Computer mit Braillezeile für Blinde

Gericht

BSG


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

16. 04. 1998


Aktenzeichen

B 3 KR 6/97 R


Leitsatz des Gerichts

Selbst wenn einem versicherten Blinden von der Krankenkasse schon ein Lese-Sprechgerät zugesprochen wurde, hat er Anspruch auf Ersatz der Kosten für eine Braillezeile am PC. Aus Gründen der Wirtschaftlichkeit steht dem Versicherten aber nur die preisgünstigere Variante der Braillezeile zu.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

I

Der 1942 geborene und bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Kläger ist blind. Er lebt mit seiner nicht berufstätigen Ehefrau sowie drei schulpflichtigen Kindern zusammen und arbeitet als Leiter einer Einrichtung für die Behindertenintegration. An seinem Arbeitsplatz hat er einen Computer mit einer sog. Braillezeile zur Verfügung. Dabei handelt es sich um ein Zusatzdisplay, auf dem ein vom Computer per Scanner eingelesener Text in vibrierenden Blindenschriftzeichen wiedergegeben wird, die der Blinde ertasten kann. Die Kosten dafür belaufen sich je nach Ausführung, insbesondere Breite, auf DM 16.000 (Info-Braille 44) bis DM 28.000 (Info-Braille 84).

Im August 1994 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Kostenübernahme für ein sog. Lese-Sprechgerät mit Braillezeile zum privaten Gebrauch, das in einer beigefügten ärztlichen Bescheinigung als "nützlich" bezeichnet wurde. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 24. August 1994 und Widerspruchsbescheid vom 10. Februar 1995).

Im Klageverfahren hat sich die Beklagte bereit erklärt, die Kosten einer behindertengerechten Aufrüstung des privaten Personalcomputers (PC) des Klägers zum Lese-Sprechgerät (mit Scanner, Sprachausgabe und entsprechender Spezialsoftware) gemäß einem Kostenvoranschlag (DM 9.200.-) zu übernehmen. Der Kläger hat dieses Teilanerkenntnis der Beklagten angenommen und mit der Klage nur noch die Kostenübernahme für die Braillezeile weiterverfolgt.

Durch Urteil vom 21. März 1997 hat das Sozialgericht (SG) die Klage abgewiesen. Es hat gemeint, mit dem Lese-Sprechgerät sei der Kläger ausreichend versorgt. Es gebe keinen Anspruch auf eine optimale, auf dem neuesten Stand der Technik befindliche Hilfsmittelversorgung, die lediglich Komfortbedürfnissen diene.

Mit der Sprungrevision rügt der Kläger die Verletzung von § 33 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V), da für ihn auch die Braillezeile erforderlich und kein bloßer Komfort sei. Die bereits gelieferte PC-Aufrüstung zum Lese-Sprechgerät mache erhebliche Schwierigkeiten bei allen Texten, die nicht zeilenweise von links nach rechts zu lesen, sondern in irgendeiner Weise unregelmäßig gedruckt seien. Unmöglich sei das Erfassen von Schriftstücken, die Tabellen, Zahlenreihen usw. enthielten, wie z.B. Kontoauszüge, Formulare, Telefonrechnungen. Auch bei der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) sei die Notwendigkeit einer Braillezeile anerkannt worden.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 21. März 1997 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 24. August 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Februar 1995 zu verurteilen, die Kosten einer Ausstattung seines Lese-Sprechgerätes mit einer Braillezeile des Typs "Info-Braille 84", hilfsweise "Info-Braille 44", zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

II

Die Revision des Klägers ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf die Versorgung mit einer Braillezeile des Typs "Info-Braille 44".

Nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V idF durch das Gesundheitsreformgesetz (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I, 2477) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1. Alternative) oder eine Behinderung auszugleichen (2. Alternative), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 SGB V idF des Gesetzes vom 21. Dezember 1992 (BGBl I, 2266) ausgeschlossen sind. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung müssen auch Hilfsmittel ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein, und sie dürfen das Maß des Notwendigen (Erforderlichen) nicht überschreiten; Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die KKn nicht bewilligen (§ 12 Abs 1 SGB V).

Die Braillezeile ist als auf den Gebrauch durch Blinde zugeschnittenes Gerät weder ein allgemeiner Gebrauchsgegenstand noch nach § 34 SGB V ausgeschlossen. Der Verpflichtung des Versicherten zur Übernahme der anteiligen Kosten eines Gebrauchsgegenstandes ist dadurch Rechnung getragen, daß der Kläger bereits bei der Aufrüstung seines PC zum Lese-Sprechgerät nur die Zusatzkosten geltend gemacht hat (vgl. zum Ganzen BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 16 ).

Die Braillezeile ist grundsätzlich ein erforderliches Hilfsmittel zum Ausgleich einer Behinderung i.S. der 2. Alternative des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V. Ob der Begriff der Sehhilfe in dieser Vorschrift nur Hilfsmittel erfaßt, die - wie z.B. eine Brille - das Restsehvermögen verstärken und nicht auch solche, die - wie die Braillezeile - die Körperfunktion (teilweise) ersetzen, kann offenbleiben. Die Braillezeile ist jedenfalls ein sonstiges Hilfsmittel, da der Hilfsmittelbegriff i.S. der 2. Alternative als Ausgleich der Behinderung auch den ersetzenden Ausgleich umfaßt (BSG aaO mwN). Unschädlich ist auch, daß die Braillezeile nicht unmittelbar am behinderten Körperteil (Augen) ausgleichend "ansetzt", sondern den Ausgleich auf anderem Wege - über den Tastsinn der Finger - bewirkt, weil dies nach der Rechtsprechung nur dann zum Ausschluß der Hilfsmitteleigenschaft führt, wenn der Ausgleich ausschließlich oder nahezu ausschließlich auf beruflichem, gesellschaftlichem oder dem Gebiet der Freizeitbetätigung erfolgt (vgl. zu einer elektrischen Schreibmaschine bei einer Phokomelie der oberen Gliedmaßen: BSG SozR 2200 § 187 Nr 1 und zu einer Blindenschrift - Schreibmaschine: BSG SozR 2200 § 182b Nr 5). Soweit ein diese Gebiete übergreifendes sog. Grundbedürfnis betroffen ist, fällt auch der Ausgleich der Folgen der Behinderung auf den genannten Gebieten in die Leistungspflicht der KKn (BSG SozR 2200 § 182b Nr 10 ; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 16 ; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 10 ; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 22 ). Die Braillezeile kann keinem der genannten Gebiete allein zugeordnet werden. Auch wenn sie vom Kläger nur im häuslichen Bereich benutzt werden soll, kommt sie auch dort für Druckschriften mit Bezug auf jedes der genannten Gebiete in Betracht. Das diese Gebiete übergreifende Grundbedürfnis des Klägers ist sein Bedürfnis auf (umfassende) Information. Davon ist auch das SG ausgegangen. Es hat allerdings zu Unrecht angenommen, daß dieses Bedürfnis bereits durch das Lese-Sprechgerät in ausreichendem Maße befriedigt werde.

Unter Fortführung der bisherigen Rechtsprechung (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 16 ) ist daran festzuhalten, daß das Grundbedürfnis auf Information in engem Zusammenhang mit dem Recht auf ein selbstbestimmtes Leben einschließlich der Schaffung eines eigenen geistigen Freiraums und der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben steht. Die Information ist für Persönlichkeitsentfaltung und Allgemeinbildung von elementarer Bedeutung. Informationsbedarf und -möglichkeiten nehmen in der modernen Gesellschaft ständig und in steigendem Maße zu, wobei immer wieder neue qualitative Stufen erreicht werden (Beispiel: Internet). Diesem Informationsbedürfnis ist in einem umfassenden Sinne Rechnung zu tragen, so daß die bloße Verweisung eines Blinden auf Rundfunk und Audiotheken nicht zulässig ist. Auch die Information im persönlichen Lebensbereich auf einfachster Stufe gehört zu einem selbstbestimmten Leben. Von daher kommt es nicht darauf an, ob der Kläger mit der Braillezeile auch weitergehende Informationen qualifizierter Art erreichen will, wie etwa die Erschließung von Fachliteratur oder von Belletristik im allgemeinen, und ob ihm dies bereits mit der Lese-Sprech-Einrichtung, wenn auch teilweise mit Schwierigkeiten, ermöglicht wird. Denn es geht auch um schlichte Zeitungslektüre und die Kenntnisnahme von Telefonnummern, Telefonrechnungen, Arzneibeipackzetteln, Formularen usw., die mit der bereits vorhandenen Ausstattung praktisch nicht oder nur mit unzumutbarem Aufwand, wohl aber durch die Braille-Zeile möglich ist.

Nach dem Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und Soziales vom 9. August 1994, BArbl 10/1994, 155, das die weitreichenden Erfahrungen der mit der Versorgung der Kriegsopfer befaßten Behörden wiedergibt, ist mit einem Lese-Sprechgerät schon das Zeitunglesen sehr umständlich und nur mit einer Hilfsperson möglich, da von dieser die einzelnen Artikel vorher für das Lesegerät passgerecht gefaltet oder ausgeschnitten werden müssen; ferner ist das Lesen von Arzneibeipackzetteln, Kontoauszügen oder Telefonbüchern nicht oder nur beschränkt möglich, auch können die Geräte spezielle Druckarten - wie Vielfarbdruck, Inversdruck oder Großdruck - nur schlecht oder gar nicht verarbeiten. Umgekehrt ist mit der Braillezeile das "Lesen" jedes beliebigen gedruckten oder maschinenschriftlichen Textes möglich (z.B. Briefe, Kontoauszüge, Telefonrechnungen, Formulare usw.). Das Lesen der Tageszeitung ist zweifelsfrei elementarer Bestandteil des oben geschilderten Grundbedürfnisses "Information". Schon von daher ist die Versorgung mit einer Braillezeile, die dieses Bedürfnis ohne größere Probleme befriedigen kann, geboten. Aber auch die selbständige Erfassung von alltäglichen Schriftstücken wie Rechnungen, Kontoauszügen, Prospekten gehört zu den Voraussetzungen, um sich im heutigen Leben zurechtzufinden. Auf die Hilfe seiner Ehefrau kann der Kläger nicht verwiesen werden (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 18). Ebensowenig kann allein der Kostenaufwand der Grund sein, ein als notwendig erkanntes Hilfsmittel zu verweigern.

Der Kläger konnte jedoch nur mit seinem Hilfsbegehren hinsichtlich der Braillezeile des Typs "Info-Braille 44", die lediglich das Lesen von halben Zeilen ermöglicht, obsiegen. Dies entspricht dem Gebot der Wirtschaftlichkeit. Denn der Kläger benötigt die Zusatzausrüstung seines PC in Einsatzbereichen, die weitgehend durch eine "halbzeilige Braillezeile" bearbeitet werden können. Dies gilt vor allem für das tägliche Zeitunglesen, bei dem die Verwendung einer "halbzeiligen" Braillezeile dem Kläger zumutbar ist. Die Tatsache, daß die "halbzeilige Braillezeile" in anderen Einsatzbereichen, die vom Kläger seltener genutzt werden, im Vergleich zum "vollzeiligen" Typ ein geringeres Maß an Benutzerfreundlichkeit aufweist, kann einen Anspruch auf die aufwendigere Ausstattung nicht begründen. § 33 SGB V vermittelt keinen Anspruch auf Versorgung mit einem optimalen Hilfsmitteltyp. Stehen für einen Behinderungsausgleich mehrere Gerätetypen zur Verfügung, so beschränkt sich die Leistungspflicht der KK grundsätzlich auf den preiswerteren Typ, soweit dieser funktionell geeignet ist. Das Anerkennen eines Grundbedürfnisses auf umfassende Information bedeutet keine vollständig mit den Möglichkeiten des Gesunden gleichziehende Information des blinden Versicherten; der Anspruch findet insbesondere seine Grenze dort, wo eine nur geringfügige Verbesserung eines auf breitem Feld anwendbaren Hilfsmittels völlig außer Verhältnis zur Belastung der Versichertengemeinschaft geraten würde. Insoweit hat die Rechtsprechung auf eine begründbare Relation zwischen Kosten und Gebrauchsvorteil des Hilfsmittels (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 4 mwN; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 16 ; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 18 ; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 20 ), insbesondere den zeitlichen Umfang der beabsichtigten Nutzung und die Bedeutung der jeweils erschließbaren - hier: zusätzlich erschließbaren - Informationen (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 16 ), abgestellt. Angesichts der erheblichen Mehrkosten für ein "Info-Braille 84" gegenüber dem ebenfalls bereits kostspieligen kleineren Gerät ist der darin liegende geringfügige Gebrauchsvorteil nicht von der Solidargemeinschaft zu tragen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Rechtsgebiete

Sozialrecht

Normen

§§ 33 Abs. 1 Satz 1, 33 Abs. 5, 34 SGB V