30. April 1993 der Eintrag "Raucherin" befand. In Anbetracht der möglichen schweren Folgen, die sich für die Lebensführung der Klägerin bei Einnahme des Medikaments ergeben konnten und hier tatsächlich verwirklicht haben, mußte die Beklagte darüber aufklären, daß das Medikament in Verbindung mit dem Rauchen das erhebliche Risiko eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls in sich barg. Nur dann hätte die Klägerin ihr Selbstbestimmungsrecht ausüben können. Dies wäre dann in zwei Richtungen möglich gewesen, nämlich sich entweder dafür zu entscheiden, das Medikament einzunehmen und das Rauchen einzustellen, oder aber bei Fortsetzung des Rauchens auf die Einnahme des Medikaments wegen des bestehenden Risikos zu verzichten. Gerade wegen der bei Rauchern in Betracht zu ziehenden Sucht war die Gabe des Medikaments nur bei einem eindringlichen Hinweis des verordnenden Arztes auf die Gefahren zu verantworten, die bei seiner Einnahme und gleichzeitigem Rauchen bestanden. Deshalb darf in einem solchen Fall der Arzt nicht darauf vertrauen, daß die Patientin den Warnhinweis in der Packungsbeilage lesen und befolgen werde. Im Hinblick auf die Schwere des Risikos reicht es auch nicht aus, daß die Beklagte gesagt haben will, „daß Pille und Rauchen sich nicht vertragen“. Damit ist der Klägerin nicht hinreichend verdeutlicht worden, welch schwerwiegende Folgen eintreten konnten, wenn sie das Medikament einnahm und gleichzeitig rauchte.
3. Die Revision rügt allerdings zu Recht, daß das Berufungsgericht eine hypothetische Einwilligung der Klägerin in die Verordnung des Medikaments angenommen hat.
a) Insoweit ist das Berufungsgericht zwar im Ansatz von der Rechtsprechung des erkennenden Senats ausgegangen, wonach sich die Behandlungsseite - allerdings nur unter strengen Voraussetzungen - darauf berufen kann, daß der Patient auch bei Erteilung der erforderlichen Aufklärung in die Behandlung eingewilligt hätte. Das Berufungsgericht hat auch die Klägerin, wie das zur Beurteilung eines etwaigen Entscheidungskonflikts grundsätzlich erforderlich ist, persönlich angehört.
b) Gleichwohl halten seine Ausführungen zur hypothetischen Einwilligung der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Diese Würdigung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters, an dessen Feststellungen das Revisionsgericht gebunden ist (§ 559 Abs. 2 ZPO). Revisionsrechtlich ist indes zu überprüfen, ob der Tatrichter sich mit dem Prozeßstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Würdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt (vgl. Senatsurteil vom 14. Oktober 2003 - VI ZR 425/02 - NJW-RR 2004, 425 f. m.w.N.).
Hier liegt ein Widerspruch und Verstoß gegen Denkgesetze in der Argumentation des Berufungsgerichts vor. Dieses nimmt an, die Klägerin hätte sich auch bei umfassender und ausführlicher Aufklärung für eine Einwilligung in die Behandlung entschieden und nicht von der Medikation abgesehen. Zugleich führt es jedoch aus, die Klägerin habe sich nicht in einem echten Entscheidungskonflikt befunden, weil sie nach ihren Bekundungen in der mündlichen Verhandlung sofort mit dem Rauchen aufgehört hätte, sofern sie richtig aufgeklärt worden wäre. Dabei übersieht das Berufungsgericht jedoch, daß in diesem Fall der Schaden nicht eingetreten wäre, weil der Schlaganfall nach den tatsächlichen Feststellungen gerade durch die Wechselwirkung zwischen Medikament und Nikotin verursacht worden ist. Hätte die Klägerin bei ordnungsgemäßer Aufklärung "sofort mit dem Rauchen aufgehört", wäre demgemäß der gesundheitliche Schaden nicht eingetreten. Eine Unterlassung der Aufklärung wäre daher für den Schaden kausal geworden.
Hat sich das Berufungsgericht jedoch aufgrund der Anhörung der Klägerin die Überzeugung gebildet, daß sie bei erfolgter Aufklärung mit dem Rauchen aufgehört hätte, so kann sich die Frage einer hypothetischen Einwilligung in eine Medikation unter Fortsetzung des Rauchens nicht stellen, weil das Berufungsgericht der Klägerin ersichtlich geglaubt hat, daß sie im Fall der Aufklärung mit dem Rauchen aufgehört und damit das in der Wechselwirkung zwischen Medikament und Nikotin liegende Risiko vermieden hätte.
III.
Das Berufungsgericht hat nicht abschließend festgestellt, ob die Beklagte die Klägerin über die Risiken und Nebenwirkungen des Medikaments wirksam aufgeklärt hat. Deswegen und zur Feststellung der Höhe eines etwaigen Schadensersatzanspruchs ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit es unter Beachtung der vorstehenden Ausführungen die entsprechenden Feststellungen nachholen kann.
Müller Greiner Wellner
Pauge Stöhr
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