Kein Forderungsübergang beim Elternunterhalt wegen unbilliger Härte

Gericht

BGH


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

21. 04. 2004


Aktenzeichen

XII ZR 251/01


Leitsatz des Gerichts

Der Übergang des Unterhaltsanspruchs eines Elternteils auf den Träger der Sozialhilfe kann wegen unbilliger Härte ausgeschlossen sein, wenn der Elternteil wegen einer auf seine Kriegserlebnisse zurückzuführenden psychischen Erkrankung nicht in der Lage war, für das auf Elternunterhalt in Anspruch genommene Kind zu sorgen (im Anschluss an Senat, NJW-RR 2003, 1441 = FPR 2004, 28 = FamRZ 2003, 1468).

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Kl. macht als Träger der Sozialhilfe aus übergegangenem Recht Ansprüche auf Elternunterhalt geltend. Die am 13. 2. 1939 geborene Bekl. ist das einzige noch lebende Kind aus der seit dem 7. 12. 1971 geschiedenen Ehe ihrer Eltern. Ihre Mutter ist verstorben. Die Bekl. ist verheiratet und lebt mit ihrem Ehemann im Güterstand der Gütergemeinschaft. Sie ist Rentnerin und verfügte in dem Zeitraum ab Mai 2000 über Einkünfte aus zwei Renten, die sich nach Abzug der Kosten für Kranken- und Pflegeversicherung auf monatlich insgesamt 2482,09 DM beliefen. Außerdem erzielte sie Zinseinkünfte von monatlich 11,30 DM. Die Bekl. bewohnt zusammen mit ihrem Ehemann eine Wohnung in dem der gemeinsamen Tochter gehörenden Haus, an der den Ehegatten ein dingliches Wohnrecht zusteht. Mit Darlehensvertrag vom 8. 5. 2000 hat die Bekl. ein Darlehen über 30000 DM aufgenommen, das sie in Raten von monatlich 530 DM zurückzahlt. Das Darlehen diente teilweise der Ablösung anderer Verbindlichkeiten. Der Ehemann der Bekl. hatte ab Mai 2000 Renteneinkünfte in Höhe von 2158,96 DM sowie Zinseinkünfte von 11,30 DM - jeweils monatlich -. Der Vater der Bekl. diente als Soldat der Deutschen Wehrmacht im zweiten Weltkrieg. Er kam nach mehreren Lazarettaufenthalten psychisch erkrankt aus dem Krieg zurück und befand sich seit August 1949 ununterbrochen in einer psychiatrischen Klinik. Seit 1998 lebt er in einem Alten- und Pflegeheim. Bis Mai 2000 war ein Sparguthaben des Vaters abgesehen von einem Betrag von 4500 DM aufgebraucht. Seitdem erbringt der Kl. für den Vater Sozialhilfeleistungen in Höhe der nicht durch dessen eigene Einkünfte und die Leistungen der Pflegeversicherung gedeckten Heimkosten. In den Monaten Mai bis August 2000 hat er monatlich Beträge zwischen 1368,22 DM und 1838 DM gezahlt. Mit Rechtswahrungsanzeige vom 10. 5. 2000, der Bekl. zugestellt am 12. 5. 2000, teilte der Kl. dieser die Gewährung von Sozialhilfeleistungen für ihren Vater mit und forderte sie zur Auskunft über ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse auf. Mit seiner Klage machte der Kl. übergegangene Unterhaltsansprüche des Vaters für die Zeit von Mai bis einschließlich August 2000 in Höhe von monatlich 1031 DM, insgesamt von 4124 DM zuzüglich Zinsen, geltend.

Das AG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Kl., mit der er sein Klagebegehren weiterverfolgt hat, blieb erfolglos (OLG Frankfurt a.M., OLG-Report 2002, 25). Die Revision des Kl. blieb ebenfalls ohne Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

1. Das BerGer. hat angenommen, dass ein nach § 1601 BGB bestehender Unterhaltsanspruch des Vaters gegen die Bekl. nach § 91 II 2 BSHG nicht auf den Kl. übergegangen sei, weil dies eine unbillige Härte bedeuten würde. Zur Begründung hat es ausgeführt: Eine Härte im Sinne der vorgenannten Vorschrift liege vor, wenn durch die Heranziehung des Unterhaltspflichtigen soziale Belange vernachlässigt werden müssten. Auch wenn der vorliegende Fall sich nicht einer der hierzu in der Rechtsprechung erörterten Fallgruppe zuordnen lasse, sei er dadurch gekennzeichnet, dass bei einer Heranziehung der Bekl. soziale Belange in ähnlicher Weise beeinträchtigt würden. Das folge daraus, dass ihr bereits ein besonderes Opfer dadurch auferlegt worden sei, dass sie auf Grund der Kriegsfolgen, von denen ihr Vater betroffen gewesen sei, während eines erheblichen Zeitraums ihrer Kindheit emotionale und materielle Zuwendung seitens des Vaters habe entbehren müssen. Es sei zwar für die Generation der Bekl. nichts Ungewöhnliches, dass sie den Vater über Jahre hinweg wegen dessen Teilnahme am zweiten Weltkrieg habe entbehren müssen. Die Situation der Bekl. sei aber zusätzlich dadurch gekennzeichnet, dass ihr Vater psychisch gestört aus dem Krieg zurückgekommen sei, die Familie nicht habe versorgen und der Bekl. die Zuwendung habe zukommen lassen können, die ein Kind unter gewöhnlichen Umständen von seinem Vater erfahre. Mit Rücksicht hierauf sei es sozial ungerechtfertigt, wenn die Bekl. heute von der öffentlichen Hand für den Unterhalt ihres Vaters in Anspruch genommen werde, nachdem der damalige Unrechtsstaat ihr die Zuwendung und Versorgung durch den Vater in wesentlichen Teilen genommen habe. Daran, dass die Kriegserlebnisse des Vaters für dessen psychische Erkrankung ursächlich gewesen seien, bestehe auf Grund des zeitlichen Ablaufs nach der Lebenserfahrung kein Zweifel.

Diese Beurteilung begegnet keinen rechtlichen Bedenken.

2. a) Nach § 91 II 2 Halbs. 1 BSHG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms vom 23. 6. 1993 (FKBG, BGBl I, 944) bzw. nach § 91 II 2 BSHG in der seit dem 1. 1. 2002 geltenden Fassung ist der Übergang des Unterhaltsanspruchs gegen einen nach bürgerlichem Recht Unterhaltspflichtigen ausgeschlossen, wenn dies eine unbillige Härte bedeuten würde. Das genannte Beurteilungskriterium stellt einen unbestimmten Rechtsbegriff dar, dessen Anwendung der vollen Nachprüfung durch das RevGer. unterliegt (Senat, NJW-RR 2003, 1441 = FPR 2004, 28 = FamRZ 2003, 1468 [1470] m.w. Nachw.).

Was unter dem Begriff der unbilligen Härte zu verstehen ist, unterliegt den sich wandelnden Anschauungen in der Gesellschaft. Was in früheren Zeiten im Rahmen eines Familienverbands als selbstverständlicher Einsatz der Mitglieder der Familie ohne weiteres verlangt wurde, wird heute vielfach als Härte empfunden. Dabei kann diese Härte in materieller oder immaterieller Hinsicht bestehen und entweder in der Person des Unterhaltspflichtigen oder in derjenigen des Hilfeempfängers vorliegen. Bei der Auslegung der Härteklausel ist in erster Linie die Zielsetzung der Hilfe zu berücksichtigen, daneben sind auch die allgemeinen Grundsätze der Sozialhilfe zu beachten. Darüber hinaus ist auf die Belange und die Beziehungen in der Familie Rücksicht zu nehmen. Neben den wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnissen der Beteiligten zueinander kommt es auf die soziale Lage an. Eine Härte liegt deshalb vor, wenn mit dem Anspruchsübergang soziale Belange vernachlässigt würden (Senat, NJW-RR 2003, 1441 = FPR 2004, 28 = FamRZ 2003, 1468 [1470]).

Nach der in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen Auffassung sowie den vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge herausgegebenen Empfehlungen für die Heranziehung Unterhaltspflichtiger in der Sozialhilfe kann eine unbillige Härte, die sozialhilferechtlich zum Ausschluss des Anspruchsübergangs führt, insbesondere angenommen werden, wenn und soweit der Grundsatz der familiengerechten Hilfe (§ 7 BSHG) ein Absehen von der Heranziehung geboten erscheinen lässt, die laufende Heranziehung in Anbetracht der sozialen und wirtschaftlichen Lage des Unterhaltspflichtigen mit Rücksicht auf die Höhe und Dauer des Bedarfs zu einer nachhaltigen und unzumutbaren Beeinträchtigung des Unterhaltspflichtigen und der übrigen Familienmitglieder führen würde, die Zielsetzung der Hilfe im Frauenhaus in der Gewährung von Schutz und Zuflucht vor dem gewalttätigen Ehemann besteht und diese durch die Mitteilung der Hilfe an den Unterhaltspflichtigen gefährdet erscheint oder der Unterhaltspflichtige vor Eintreten der Sozialhilfe über das Maß seiner zumutbaren Unterhaltsverpflichtung hinaus den Hilfeempfänger betreut und gepflegt hat (vgl. BVerwGE 58, 209 [216]; Schellhorn, BSHG, 16. Aufl., § 91 Rdnrn. 87f.; ders., FuR 1993, 261 [266]; Schaefer/Wolf, in: Fichtner, BSHG, 2. Aufl., § 91 Rdnrn. 41f.; Mergler/Zink, BSHG, 4. Aufl., § 91 Rdnr. 77; Münder, in: LPK-BSHG, 16. Aufl., § 91 Rdnr. 42). Der vorliegende Fall lässt sich, wie das BerGer. zu Recht angenommen hat, in keine dieser Fallgruppen einordnen.

Daraus folgt indessen nicht, dass keine unbillige Härte vorliegt. Denn eine solche ist auch in anderen Fallgestaltungen denkbar. Entscheidend ist insoweit, ob im Rahmen der umfassenden Prüfung der Gesamtsituation des Falls aus der Sicht des Sozialhilferechts durch den Anspruchsübergang soziale Belange berührt werden (BVerwGE 58, 209 [215f.]). Das ist hier der Fall.

b) Zwar sind die Unterhaltsansprüche des Vaters der Bekl. dieser gegenüber nicht nach § 1611 I BGB verwirkt. Wie das BerGer. zutreffend ausgeführt hat, sind die Voraussetzungen, unter denen nach der vorgenannten Bestimmung ein Unterhaltsanspruch nur in eingeschränktem Umfang besteht oder eine Unterhaltsverpflichtung ganz entfällt, nicht erfüllt. Umstände, die bereits nach bürgerlichem Recht ganz oder teilweise der Geltendmachung eines Unterhaltsanspruchs entgegenstehen, kommen indessen ohnehin nicht als - den Anspruchsübergang auf den Träger der Sozialhilfe ausschließende - Härtegründe i.S. des § 91 II 2 Halbs. 1 BSHG in der Fassung vom 23. 6. 1993 bzw. § 91 II 2 BSHG in der seit dem 1. 1. 2002 geltenden Fassung in Betracht. Denn soweit ein Unterhaltsanspruch nicht besteht, kann er auch nicht auf den Träger der Sozialhilfe übergehen. Der vorliegende Fall ist nach den von BerGer. getroffenen Feststellungen dadurch gekennzeichnet, dass die Bekl. nicht nur während der Kriegsteilnahme ihres Vaters dessen emotionale und materielle Zuwendung entbehren musste, sondern dass sie auch in der Folgezeit nicht die unter normalen Umständen zu erwartende väterliche Zuwendung erfahren hat, weil ihr Vater psychisch gestört aus dem Krieg zurückkehrte und der Familie keine Fürsorge zuteil werden lassen konnte. Er war von 1949 an fast 50 Jahre in einer psychiatrischen Klinik untergebracht und lebt seit 1998 in einem Alten- und Pflegeheim. Auf Grund dieser Umstände war die Bekl. bereits in den Jahren ihrer Kindheit in starkem Maße belastet. Im weiteren Verlauf, insbesondere nach der 1971 erfolgten Scheidung der Ehe der Eltern, haben zwischen der Bekl. und dem Vater offensichtlich keine Beziehungen mehr bestanden, so dass die Familienbande zumindest stark gelockert waren, falls insoweit nicht sogar eine völlige Entfremdung eingetreten ist. Wenn die Bekl. gleichwohl von dem Träger der Sozialhilfe auf Unterhalt für ihren Vater in Anspruch genommen werden könnte, würden dadurch soziale Belange vernachlässigt. Angesichts der Einbußen, die die Bekl. auf Grund der Kriegsfolgen, von denen ihr Vater betroffen war, zu tragen hatte und der weiteren Entwicklung der Beziehungen zu diesem kann von ihr nicht erwartet werden, im Hinblick auf dessen Unterhaltsanspruch von der öffentlichen Hand in die Pflicht genommen zu werden. Deshalb würde der Übergang des Unterhaltsanspruchs auf den Träger der Sozialhilfe eine unbillige Härte bedeuten (ebenso Schaefer/Wolf, § 91 Rdnr. 42; vgl. auch Münder, § 91 Rdnr. 41; BVerwG, NDV 1973, 139 [140] für den Fall der Inanspruchnahme eines Großvaters für den Unterhalt eines Enkelkinds, zu dessen Mutter dieser jahrelang keine Verbindung mehr hatte).

c) Die Revision hält diesem Ergebnis entgegen, die Feststellung des BerGer., die Kriegserlebnisse des Vaters seien für dessen psychische Erkrankung ursächlich gewesen, sei verfahrensfehlerhaft. Der Kl. habe nur zugestanden, dass der Vater der Bekl. krankheitsbedingt und damit unverschuldet nicht in der Lage gewesen sei, kontinuierlich zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Er habe nicht zugestanden, dass die psychische Erkrankung des Vaters durch den Krieg verursacht worden sei.

Damit vermag die Revision nicht durchzudringen. Der Kl. hat die von der Bekl. geltend gemachte Beeinträchtigung ihres Vaters durch die Kriegsgeschehnisse nicht in Abrede gestellt, sondern allein darauf abgehoben, dass der Vater unverschuldet in die Lage geraten sei, für seine Familie nicht sorgen zu können. Deshalb durfte das BerGer., auch unter Berücksichtigung der Lebenserfahrung, davon ausgehen, dass die psychische Erkrankung des Vaters auf dessen Kriegserlebnisse zurückzuführen war.

d) Bei der gegebenen Sachlage begegnet es auch keinen rechtlichen Bedenken, dass das BerGer. eine unbillige Härte in vollem Umfang der Inanspruchnahme angenommen hat. Nach den getroffenen Feststellungen lebt die Bekl. nicht in wirtschaftlichen Verhältnissen, bei denen sie durch Unterhaltsleistungen für den Vater nicht in spürbarer Weise in ihrer Lebensführung beeinträchtigt würde.

Vorinstanzen

OLG Frankfurt a.M.

Rechtsgebiete

Unterhaltsrecht

Normen

BGB § 1601; BSHG § 91 II 2