Erstattung für Mehraufwendungen durch Krankenkost
Gericht
BSG
Art der Entscheidung
Revisionsurteil
Datum
09. 12. 1997
Aktenzeichen
1 RK 23/95
Die Krankenkasse hat nicht für Mehraufwendungen aufzukommen, die dadurch entstehen, daß der Versicherte anstelle haushaltsüblicher Lebensmittel aus Krankheitsgründen eine Diät- oder Krankenkost verwenden muß (Abgrenzung zu BSGE 63, 99 = SozR 2200 § 182 Nr. 109; BSG SozR 2200 § 182 Nr. 88; Abweichung von BSG vom 27. 9. 1994 - 8 RKn 9/92).
Auszüge aus dem Sachverhalt:
Der 1987 geborene Kl. leidet an einer Phenylketonurie, einer angeborenen Störung des Eiweißstoffwechsels, bei der die Aminosäure Phenylalanin vom Körper nicht abgebaut werden kann. Die Krankheit erfordert eine Diät, deren Grundlage phenylalaninfreie Eiweißersatzpräparate bilden. Daneben müssen haushaltsübliche Getreideprodukte wie Mehl, Brot, Backwaren, Teigwaren, Gebäck und Pasteten durch eiweißarme Spezialnahrungsmittel aus dem Reformhaus ersetzt werden.
Die bekl. Ersatzkasse, bei welcher der Kl. über seine Mutter krankenversichert ist, trägt die Kosten für die als Arzneimittel eingestuften Eiweißersatzpräparate. Die Übernahme der Kosten für die eiweißarme Nahrungsmittel lehnte sie dagegen ab, weil die Krankenversicherung für die Beschaffung von Lebensmitteln des täglichen Bedarfs auch dann nicht aufzukommen habe, wenn aus Krankheitsgründen eine besondere, kostenaufwendigere Ernährung vonnöten sei.
Während das SG die dagegen gerichtete Klage abgewiesen hat, hat das LSG die Bekl. verurteilt, dem Kl. die durch die notwendige eiweißarme Ernährung entstandenen Mehrkosten im Verhältnis zu den Kosten der Ernährung eines gesunden gleichaltrigen Versicherten zu erstatten. Die Revision der Bekl. war erfolgreich.
Auszüge aus den Gründen:
Nach dem Tenor des angefochtenen Urteils hat das Berufungsgericht nur über die Erstattung der bei Erlaß des Urteils bereits entstandenen Kosten entschieden. Es hat damit das Klagebegehren, das auf Übernahme der durch die eiweißarme Ernährung bedingten Mehraufwendungen ohne zeitliche Begrenzung gerichtet war, nicht ausgeschöpft. Da nur die Bekl. Revision eingelegt hat, ergeben sich daraus jedoch keine prozessualen Folgerungen. In der Sache selbst kann der Auffassung des LSG nicht gefolgt werden. Der Kl. hat keinen Anspruch auf Erstattung der durch den Verzehr eiweißarmer Spezialnahrungsmittel entstandenen krankheitsbedingten Mehrkosten.
Als Rechtsgrundlage des vom LSG angenommenen Erstattungsanspruchs kommt nur § 13 III (früher II) SGB V in Betracht. Danach hat die Krankenkasse, wenn sie eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat, dem Versicherten die für die Beschaffung der Leistung aufgewendeten Kosten zu erstatten. Da der Kostenerstattungsanspruch an die Stelle eines an sich gegebenen Sachleistungsanspruchs tritt, kann er nur bestehen, soweit die selbstbeschaffte Leistung ihrer Art nach zu den Leistungen gehört, welche die gesetzlichen Krankenkassen als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben. Das ist bei den im Streit befindlichen Diätnahrungsmitteln nicht der Fall.
Die von der Krankenkasse zu gewährende Krankenbehandlung umfaßt neben der ärztlichen Behandlung ua nach § 27 I 2 Nr. 3 SGB V die Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln. Diätnahrungsmittel sind keine Heilmittel iS der genannten Vorschrift, weil sie zum Verzehr und nicht zur äußeren Einwirkung auf den Körper bestimmt sind (zum Begriff des Heilmittels vgl. BSGE 28, 158, 159f = SozR Nr 30 zu § 182 RVO Bl Aa 28; BSGE 46, 179, 182 = SozR 2200 § 182 Nr 32 S 62; BSG SozR 3-2200 § 182 Nr 11 S 47f). Als Arzneimittel dürfen sie nach den Arzneimittelrichtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (AMRL) von den an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzten nicht verordnet werden (vgl Nr 17.1 Buchst i AMRL vom 31. 8. 1993 - BAnz 1993 Nr 246; ebenso früher: Nr 21 Buchst i AMRL vom 19. 6. 1978 - Beilage zum BAnz 1978 Nr 235). Sie sind damit von der Anwendung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen. Die auf der Grundlage des § 92 I 2 Nr 6 SGB V erlassenen AMRL regeln als untergesetzliche Rechtsnormen den Umfang und die Modalitäten der Arzneimittelversorgung mit verbindlicher Wirkung sowohl für die Vertragsärzte und die Krankenkassen als auch für die Versicherten (allgemein zur Rechtsqualität und Tragweite der Richtlinien der Bundesausschüsse der (Zahn)Ärzte und Krankenkassen: Senatsurteil vom 16. 9. 1997 - 1 RK 32/95). Das Verordnungsverbot für Diätlebensmittel und Krankenkost hält sich im Rahmen der dem Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen erteilten Rechtsetzungsermächtigung. Zwar bezieht sich diese Ermächtigung nach der Rechtsprechung des BSG nur auf den Erlaß von Vorschriften zur Sicherung einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Arzneimittelversorgung und gibt dem Bundesausschuß nicht die Befugnis, selbst Inhalt und Grenzen des Arzneimittelbegriffs festzulegen (BSGE 66, 163, 164 = SozR 3-2200 § 182 Nr 1 S 2; BSGE 67, 36, 38 = SozR 3-2500 § 27 Nr 2 S 4; BSGE 72, 252, 255 = SozR 3-2200 § 182 Nr 17 S 81f). Der Regelung in Nr 17.1 Buchst i AMRL liegt indessen kein vom Gesetz abweichender Arzneimittelbegriff zugrunde. Sie zieht mit dem Ausschluß von Diätnahrungsmitteln aus der vertragsärztlichen Versorgung lediglich die rechtliche Konsequenz daraus, daß derartige Produkte keine Arzneimittel im krankenversicherungsrechtlichen Sinne sind.
Der Begriff des Arzneimittels wird im SGB V selbst nicht erläutert. Nach der Definition des Arzneimittelgesetzes (AMG), die im wesentlichen mit dem allgemeinen Sprachgebrauch übereinstimmt, sind darunter Substanzen zu verstehen, deren bestimmungsgemäße Wirkung darin liegt, Krankheitszustände zu erkennen, zu heilen, zu bessern, zu lindern oder zu verhüten (vgl § 2 I AMG idF der Bekanntmachung vom 19. 10. 1994 - BGBl I 3018). Die in Rede stehenden eiweißarmen Getreideprodukte dienen demgegenüber in erster Linie der Ernährung. Sie treten an die Stelle haushaltsüblicher Back- und Teigwaren, deren Verzehr dem Kl. wegen ihrer krankheitsverschlimmernden Wirkung versagt ist. Ihre durch den vorrangigen Verwendungszweck begründete Eigenschaft als Nahrungs- bzw. Lebensmittel (vgl § 1 I Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz idF der Bekanntmachung vom 9. 9. 1997 - BGBl I 2390) verlieren sie nicht dadurch, daß sie speziell zu dem Zweck hergestellt werden, eine auf die Krankheit abgestimmte Ernährungsweise zu ermöglichen. Als Lebensmittel sind sie, wie § 2 III Nr 1 AMG ausdrücklich klarstellt, keine Arzneimittel. Sie gehören damit auch nicht zur Arzneimittelversorgung als Teil der Krankenbehandlung. Dabei kann offenbleiben, ob der Arzneimittelbegriff des SGB V in jeder Hinsicht mit demjenigen des AMG übereinstimmt (verneinend: BSGE 67, 36, 38 = SozR 3-2500 § 27 Nr 2 S 4; BSG SozR 3-2200 § 182 Nr 11 S 46; bejahend: Schlenker, DOK 1987, 236ff; ders., SGb 1988, 473ff). Darauf kommt es nicht an, weil jedenfalls in dem hier interessierenden Punkt der Unterscheidung und Abgrenzung zwischen Arzneimittel auf der einen und Nahrungsmitteln auf der anderen Seite keine Abweichung besteht.
Eine Ausweitung des Arzneimittelbegriffs durch Einbeziehung von Diät- oder Krankenkost widerspräche der begrenzten Aufgabenstellung der gesetzlichen Krankenversicherung. Diese verfolgt nicht das Ziel, den Versicherten vor krankheitsbedingten Nachteilen umfassend zu schützen. Bei der Vielzahl von Auswirkungen, die eine Krankheit auf die Lebensführung des Betroffenen haben kann, wäre das Krankenversicherungsrisiko nicht sachgerecht begrenzbar, wenn es sich auf alle durch die Krankheit veranlaßten Aufwendungen erstrecken würde. Die Leistungspflicht der Krankenkassen ist deshalb, soweit das Gesetz nichts anderes vorschreibt, auf Maßnahmen beschränkt, die gezielt der Krankheitsbekämpfung dienen. Mehrkosten und andere Nachteile und Lasten, die der Versicherte im täglichen Leben wegen der Krankheit hat, sind der allgemeinen Lebenshaltung zuzurechnen und nicht von der Krankenkasse zu tragen (vgl BSGE 42, 16, 18f = SozR 2200 § 182 Nr 14 S 30f; BSGE 42, 229, 231 = SozR 2200 § 182b Nr 2 S 3; BSGE 53, 273, 275 = SozR 2200 § 182 Nr 82 S 161f). Das gilt grundsätzlich auch für Mehraufwendungen, die durch eine besondere, krankheitsangepaßte Ernährungsweise entstehen (BSG SozR 2200 § 182 Nr 88 S 183; BSGE 63, 99, 100 = SozR 2200 § 182 Nr 109 S 234; vgl. zur identischen Risikoabgrenzung im Beihilferecht des öffentlichen Dienstes: OVG RhPf., Der öffentliche Dienst 1995, 291; VGH BadWürtt., Zeitschrift für Beamtenrecht 1985, 255; im sozialen Entschädigungsrecht: BSGE 64, 1 = SozR 3100 § 11 Nr 17; im Sozialhilferecht: BVerwG Buchholz 427.3 § 276 LAG Nr 15). Dementsprechend hat der 3. Senat des BSG schon zum früheren Recht der Reichsversicherungsordnung (RVO) entschieden, daß Lebensmittel, auch soweit ihnen über ihren generellen Ernährungszweck hinaus eine spezifische krankheitsheilende, krankheitslindernde oder verschlimmerungshemmende Wirkung zukommt, keine Arzneimittel im Sinne des Leistungsrechts der Krankenversicherung sind (Urteil des 3. Senats vom 18. 5. 1978 - BSGE 46, 179, 182 = SozR 2200 § 182 Nr 32 S 82).
Dieser Rechtsstandpunkt ist entgegen der Ansicht des LSG nicht dadurch relativiert worden, daß derselbe Senat in späteren Entscheidungen zu § 182 I RVO die Auffassung vertreten hat, eine Krankenkost könne von der Krankenkasse ausnahmsweise gewährt werden, wenn zu der Heilwirkung der Kost für den einzelnen Versicherten noch besondere gravierende Umstände, insbesondere eine unzumutbare hohe finanzielle Belastung durch die im Vergleich zu üblichen Lebensmitteln teureren Diätpräparate, hinzuträten (Urteile vom 23. 3. 1983 - SozR 2200 § 182 Nr 88 S 183 und vom 23. 3. 1988 - BSGE 63, 99, 100 = SozR 2200 § 182 Nr 109 S 234; ähnlich für andere Gegenstände des allgemeinen Lebensbedarfs: BSGE 65, 154, 157 = SozR 2200 § 368e Nr 13 S 35; BSGE 67, 36, 37 = SozR 3-2500 § 27 Nr 2 S 3). Damit ist nicht zum Ausdruck gebracht worden, daß beim Vorliegen derartiger Umstände die Krankenkost zum Arzneimittel wird. Die Revision weist mit Recht darauf hin, daß die Arzneimitteleigenschaft einer Substanz durch den Verwendungszweck bestimmt wird und nichts mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Versicherten zu tun hat. Andernfalls könnte ein und dasselbe Produkt je nach der Situation des Erkrankten einmal Arzneimittel sein und ein anderes Mal nicht. Die angeführten Entscheidungen haben nicht den Arzneimittelbegriff modifiziert, sondern vielmehr das Spektrum der im Gesetz vorgesehenen Leistungen erweitert. Das war nach früherem Recht nicht ausgeschlossen; denn § 182 I Nr 1 RVO enthielt, wie das Wort „insbesondere„ im Einleitungssatz der Vorschrift verdeutlicht, keine abschließende Aufzählung der als Krankenpflege zu gewährenden Leistungen und ließ damit Raum für eine Ausweitung des Leistungskatalogs. Insofern konnte die Gewährung der Krankenkost in den genannten Ausnahmefällen als eine besondere Leistung der Krankenpflege neben den in § 182 I Nr 1 RVO ausdrücklich genannten Leistungsarten angesehen werden. Diese Möglichkeit ist mit dem Inkrafttreten des SGB V am 1. 1. 1989 entfallen. Der jetzige § 27 I 2 SGB V regelt den Umfang der Krankenbehandlung bewußt abschließend (Begründung zum Entwurf des Gesundheits-Reformgesetzes, BT-Drucks 11/2237 S 170). Die Krankenkassen sind damit grundsätzlich auf die in der Vorschrift genannten Leistungen beschränkt; außerhalb etwaiger Modellvorhaben nach § 63 II SGB V können neue Leistungsarten nur vom Gesetzgeber eingeführt werden (Höfler in KassKomm, § 27 SGB V RdNr 58; von Maydell in Gemeinschaftskommentar zum SGB V § 27 RdNr 77). Die bisherige Rechtsprechung, auf die das LSG seine Entscheidung gestützt hat, kann deshalb für das geltende Recht nicht aufrechterhalten werden.
Mit der Aussage, daß Lebensmittel, auch wenn es sich um Diät- oder Krankenkost handelt, keine Leistungen der Krankenversicherung sind, weicht der Senat von der Rechtsauffassung ab, die dem Urteil des für die knappschaftliche Krankenversicherung zuständigen 8. Senat des BSG vom 27. 9. 1994 - 8 RKn 9/92 (USK 94110) zugrunde liegt. Der 8. Senat hat dort auch für das neue Recht daran festgehalten, daß ein Lebensmittel (im konkreten Fall ein handelsübliches Heilwasser) ausnahmsweise zum Arzneimittel werden könne, wenn zu der Heilwirkung besonders gravierende Umstände, etwa eine unzumutbare finanzielle Belastung des Versicherten, hinzukämen. Einer Anfrage gemäß § 41 III SGG wegen der insoweit bestehenden Divergenz bedarf es gleichwohl nicht, weil vorliegend ein Anspruch des Kl. auch bei Zugrundelegung der Rechtsauffassung des 8. Senats zu verneinen wäre. Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 10. 5. 1995 (SozR 3-2500 § 33 Nr 15) entschieden, daß krankheitsbedingte Mehrkosten beim Kauf von Gegenständen des allgemeinen Lebensbedarfs nur dann als „besonders gravierender Umstand„ gewertet werden können, wenn bei den betreffenden Gütern der Teil der Herstellungskosten überwiegt, der allein auf die therapeutische Wirkung des Mittels zurückzuführen ist. Nur dann trete die Bedeutung als Gebrauchsgegenstand für den Versicherten in den Hintergrund, so daß eine Beteiligung der Krankenkasse an den Aufwendungen zu rechtfertigen sei. Ausgehend hiervon würde eine Leistungspflicht der Bekl. auch auf dem Boden der früheren Rechtsprechung ausscheiden, weil die vom Kl. benötigten Back- und Teigwaren, wie sich aus den von ihm vorgelegten und bei den Akten befindlichen Preislisten ersehen läßt, durchweg weniger als doppelt so teuer sind wie gleichartige haushaltsübliche Produkte.
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