Freistellung vom Unterrichtsfach "Werte und Normen" (Ethik-Unterricht)

Gericht

BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats)


Art der Entscheidung

Beschluss über Vorlage


Datum

17. 02. 1999


Aktenzeichen

1 BvL 26/97


Leitsatz des Gerichts

Eine Vorlage, hier zur Verfassungsmäßigkeit des Unterrichtsfachs "Werte und Normen", ist nur zulässig, wenn sie ausreichend begründet ist.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Über den Unterricht „Werte und Normen„ enthält das Niedersächsische Schulgesetz (NdsSchulG) in der zum Zeitpunkt desVorlagebeschlusses geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 27. 9. 1993, nunmehr in der insoweit inhaltsgleichen Fassung der Bekanntmachung vom 3. 3. 1998, in § 128 folgende Regelung:

§ 128 . (1) Wer nicht am Religionsunterricht teilnimmt, ist statt dessen zur Teilnahme am Unterricht Werte und Normen verpflichtet, wenn die Schulediesen Unterricht eingerichtet hat. Dies gilt nicht für diejenigen, für die Religionsunterricht ihrer Religionsgemeinschaft nicht eingerichtet werden kann. Die Schule hat den Unterricht Werte und Normen als ordentliches Lehrfach vom 5. Schuljahrgang an einzurichten, wenn mindestens zwölfSchülerinnen oder Schüler zur Teilnahme verpflichtet sind.

(2) Im Fach Werte und Normen sind religionskundliche Kenntnisse, das Verständnis für die in der Gesellschaft wirksamen Wertvorstellungen und Normen und der Zugang zu philosophischen, weltanschaulichen und religiösen Fragen zu vermitteln.

Der 1981 geborene, konfessionslose Kl. des Ausgangsverfahrens besucht den 12. Schuljahrgang eines niedersächsischen Gymnasiums. Er hältdie Verpflichtung zur Teilnahme am Unterricht „Werte und Normen„ für verfassungswidrig und hat nach erfolglosem Verwaltungsverfahren beim VG beantragt, die bekl. Schule zu verpflichten, ihn von der Verpflichtungzur Teilnahme an diesem Unterricht freizustellen, hilfsweise festzustellen, daß er für die Dauer seines Schulbesuchs nicht verpflichtet sei, an diesem Unterricht teilzunehmen.

Mit Beschluß vom 20. 8. 1997 hat das VG Hannover (NVwZ 1998,316) das Verfahren ausgesetzt und dem BVerfG die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 128 I NdsSchulG verfassungsgemäß sei.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

II. Die Vorlage ist unzulässig.

1. Ein Gericht kann eine Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Vorschrift nach Art. 100 I GG nur einholen, wenn es zuvor sowohl die Entscheidungserheblichkeit der Vorschrift als auch ihre Verfassungsmäßigkeit sorgfältig geprüft hat (vgl. BVerfGE 86, 71 [76]). Dem Begründungserfordernis des § 80 II 1 BVerfGG genügt ein Vorlagebeschluß daher nur dann, wenn die Ausführungen des Gerichts erkennen lassen, daß es eine solche Prüfung vorgenommen hat. DemBeschluß muß mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen sein, daß und aus welchen Gründen das Gericht bei Gültigkeit der Vorschrift zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Fall ihrer Ungültigkeit. Das Gericht muß sich mit der Rechtslage auseinandersetzen, die in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassungen berücksichtigen und auf unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten eingehen, soweit diese für die Entscheidungserheblichkeit von Bedeutung sein können (vgl. BVerfGE 79, 245[249]). Die Darlegungen zur Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Norm müssen den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab nennen und die für die Überzeugung des Gerichts maßgebenden Erwägungen nachvollziehbar darlegen. Dabei muß sich das Gericht jedenfalls mit naheliegenden tatsächlichen undrechtlichen Gesichtspunkten auseinandersetzen. Insbesondere kann es erforderlich sein, die Gründe zu erörtern, die im Gesetzgebungsverfahren als für die gesetzgeberische Entscheidung maßgebend genannt worden sind (vgl. BVerfGE 78, 201 [204]; 81, 275 [277]; 86, 71 [77f.]).

2. Diesen Maßstäben genügt der Vorlagebeschluß des VG nicht.

a) Soweit das Gericht die Vereinbarkeit des § 128 I NdsSchulGmit Art. 7 II GG verneint, fehlt es bereits an einer nachvollziehbaren Darlegung der für seine Überzeugung maßgebenden Erwägungen. Das VG nennt in seinem Beschluß im Anschluß an Stimmen im Schrifttum zwar Gründe, die gegen eine Vereinbarkeit der zur Prüfung vorgelegten Vorschrift mit Art. 7 II GG sprechen könnten, führt aber nicht aus, daß es dieser Argumentation folgt, sondern bezeichnet sie ausdrücklich nur als möglich. Es ist deshalbnicht erkennbar, welche Erwägungen für die Überzeugung des Gerichts vom Verstoß des § 128 I NdsSchulG gegen Art. 7 II GG maßgebend waren.

b) Die Ausführungen des VG zur Verletzung des Art. 3 III 1 GG durch § 128 I NdsSchulG machen nicht deutlich, daß sich das Gericht mit naheliegenden Gesichtspunkten hinreichend auseinandergesetzt und die Auffassungen in Rechtsprechung und Literaturgenügend berücksichtigt hat.

Nach Art. 3 III 1 GG darf niemand wegen seines Glaubens benachteiligt oder bevorzugt werden. Diese Verfassungsnorm verstärkt den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 I GG, indem sie der dem Gesetzgeber darin eingeräumten Gestaltungsfreiheit engere Grenzen zieht. Die in Art. 3 III 1 GG genannten Merkmale dürfen grundsätzlich nicht als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung herangezogen werden. Das gilt auchdann, wenn eine Regelung nicht auf eine nach Art. 3 III 1 GG verbotene Ungleichbehandlung angelegt ist, sondern in erster Linie andere Ziele verfolgt (vgl. BVerfGE 85, 191 [206] = NJW 1992, 964; BVerfGE 97, 35 [43] = NJW 1998, 1215). Ausnahmen können, etwa auf der Grundlage einer Abwägung mit kollidierendemVerfassungsrecht, gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGE 85, 191 [207ff.] = NJW 1992, 964; BVerfGE 92, 91 [109] = NJW 1995, 1733 = NVwZ 1995, 781 L).

Dies zugrunde gelegt, hat sich das VG weder hinreichend mitder Frage befaßt, ob durch die für verfassungswidrig erachtete Regelung der Schutzbereich des Art. 3 III 1 GG betroffen ist (aa), noch ist es darauf eingegangen, ob die von ihm angenommene benachteiligende Ungleichbehandlung von Teilnehmern am Unterricht „Werte und Normen„ gegenüber Teilnehmern am Religionsunterricht verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein kann (bb).

aa) Das Gericht führt zwar zutreffend aus, daß nach wohl allgemeiner Auffassung in der Literatur der Begriff des Glaubens in Art. 3 III 1 GG auch areligiöse Anschauungen umfaßt (vgl. etwaOsterloh, in: Sachs, GG, 2. Aufl. [1999], Art. 3 Rdnr. 302; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 4. Aufl. [1997], Art. 3 Rdnr. 72) und Art. 3 III 1 GG ein Anknüpfungsverbot enthält.

(1) Es hat sich in seinem Beschluß aber nicht mit den naheliegenden Fragen beschäftigt, ob § 128 I 1 und 2 NdsSchulG überhaupt (unmittelbar) auf den Nichtglauben abstellt und obArt. 3 III 1 GG ggf. auch mittelbare Anknüpfungen grundsätzlich verbietet, was in der Rechtsprechung des BVerfG noch nicht geklärt und in der Literatur umstritten ist (vgl. BVerfGE 97, 35 [43f.] = NJW 1998, 1215; Osterloh, Art. 3 Rdnrn. 255f.; Jarass,Art. 3 Rdnr. 74, je m.w. Nachw.).

Gegen die Annahme einer unmittelbaren Anknüpfung an das Nichthaben eines Glaubens spricht, daß es nach dem Wortlaut des § 128 I 1 und 2 NdsSchulG für die Pflicht zur Teilnahme am Unterricht „Werte und Normen„ nur auf den formalen Tatbestand der Nichtteilnahme am in der Schule eingerichteten Religionsunterricht ankommt und nicht auf die hierfür maßgeblichen Gründe. Schüler, die sich vom konfessionsgebundenen Religionsunterricht (vgl. § 125 NdsSchulG; Art. 7 III 2 GG; BVerfGE 74, 244 [252f.] = NJW 1987, 1873) abmelden, brauchen dafür nicht notwendig a- oder antireligiöse Gründe zu haben, können sich bei ihrer Entscheidung vielmehr beispielsweise vonder mangelnden Qualität des Religionsunterrichts oder von Antipathie gegenüber dem Religionslehrer leiten lassen. Ferner besteht für den Kl. nach der wohl allgemeinen Literaturauffassung in Niedersachsen bei Zustimmung der jeweiligen Religionsgemeinschaft grundsätzlich die Möglichkeit, als konfessionsloser Schüler freiwillig am Religionsunterricht der betreffenden Gemeinschaft teilzunehmen mit der Folge, daß die Pflicht zur Teilnahme am Unterricht Werte und Normen entfällt (vgl. Woltering/Bräth, NdsSchulG, 3. Aufl. [1994], § 124 Rdnr. 5; Galas,in: Galas/Habermalz/Schmidt, NdsSchulG, 2. Aufl. [1996], § 124 Anm. 2). Auch dies spricht dafür, daß § 128 I 1 und 2 NdsSchulG nur mittelbar an einen religiösen oder weltanschaulichen Tatbestand anknüpft.

(2) Darüber hinaus hat sich das VG auch nicht ausreichend mitder in der Rechtsprechung zum badenwürttembergischen Schulrecht vertretenen Auffassung befaßt, daß Schüler, die den Ethikunterricht besuchen müssen, nicht gegenüber Teilnehmern am Religionsunterricht benachteiligt würden, weil beide Fächer als sogenannte Komplementärfächer gleichwertig seien (vgl. VG Freiburg, NVwZ 1996, 507 [510]; s. auch BVerwG, VerwRspr 25 [1974], S. 415 [417]; VGH Mannheim, NVwZ 1998, 309 = DVBl 1997, 1186 [1187f.], sowie jetzt BVerwG, NVwZ 1999, 769 [indiesem Heft]). Das Gericht verneint die Frage der Gleichwertigkeit von Religionsunterricht und dem Unterricht „Werte und Normen„ ausschließlich damit, daß die Komplementarität nur eine scheinbare sei, weil Religionsunterricht, auch nach dem Selbstverständnis der Kirchen, am wenigsten Ethikunterricht in Kirchenregie sei. Dabei bleibt das mit diesem Unterricht verbundene staatliche Anliegen völlig unberücksichtigt.

Nach der Begründung des Regierungsentwurfs zum jetzigen § 128 NdsSchulG ist es Ziel dieser Regelung, in Respektierung derindividuellen Gewissensentscheidung gegen die Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft oder gegen die Teilnahme am Religionsunterricht die notwendige Orientierung über das Spektrum der in der Gesellschaft wirksamen Wertvorstellungen und Normen und deren Einbettung in den philosophischen und religiösenFragehorizont in säkularer Weise, ohne Bezug auf die Grundsätze einer Religionsgemeinschaft, sicherzustellen und hierfür einen entsprechenden Unterricht vorzusehen (vgl. LT-Dr 12/3300,S. 118 zu Nr. 101). In dieser Begründung kommt zum Ausdruck, daß der Gesetzgeber davon ausging, sein Erziehungsziel einer hinreichenden Wissens- und Wertevermittlung in gleicher Weise durch den Religionsunterricht und durch den Unterricht „Werteund Normen„, wenngleich hier in säkularem Gewande, erreichen zu können.

Das Gericht hat es unterlassen, auf den in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck gebrachten gesetzgeberischen Willen einzugehen, die Vergleichbarkeit der Fächer näher zu untersuchen und zu erörtern, ob dem Gesetzgeber insoweit eine Einschätzungsprärogative zuzubilligen ist. Dazu hätte im Hinblick auf die Darstellung der Gemeinsamkeit von Religions- und Ethikunterricht inRechtsprechung und Literatur (vgl. VG Freiburg, NVwZ 1996, 507 [510]; Würtenberger, Politische Studien 1994, Nr. 335, S. 25f.) und außerdem deshalb Anlaß bestanden, weil nach denFeststellungen des BVerfG der Religionsunterricht heute auch als ein auf Wissensvermittlung gerichtetes, an den höheren Schulen sogar wissenschaftliches Fach angesehen wird, das in die Lehre eines Bekenntnisses einführt, vergleichenden Hinweisen offenbleibtund zugleich Gelegenheit bietet, mit den Schülern grundsätzliche Lebensfragen zu erörtern (vgl. BVerfGE 74, 244 [253] = NJW 1987, 1873).

bb) Das VG hat zudem nicht erörtert, ob die Ungleichbehandlung von Teilnehmern am Religionsunterricht und am Unterricht„Werte und Normen„, von der es ausgegangen ist, verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein kann; insbesondere hat es sich auch insoweit nicht mit der Zielsetzung des Gesetzgebers auseinandergesetzt.

c) Soweit das Gericht einen Verstoß gegen Art. 3 I GG im Hinblick auf die praktische Umsetzung des § 128 NdsSchulG annimmt, weil diejenigen Schülerinnen und Schüler, die zur Teilnahme am Unterricht „Werte und Normen„ verpflichtet sind, gegenüber den Teilnehmern am Religionsunterricht benachteiligt würden, ist die Vorlage ebenfalls nicht hinreichend begründet.

aa) Das VG legt schon nicht dar, wie sich die nach Anlage 3 zur Verordnung über die gymnasiale Oberstufe und das Fachgymnasium (VO-GOF) vom 26. 5. 1997 (NdsGVBl S. 139) fehlende Möglichkeit der Belegung eines Leistungskurses in „Werte und Normen„ und der Wahl dieses Fachs als Abiturprüfungsfach sowie dervon ihm beanstandete Einrichtungsumfang und die persönliche Reichweite des Fachs auf die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des § 128 I NdsSchulG auswirken sollen.

bb) Unabhängig davon führt das Gericht nicht hinreichend aus, daß die von ihm genannten Ungleichbehandlungen für denRechtsstreit entscheidungserheblich sind.

Hinsichtlich des vom VG angeführten Umfangs der Einrichtung des Fachs „Werte und Normen„ an den niedersächsischen Schulen ist nicht ersichtlich, inwieweit der Umstand, daß ein großer Prozentsatz der nach dem Gesetz zur Teilnahme an diesem UnterrichtVerpflichteten an ihm tatsächlich nicht teilnimmt, dazu führen kann, daß der Kl., der von diesem Unterricht gerade nicht freigestellt werden soll, gegenüber den Teilnehmern am Religionsunterricht ungleich behandelt wird. Die Entscheidungserheblichkeit der Frage, ob „Werte und Normen„ in der gymnasialen Oberstufeals Leistungs- und Abiturprüfungsfach gewählt werden kann, wird aus den Darlegungen des VG ebenfalls nicht hinreichend deutlich. Der Kl. will mit seiner Klage die dauerhafte Freistellungvom Unterricht in diesem Fach erreichen. Ob es ihm auch darum geht, darin jedenfalls Leistungskurse belegen und „Werte und Normen„ als Abiturprüfungsfach wählen zu können, hat das Gericht nicht erörtert. Aus dem Vorlagebeschluß ergibt sich somitnicht, daß der Kl. von der vom VG angenommenen Ungleichbehandlung von Teilnehmern am Unterricht „Werte und Normen„ betroffen ist (vgl. auch VGH Mannheim, NVwZ 1998, 309 = DVBl 1997, 1186 [1188]).

cc) Das VG hat schließlich auch in diesem Zusammenhang nicht geprüft,ob die Ungleichbehandlung durch einen hinreichend gewichtigen Grund verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Anlaß dazu bestand insbesondere im Hinblick auf § 190 NdsSchulG, wonach das Fach „Werte und Normen„ unter anderem in der gymnasialen Oberstufe als Prüfungsfach einzurichten ist,sobald hierfür die erforderlichen Unterrichtsangebote entwickelt sind und geeignete Lehrkräfte zur Verfügung stehen. Dieses Fach ist durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Niedersächsischen Schulgesetzes vom 23. 6. 1993(NdsGVBl S. 178) als ordentliches Lehrfach und einheitliches Alternativfach zum Religionsunterricht neu eingeführt und vom Inhalt her teilweise neu konzipiert worden (vgl. LT-Dr 12/3300, S. 117f.), damit also noch relativ jung. Vor diesem Hintergrund hätte es nahegelegen zu erörtern, ob der Zweck des § 190 NdsSchulG, der Schulverwaltung Zeit zu geben, um die erforderlichen didaktischen Konzepte für ein Abiturprüfungsfach und Leistungskurse in „Werte und Normen„ zu entwickeln sowie geeignete Lehrkräfte zur Verfügung stellen zu können, die Benachteiligung von Teilnehmern an diesem Unterricht (noch) rechtfertigen kann.

Vorinstanzen

VG Hannover

Rechtsgebiete

Verfahrens- und Zwangsvollstreckungsrecht

Normen

GG Art. 3 I, III 1, 7 II; NdsSchulG § 128 I