Sittenwidrigkeit von Verträgen über Telefonsexkarten
Gericht
BGH
Art der Entscheidung
Revisionsurteil
Datum
09. 06. 1998
Aktenzeichen
XI ZR 192/97
Ein Vertrag, der darauf gerichtet ist, durch die Vermarktung und den Vertrieb von Telefonkarten Telefonsex kommerziell zu fördern, ist sittenwidrig. Die Nichtigkeit erstreckt sich auch auf ein damit verbundenes Darlehen.
Auszüge aus dem Sachverhalt:
Die Kl. nimmt die Bekl. auf Rückzahlung eines Darlehens in Höhe von 100 000 DM in Anspruch. Die Bekl. machen im Wege der Aufrechnung und Widerklage Gegenansprüche aus der Lieferung von Telefonsexkarten sowie wegen angeblicher Zeitungsannoncenkosten geltend. Mit Vertrag vom 15. 10. 1992 übernahm die Kl. für die Bekl. die Vermarktung und den Vertrieb von Telefonkarten. Mit diesen von den Bekl. hergestellten Karten sollten die Endabnehmer telefonisch von den Bekl. vermittelte „Dienstleistungen“ ohne Zusatzgeräte und ohne Belastung mit weiteren postalischen Telefongebühren abrufen können. Zu den Dienstleistungen gehörten sogenannte Sex-Gespräche mit Mitarbeiterinnen der Bekl. und das Abspielen von entsprechenden, auf Tonträgern gespeicherten Erzählungen. Für „Maßnahmen der Systemsicherung“ gewährte die Kl. den Bekl. mit dem Vertrag vom 15. 10. 1992 ein Darlehen über 100 000 DM, das frühestens nach Ablauf eines Jahres zurückgezahlt werden sollte. In der Folgezeit erhielt die Kl. „Telefon-Sexkarten“ im Gesamtwert von 103 600 DM; von diesem Betrag sind unter Berücksichtigung eines Rabatts von 35% und zweier Zahlungen in Höhe von 355 DM bzw. 1200 DM noch 65 785 DM offen, mit denen die Bekl. die Aufrechnung erklärt haben. Ferner forderten die Bekl. von der Kl. die Erstattung angeblich in der Zeit von September 1992 bis Dezember 1992 verauslagter Inseratskosten in Höhe von 89 214,35 DM, die sie nunmehr mit einem Teilbetrag von 34 215 DM zur Aufrechnung gestellt haben und in Höhe des Restbetrags von 54 999,35 DM im Wege der Widerklage verlangen. Anfang 1993 kam es zwischen den Parteien über die Vertragsdurchführung zum Streit, in dessen Verlauf die Parteien wechselseitig fristlose Kündigungen aussprachen.
Beide Vorinstanzen (vgl. zuletzt OLG Karlsruhe, NJW 1997, 2605) haben der Klage stattgegeben und die Widerklage abgewiesen. Die Revision der Bekl. hatte keinen Erfolg.
Auszüge aus den Gründen:
I. Das BerGer., dessen Urteil in NJW 1997, 2605, abgedruckt ist, hat den Zahlungsanspruch der Kl. zugesprochen und die Widerklage abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt:
Der Anspruch der Kl. auf Rückzahlung des darlehensweise gewährten Betrags von 100 000 DM ergebe sich aus § 812 I 1 BGB, weil der Vertriebsvertrag vom 15. 10. 1992 nichtig sei. Dies folge zwar nicht - wie das LG gemeint habe - aus § 134 BGB i. V. mit § 120 I Nr. 2 OWiG, weil das Tatbestandsmerkmal „sexuelle Handlung“ bei Telefongesprächen mit sexuellem Inhalt nicht erfüllt sei. Der Vertriebsvertrag sei jedoch wegen Sittenwidrigkeit nach § 138 I BGB nichtig. Denn die mit dem Vertrieb der Telefonkarten verfolgte Art der Kommerzialisierung von Intimverhalten verstoße auch unter Berücksichtigung der heutigen Ansichten gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden. Das Unwerturteil über die entgeltlichen Leistungen der Mitarbeiterinnen der Bekl. unterscheide sich nicht wesentlich von dem über die entgeltlichen Leistungen Prostituierter, auch wenn bei Telefonsex kein unmittelbarer körperlicher Kontakt hergestellt werde. Dem Rückzahlungsanspruch der Kl. stehe auch nicht § 817 S. 2 BGB entgegen, weil den Bekl. mit der Darlehensgewährung nur die zeitweilige Kapitalnutzung überlassen worden sei. Wegen der Nichtigkeit des Vertriebsvertrags entbehrten auch die Gegenansprüche der Bekl. einer Grundlage.
II. Gegen diese Beurteilung wendet sich die Revision ohne Erfolg.
1. Der Zahlungsanspruch der Kl. in Höhe der Klageforderung ergibt sich aus § 812 I 1 Alt. 1 BGB. Entgegen der Auffassung der Revision hat das BerGer. zu Recht den Vertrag vom 15. 10. 1992 einschließlich der Darlehensvereinbarung als nichtig angesehen, weil dieser Vertrag sittenwidrig ist und dem Rückzahlungsanspruch die Vorschrift des § 817 S. 2 BGB nicht entgegensteht.
a) Zu Recht hat das BerGer. die Vereinbarung vom 15. 10. 1992 nicht bereits wegen Verstoßes gegen § 120 I Nr. 2 OWiG (bzw. § 119 I Nr. 2 OWiG) nach § 134 BGB als nichtig eingestuft. Nach dieser Vorschrift, der Verbotsgesetzcharakter zukommt (vgl. BGHZ 118, 182 [188 ff.] = NJW 1992, 2557 = LM H. 12-1992 § 134 BGB Nr. 141), handelt ordnungswidrig, wer unter anderem durch Verbreiten von Tonträgern oder Datenspeichern Gelegenheit zu entgeltlichen sexuellen Handlungen anbietet. Mit der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur kann die lediglich akustische Vermittlung sexueller Reize nicht unter den Begriff der sexuellen Handlung i. S. der §§ 119 , 120 OWiG eingeordnet werden, weil hierunter nur solche Handlungen zu verstehen sind, bei denen der eigene oder ein fremder Körper eingesetzt wird (vgl. OLG Hamm, NJW 1995, 2797; OLG Stuttgart, NJW 1989, 2899; Behm, NJW 1990, 1822 [1823]; Göhler, OWiG 11. Aufl., § 119 Rdnrn. 5, 7 a; Kurz, in: KK-OWiG, § 119 Rdnr. 6, § 120 Rdnr. 13; Rebmann-Roth-Herrmann, OWiG, Stand: April 1997, § 119 Rdnr. 5, § 120 Rdnr. 10; Tröndle, StGB, 48. Aufl., § 184 c Rdnr. 2; a. A. LG Bonn, NJW 1989, 2544).
b) Entgegen der Ansicht der Revision ist die Vereinbarung vom 15. 10. 1992 jedoch als sittenwidrig i. S. des § 138 I BGB anzusehen. Nach den Feststellungen des BerGer., die von der Revision ausdrücklich hingenommen werden, sollten die zum Weiterverkauf vorgesehenen Telefonkarten größtenteils dazu dienen, dem Endabnehmer gegen Entgelt mit hierfür bezahlten Mitarbeiterinnen der Bekl. Telefongespräche sexuellen Inhalts zu ermöglichen.
aa) Die Sittenwidrigkeit von Telefonsex-Verträgen wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beurteilt. Das Unwerturteil wird im wesentlichen damit begründet, daß beim Telefonsex die jeweilige Mitarbeiterin des Anbieters als Person zum Objekt herabgewürdigt und zugleich der Intimbereich zur Ware gemacht werde (vgl. OLG Düsseldorf, NJW-RR 1991, 246 f.; OLG Hamm, NJW 1989, 2551; LG Mannheim, NJW 1995, 3398 f.; AG Essen, NJW 1989, 3162 f.; AG Garmisch-Partenkirchen, NJW 1990, 1856 f.; AG Halle, NJW-RR 1993, 1016; Erman-Brox, BGB, 9. Aufl., § 138 Rdnr. 85; Mayer-Maly, in: MünchKomm, 3. Aufl., § 138 Rdnr. 52; Medicus, BGB AT, 7. Aufl., Rdnr. 701; Staudinger-Sack, BGB 1996, § 138 Rdnr. 454). Die Gegenansicht weist darauf hin, daß - anders als bei der Prostitution oder bei einer Peep-Show - beim Telefonsex die Anbieterin dem Anrufer nicht ausgeliefert sei, sondern ihr noch ausreichend Fluchträume verblieben; die Anbieterin werde durch das Fehlen eines unmittelbaren persönlichen Kontakts nicht zur bloßen Ware (vgl. OLG Hamm, NJW 1995, 2797; OLG Stuttgart, NJW 1989, 2899; LG Hamburg, NJW-RR 1997, 178 f.; AG Aue, NJW 1997, 2604 f.; AG Düsseldorf, NJW 1990, 1856; AG Offenbach, NJW 1988, 1097; Behm, NJW 1990, 1822 [1824]; Jauernig-Jauernig, BGB, 8. Aufl., § 138 Rdnr. 17; Palandt-Heinrichs, BGB, 57. Aufl., § 138 Rdnr. 52).
bb) Die zwischen den Parteien getroffene Vereinbarung vom 15. 10. 1992 ist sittenwidrig. Das ergibt sich daraus, daß die Parteien mit dieser Vereinbarung ein bestimmtes Sexualverhalten ihrer potentiellen Kunden in verwerflicher Weise kommerziell ausnutzen wollten. Der vertragsmäßig verfolgte Geschäftszweck war damit selbst sittenwidrig (ebenso für den Kaufvertrag über ein Telefonsexvermittlungsunternehmen: OLG Düsseldorf, NJW-RR 1991, 246). Es kann auch davon ausgegangen werden, daß bei diesen Gesprächen der Anrufer die Möglichkeit zur Selbstbefriedigung oder zu anderen sexuellen Praktiken erhalten bzw. auf Wunsch hierzu animiert werden soll. Hierdurch wird der Intimbereich - wie bei der Prostitution oder bei einer Peep-Show - zur Ware gemacht. Daß es zwischen Anrufer und „Service-Mädchen“ zu keinem unmittelbaren körperlichen Kontakt kommt, ist ohne Bedeutung. Denn bei dem Gespräch wird von der Anbieterin auch vorgegeben, sexuelle Handlungen an sich oder dem Anrufer vorzunehmen, um ihn so zur sexuellen Erregung oder Befriedigung zu bringen (vgl. LG Mannheim, NJW 1995, 3398: „Wortbordelle“; AG Essen, NJW 1989, 3162 [3163]). Diesem Zweck des Gesprächs bzw. Wunsch des Kunden muß sich die Gesprächspartnerin unterordnen, so daß der Gesprächsinhalt nicht ihrer freien Willensbestimmung unterliegt und damit ihre „aktive“ Rolle nur scheinbar ist. Dadurch wird die Anbieterin zum Objekt gerade auch deshalb herabgewürdigt, weil es an einer unmittelbaren menschlichen Begegnung fehlt und sie auf ihre Stimme und den Inhalt ihrer Äußerungen, die üblicherweise nur in Momenten intimen Zusammenseins abgegeben werden, reduziert wird (vgl. AG Halle, NJW-RR 1993, 1016). Wegen der fehlenden Zugangskontrolle sprechen schließlich auch Gründe des im Interesse der Allgemeinheit liegenden Jugendschutzes für die Sittenwidrigkeit des mit der Vertriebsvereinbarung bezweckten Leistungserfolgs (vgl. BVerwGE 64, 274 [276] = NJW 1982, 664; BVerwGE 71, 29 [31] = NVwZ 1985, 826; OLG Karlsruhe, NJW 1978, 61).
Mit dem Kauf eines Pornoheftes oder dem Besuch der Vorführung eines Pornofilms kann der mit der Vereinbarung verfolgte Geschäftszweck nicht verglichen werden (vgl. aber AG Offenbach, NJW 1988, 1097; Behm, NJW 1990, 1822 [1824 f.]). Denn bei den von den Parteien beabsichtigten Telefongesprächen sollte der Kunde immerhin in unmittelbaren akustischen Kontakt zu seiner Gesprächspartnerin treten, die für den Kunden nur eine „Gesprächsnummer“ darstellt. Dadurch wird diese zur Ware, so daß ihre Anonymität gerade kein Argument gegen die Sittenwidrigkeit des Geschäfts darstellt (so aber OLG Hamm, NJW 1995, 2797; LG Hamburg, NJW-RR 1997, 178 [179]; Behm, NJW 1990, 1822 [1824 f.]). Ebensowenig überzeugt der Hinweis, der Gesprächspartnerin verblieben ausreichend Fluchträume, die sie dem Anrufer nicht ausgeliefert sein ließen (vgl. OLG Hamm, NJW 1995, 2797). In der Praxis werden die Mitarbeiterinnen des Telefonsex-Anbieters das Telefonat „bei Nichtgefallen“ nicht einfach abbrechen können. Entgegen der Ansicht der Revision kann der umstrittene Vertrag auch nicht mit einem (rechtlich wirksamen) Bierlieferungsvertrag an ein Bordell (vgl. hierzu BGH, NJW-RR 1987, 999 = LM § 134 BGB Nr. 119 = WM 1987, 1106 [1107]) gleichgesetzt werden, weil es sich bei jenem nur um ein bloßes Hilfsgeschäft handelt, welches selbst wertneutral ist, während die Vereinbarung vom 15. 10. 1992 unmittelbar von dem beschriebenen Unwerturteil erfaßt wird (vgl. für einen Anzeigenvertrag BGHZ 118, 182 [187 ff.] = NJW 1992, 2557 = LM H. 12-1992 § 134 BGB Nr. 141).
c) Die Nichtigkeit erstreckt sich nach § 139 BGB auch auf das mit dem Vertriebsvertrag untrennbar verbundene Darlehen, da dieses zur Finanzierung von „Maßnahmen der Systemsicherung“ dienen sollte. Das Darlehen war für eine „Betriebsinvestition“ zweckgebunden und sollte das Telefonsexkartengeschäft objektiv fördern und ermöglichen. Als bloß untergeordnetes Hilfsgeschäft im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung läßt es sich daher gerade nicht einordnen (vgl. BGH, NJW-RR 1990, 750 = WM 1990, 799 [801]).
d) Entgegen der Ansicht der Revision steht dem Klageanspruch nicht § 817 S. 2 BGB entgegen. Nach der Rechtsprechung des Senats scheitert eine Rückforderung des Darlehenskapitals grundsätzlich nicht an dieser Vorschrift, weil sonst der von der Rechtsordnung mißbilligte Zweck gleichsam legalisiert würde; vielmehr ist ein solcher Ausschluß - wie z. B. bei einem zu Spielzwecken hingegebenen und verlorenen Darlehen - nur dann gerechtfertigt, wenn die Durchführung des zu mißbilligenden Zwecks von vornherein mit einem dem Darlehensgeber bekannten Risiko verbunden war, dieses Risiko sich verwirklicht und für den Darlehensnehmer zu einem Verlust des Kapitals geführt hat (vgl. Senat, NJW 1995, 1152 = LM H. 7-1995 § 607 BGB Nr. 152 = WM 1995, 566 [567 f.]; BGH, NJW-RR 1990, 750 = WM 1990, 799 [802]; OLG München, MDR 1977, 228; Erman-Westermann, § 817 Rdnr. 22; Lieb, in: MünchKomm, § 817 Rdnr. 21; Becker-Eberhard, WuB IV A. § 817 BGB 1.95; Kohler, EWiR 1995, 443 [444]). Ein solcher Ausnahmefall liegt nicht vor.
2. Da die Vereinbarung vom 15. 10. 1992 wegen Sittenwidrigkeit gem. § 138 BGB nichtig ist, stehen den Bekl. auch die zur Aufrechnung gestellten bzw. mit der Widerklage geltend gemachten Gegenansprüche nicht zu.
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