Anrechnung von Rente auf Sozialhilfeanspruch

Gericht

BVerfG


Art der Entscheidung

Beschluss über Vorlage


Datum

16. 12. 1997


Aktenzeichen

1 BvL 3/89


Leitsatz des Gerichts

Es verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz des Grundgesetzes (Art. 3 I), daß bei Müttern der Geburtsjahrgänge ab 1921 die auf Kindererziehung beruhenden Leistungen auf die Sozialhilfe angerechnet werden, während dies bei Müttern der Geburtsjahrgänge vor 1921 nicht der Fall ist (Fortführung von BVerfGE 87, 1 = NJW 1992, 2213 = NZS 1992, 25).

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die 1922 geborene Kl. des Ausgangsverfahrens erhält seit 1975 auf der Grundlage des Bundessozialhilfegesetzes ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt, die im August 1987 502,32 DM monatlich betrug. Daneben bezog sie von der BfA eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in Höhe von 357,48 DM monatlich. Der genannte Betrag für die Sozialhilfeleistung ergab sich daraus, daß der sozialhilferechtliche Gesamtbedarf in Höhe von 859,80 DM durch die Erwerbsunfähigkeitsrente zum Teil gedeckt wurde. Als 1987 die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in ein Altersruhegeld umgewandelt wurde und hierbei nach dem Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetz vom 11. 7. 1985 (BGBl I, 1450 - HEZG) für drei Kinder zusätzlich 31 Kalendermonate Kindererziehungszeit rentensteigernd berücksichtigt wurden, führte das zu einer Erhöhung des Zahlbetrags um 68,14 DM auf 425,62 DM monatlich. Im Hinblick auf diese Rentenerhöhung minderte die Bekl. den Betrag der ergänzenden Hilfe zum Lebensunterhalt genau um den Erhöhungsbetrag, so daß sich die Bezüge der Kl. insgesamt nicht erhöhten.

Das VG hat das Verfahren ausgesetzt und dem BVerfG die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, daß der Gesetzgeber in den §§ 76 ff. BSHG i. d. F. der Bekanntmachung vom 20. 1. 1987 (BGBl I, 401) sowie in der Reichsversicherungsordnung i. d. F. der Bekanntmachung vom 15. 12. 1924 (RGBl I, 779) keine Regelung getroffen hat, nach der der auf Kindererziehung beruhende Teil des Altersruhegeldes von Müttern der Geburtsjahrgänge nach 1920, die in Kriegs- oder Nachkriegszeiten ein Kind geboren und erzogen haben, von der Anrechnung auf den Sozialhilfeanspruch ausgeschlossen ist, während für Kindererziehungsleistungen, die den vor 1921 geborenen Müttern zustehen, in Art. 2 § 66 S. 1 ArVNG ein solcher Anrechnungsausschluß vorgesehen ist.

Die durch das Kindererziehungsleistungs-Gesetz v. 12. 7. 1987 (BGBl I, 1585 - KLG) eingefügten Vorschriften der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (§ 66 ArVNG, § 65 AnVNG, § 39 KnVNG) führten dazu, daß Kindererziehungsleistungen für Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921, die - regelmäßig in Kriegs- oder Nachkriegszeiten - ein Kind geboren hätten und Sozialhilfeempfängerinnen seien, nicht auf den Sozialhilfeanspruch angerechnet würden. Dagegen müßten Mütter, die - wie die Kl. - nach 1920 geboren seien und ebenfalls in Kriegs- oder Nachkriegsjahren Kinder erzogen hätten, also weitestgehend vergleichbaren Belastungen wie vor 1921 geborene Mütter bei der Kindererziehung ausgesetzt gewesen seien, mangels einer entsprechenden Nichtanrechnungsbestimmung eine Kürzung ihrer Sozialhilfe um die Kindererziehungsleistung hinnehmen. Die dargestellte unterschiedliche Behandlung sei sachlich nicht gerechtfertigt. Zwar habe das BVerfG in seinem Urteil vom 7. 7. 1992 (BVerfGE 87, 1 = NJW 1992, 2213) zu dem Verhältnis beider Personengruppen bereits Stellung genommen. Über die Verfassungsmäßigkeit der Anrechnung von Kindererziehungsleistungen nach dem Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetz auf die Sozialhilfe bei Müttern der Geburtsjahrgänge nach 1920 sei aber nicht entschieden worden.

Das BVerfG teilte die Bedenken nicht.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

B. Es verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 I GG), daß bei Müttern der Geburtsjahrgänge ab 1921 der auf Kindererziehungszeiten beruhende Teil des Altersruhegeldes auf die Sozialhilfe angerechnet wird.

1. Soweit es um den Ausgleich kindererziehungsbedingter Nachteile in der Alterssicherung geht, werden Mütter der Geburtsjahrgänge ab 1921 anders behandelt als Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921. Dabei sind in manchen Punkten die Regelungen des Kindererziehungsleistungs-Gesetzes günstiger, in anderen diejenigen des Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetzes. Die hier zur Prüfung gestellte Einzelregelung benachteiligt Versicherte der Geburtsjahrgänge ab 1921, sofern sie auf Sozialhilfe angewiesen sind. Während Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921 neben der Sozialhilfe zusätzlich Einkommen nach dem Kindererziehungsleistungs-Gesetz erhalten können, wirkt sich der auf Kindererziehungszeiten beruhende Teil der Rente bei Müttern der Geburtsjahrgänge ab 1921 in der Sozialhilfe leistungsmindernd aus.

2. Diese Ungleichbehandlung ist jedoch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Für die Ungleichbehandlung bestehen sachliche Gründe (vgl. BVerfGE 87, 1 [36] = NJW 1992, 2213; BVerfGE 88, 87 [96 f.] = NJW 1993 1517; BVerfGE 92, 53 [68] = NJW 1995, 2279 L = NZA 1995, 752 = NZS 1995, 312).

a) Die Eigenständigkeit der Regelungen des Kindererziehungsleistungs-Gesetzes gegenüber denjenigen des Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetzes, gegen die verfassungsrechtliche Bedenken nicht bestehen (vgl. BVerfGE 87, 1 = NJW 1992, 2213), beruht darauf, daß Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921 bei Inkrafttreten des Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetzes die Altersgrenze von 65 Jahren erreicht hatten und daß ihre bereits abgeschlossene Rentenbiographie nicht mehr mit einem vertretbaren Aufwand hätte aufgerollt werden können. Vor allem hätte das gesetzgeberische Ziel, ihnen eine Leistung für Kindererziehung zukommen zu lassen, über das Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetz nur unzureichend verwirklicht werden können, wenn diese Personengruppe die Anwartschaft für ein Altersruhegeld nicht erfüllt hatte. Anders als Versicherte der Geburtsjahrgänge ab 1921 hätten sie nicht mehr die Möglichkeit gehabt, Lücken in der Rentenbiographie durch Entrichtung freiwilliger Beiträge (vgl. § 1233 RVO, § 10 AVG, § 33 II RKG) zu schließen und wenigstens auf diese Weise in den Genuß der Leistungen nach dem Hinterbliebenenrenten- und Erziehungsgeldgesetz zu gelangen (vgl. BVerfGE 87, 1 [44] = NJW 1992, 2213), weil bei ihnen der letzte Versicherungsfall schon eingetreten war.

Ob daneben für die Wahl des Stichtages noch von Bedeutung ist, daß gerade die Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921 anders als die jüngeren wegen der herkömmlichen Rollenverteilung von Mann und Frau oftmals nicht im Erwerbsleben gestanden und deshalb keine Rentenanwartschaften erworben hatten (vgl. die Amtl. Begr. des Gesetzentwurfs der BReg., BT-Dr 11-197, S. 9), kann offen bleiben. Denn bei diesem Personenkreis fiel vornehmlich ins Gewicht, daß ein Ausgleich für Kindererziehung im Rentenrecht nicht mehr durchführbar war. Damit bestand ein gewichtiger Grund für eine unterschiedliche Ausgestaltung der Leistungen, obwohl sie demselben Zweck dienen.

Es können deshalb nicht einzelne Regelungselemente des Kindererziehungsleistungs-Gesetzes herausgegriffen und mit denjenigen des Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetzes am Maßstab des Art. 3 I GG verglichen werden. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist vielmehr maßgeblich eine Gesamtbetrachtung der beiden Regelungssysteme mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen. Während nach dem Kindererziehungsleistungs-Gesetz ausschließlich leibliche Mütter berechtigt sind, können nach den Vorschriften des Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetzes Adoptiv-, Stief- und Pflegemütter und auch Väter Leistungen für Kindererziehung erhalten. Andererseits sind nach dem Kindererziehungsleistungs-Gesetz auch versicherungsfreie Personen begünstigt. Die Kindererziehungsleistungen für vor 1921 geborene Mütter bleiben - anders als Renten - unbesteuert. Renten, die auf Kindererziehungszeiten beruhen, sind demgegenüber „hinterbliebenenfähig“, Leistungen für Kindererziehung nach dem Kindererziehungsleistungs-Gesetz nicht. Bei einer solchen Gesamtbetrachtung kommt der Anrechnung des auf Kindererziehungszeiten beruhenden Teils der Rente auf den sozialhilferechtlichen Bedarf bei Müttern der Geburtsjahrgänge ab 1921 kein derartiges Gewicht zu, daß eine isolierte verfassungsrechtliche Bewertung am Maßstab des Art. 3 I GG gerechtfertigt wäre. Wenn unterschiedliche Regelungssysteme für gleichartige Sachverhalte oder gleichartige Zwecke - Abgeltung für Kindererziehung - generell gerechtfertigt sind (vgl. BVerfGE 87, 1 [43 ff.] = NJW 1992, 2213), so kann nicht nach einzelnen Begünstigungen und Benachteiligungen differenziert und eine von dem jeweiligen Regelungssystem losgelöste, isolierte verfassungsrechtliche Prüfung vorgenommen werden (vgl. BSG, SozR 3-3100 § 40 a BVG Nr. 1). Es ist daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß der Gesetzgeber den teilweise hochbetagten Müttern der Geburtsjahrgänge vor 1921 den tatsächlichen Erhalt der neu geschaffenen Leistung garantieren wollte.

b) Zugleich sollte die außergewöhnliche Belastung der Geburtsjahrgänge vor 1921 in den besonders schwierigen Kriegs- und Nachkriegszeiten anerkannt werden (vgl. die Amtl. Begr. des Gesetzentwurfs der BReg., BT-Dr 11-197, S. 12 f.). Bei ihnen konnte typischerweise eher der Fall der Sozialhilfebedürftigkeit eintreten, weil Krieg und Nachkriegszeit ihnen den Aufbau eigener Rentenansprüche besonders erschwert hatten. Zwar ist es nicht von der Hand zu weisen, daß auch noch Versicherte der Geburtsjahrgänge nach 1920 Kinder in zum Teil vergleichbar schwierigen Zeiten zu erziehen hatten. Jedoch durfte der Gesetzgeber davon ausgehen, daß sie zunehmend von der günstigeren Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland profitiert haben.

c) Das gilt um so mehr, als im Unterschied zu dem am 1. 1. 1986 in Kraft getretenen Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetz das Kindererziehungsleistungs-Gesetz einen Leistungsbeginn frühestens zum 1. 10. 1987 vorsah. Insgesamt haben die älteren Frauen ohnedies erheblich geringere Leistungen erhalten, weil die Bezugsdauer durch den hinausgezögerten Leistungsbeginn und die geringere Lebenserwartung gemindert war. Da das Gesetz erst 21 Monate später als das Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetz in Kraft trat, bestand für den vom Kindererziehungsleistungs-Gesetz betroffenen Personenkreis mindestens eine entsprechende Leistungslücke (vgl. BVerfGE 87, 1 [45] = NJW 1992, 2213). Aber auch bei jeder einzelnen Frau setzte der Leistungsbeginn regelmäßig erst geraume Zeit nach Vollendung des 65. Lebensjahres ein. Die ältesten Berechtigten waren bei Leistungsbeginn 80 Jahre; die jüngsten erhielten die Zahlung ab dem 70. Lebensjahr. Insofern dient die unbedingte Garantie des Zahlbetrags dem Ausgleich des zeitlich verkürzten Gesamtanspruchs.

d) Die Ungleichbehandlung ist aber auch durch das gesetzgeberische Ziel gerechtfertigt, das Verwaltungsverfahren für die Bewilligung und Auszahlung der Leistungen nach dem Kindererziehungsleistungs-Gesetz - wegen der Eilbedürftigkeit - möglichst einfach zu halten. Den Müttern der Geburtsjahrgänge vor 1921 konnte und sollte - wie die Bundesregieung in ihrer Stellungnahme ausgeführt hat - schon wegen ihres hohen Alters kein weiterer als der unumgänglich notwendige Schriftwechsel zugemutet werden. Eine Anrechnung der Leistung für Kindererziehung auf andere Sozialleistungen hätte dieses Ziel in Frage gestellt (vgl. die Amtl. Begr. des Gesetzentwurfs der BReg., BT-Dr 11-197, S. 13). Nachzahlungsbeträge wären zur Erfüllung öffentlichrechtlicher Ausgleichsansprüche einbehalten worden (§§ 102 ff . SGB X). Bei Müttern, deren Erziehungsleistung nach dem Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeitengesetz berücksichtigt wird, besteht insoweit kein Bedarf zu besonderer Verfahrensgestaltung. Die Kindererziehung ist nur einer von vielen Faktoren der Rentenverrechnung, die - rechtzeitig beantragt - für die Zukunft den Leistungsanspruch bestimmt.

Vorinstanzen

VG Braunschweig

Rechtsgebiete

Sozialrecht

Normen

GG Art. 3 I; BSHG §§ 76 ff.; ArVNG § 66; AnVNG § 65; KnVNG § 39