Verordnung nicht zugelassener Medikamente - Edelfosin

Gericht

BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats)


Art der Entscheidung

Beschluss über Verfassungsbeschwerde


Datum

05. 03. 1997


Aktenzeichen

1 BvR 1071/95


Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Bf. ist bei der AOK pflichtversichert. Wegen einer Lymphdrüsenkrebserkrankung wurde ihm im April 1992 das Arzneimittel Edelfosin verordnet, woraufhin es - nach den Angaben des Bf. - zu einem Stillstand der Krebserkrankung kam. Die Abgabe des Arzneimittels erfolgte im Rahmen einer klinischen Prüfung nach §§ 40 , 41 AMG. Der Antrag des Herstellers auf Zulassung von Edelfosin nach Arzneimittelrecht für den Indikationsbereich „nicht-kleinzellige Bronchialtumore" war zuvor wegen Vorliegens von Versagungsgründen nach § 25 II AMG abgelehnt worden. Ein Klageverfahren ist noch anhängig. Den Antrag des Bf. auf Übernahme der Kosten für das Arzneimittel Edelfosin lehnte die AOK ab. Eine Klage des Bf. blieb in allen Instanzen ohne Erfolg. Das BSG (NJW 1995, 2438 = NZS 1995, 361 = SozR 3-2500 § 31 SGBVNr. 3 ) legte dar, das Arzneimittel Edelfosin sei nicht i.S. von § 12 I SGBV verordnungsfähig gewesen, weil es an der Zweckmäßigkeit und damit auch an der Wirtschaftlichkeit des Mittels gefehlt habe.

Die gegen die Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen eingelegte Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

II. ... 1. Der Verfassungsbeschwerde kommt grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung nicht zu (§ 93a II Buchst. a BVerfGG). Die mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen sind in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung geklärt. So hat das BVerfG entschieden (BVerfGE 46, 160 (164) = NJW 1977, 2255; BVerfGE 90, 145 (195) = NJW 1994, 1577; st.Rspr.), daß aus Art. 2 II 1 GG eine objektivrechtliche Schutzpflicht des Staates und seiner Organe für das geschützte Rechtsgut abzuleiten ist, deren Vernachlässigung mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann (vgl. BVerfGE 77, 170 (214f.) = NJW 1988, 1651; BVerfGE 79, 174 (202) = NJW 1989, 1271). Es hat auch geklärt, innerhalb welcher Grenzen die Einhaltung dieser Schutzpflicht verfassungsgerichtlich überprüft werden kann (vgl. BVerfGE 77, 170 (214f.) = NJW 1988, 1651; BVerfGE 79, 174 (202) = NJW 1989, 1271) und welche Bedeutung dem öffentlichen Interesse an der Erhaltung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung nach der Verfassung zukommt (BVerfGE 68, 193 (218) = NJW 1985, 1385; BVerfGE 70, 1 (26, 30); 77, 84 (107) = NJW 1988, 1195).

2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der als verletzt bezeichneten Rechte des Bf. angezeigt (§ 93a II Buchst. b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen nicht gegen Grundrechte des Bf.

a) Zwar trifft es zu, daß durch Art. 2 II 1 GG die freie Selbstbestimmung des Patienten über ärztliche Heileingriffe verbürgt ist mit der Folge, daß diesem allein auch die Letztentscheidung über die in seinem Fall anzuwendende Therapie belassen ist (vgl. BVerfGE 89, 120 (130)). Jedoch ergibt sich daraus kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung entsprechender medizinischer Versorgung oder auf Gewährung finanzieller Leistungen hierfür. Ein mit der Verfassungsbeschwerde durchsetzbarer Anspruch auf Bereithaltung spezieller Gesundheitsleistungen, die der Heilung von Krankheiten dienen oder jedenfalls bezwecken, daß sich Krankheiten nicht weiter verschlimmern, kann aus Art. 2 II 1 GG nicht hergeleitet werden.

Aus Art. 2 II 1 GG folgt zwar eine objektivrechtliche Pflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor das Rechtsgut des Art. 2 II 1 GG zu stellen (vgl. BVerfGE 46, 160 (164) = NJW 1977, 2255; BVerfGE 90, 145 (195) = NJW 1994, 1577). Daran hat sich auch die Auslegung des geltenden Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung zu orientieren. Der mit einer solchen Schutzpflicht verbundene grundrechtliche Anspruch ist jedoch im Hinblick auf die den zuständigen staatlichen Stellen einzuräumende weite Gestaltungsfreiheit bei der Erfüllung der Schutzpflichten nur darauf gerichtet, daß die öffentliche Gewalt Vorkehrungen zum Schutz des Grundrechts trifft, die nicht völlig ungeeignet oder völlig unzulänglich sind (BVerfGE 77, 170 (215) = NJW 1988, 1651; BVerfGE 85, 191 (212f.) = NJW 1992, 964). Nur in diesen engen Grenzen kann das BVerfG die Erfüllung der Schutzpflicht überprüfen (BVerfGE 77, 170 (215) = NJW 1988, 1651; BVerfGE 79, 174 (202) = NJW 1989, 1271).

Das in § 12 I SGBV enthaltene Wirtschaftlichkeitsgebot markiert die finanziellen Grenzen, die der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung von der Belastbarkeit der Beitragszahler und der Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft gezogen werden. Wenn Verwaltung und Sozialgerichte in diesem Zusammenhang die Frage nach der Wirtschaftlichkeit einer Leistung i.S. von § 12 I SGBV mit den Anforderungen des Arzneimittelrechts verknüpfen und sie deshalb verneinen, weil das Arzneimittel nicht oder noch nicht zugelassen ist, so ist dies von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Das Arzneimittelrecht einerseits und die Vorschriften des SGB V andererseits dienen nicht denselben Zwecken und machen demgemäß die Zulassung von Arzneimitteln zum Verkehr und die Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung von verschiedenen Voraussetzungen abhängig. Die Vorschriften des SGB V sind auf die Gewährleistung einer therapeutisch und wirtschaftlich möglichst effizienten Verordnung von Arzneimitteln gerichtet. Das Arzneimittelgesetz verfolgt dagegen den Zweck, im Interesse einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung von Mensch und Tier für die Sicherheit im Verkehr mit Arzneimitteln zu sorgen. Dies schließt neben der Unbedenklichkeit auch die Prüfung der Qualität und der Wirksamkeit des jeweiligen Arzneimittels ein (§ 1 AMG). Es ist daher unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht bedenklich, die Verordnungsfähigkeit eines Arzneimittels zu verneinen, wenn und solange dieses nicht arzneimittelrechtlich zugelassen ist. Mit der arzneimittelrechtlichen Zulassung verfügen die Krankenkassen über ein eindeutiges und zugängliches Kriterium bei der Entscheidung über die Verordnungsfähigkeit von pharmazeutischen Produkten. Dieses Kriterium ist auch zuverlässig, denn die Zulassungsentscheidung nach §§ 21ff. . AMG ergeht auf der Grundlage aufwendiger Zulassungsunterlagen des Ast. mit sachangemessener behördlicher Kompetenz (vgl. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 169ff.).

b) Dem Bf. erwächst durch die Nichtannahme seiner Verfassungsbeschwerde kein existentieller Nachteil. Denn aus seinem Vorbringen ergibt sich, daß er das verwandte Arzneimittel in vollem Umfang ohne Bezahlung erhalten hat.

Rechtsgebiete

Sozialrecht

Normen

GG Art. 2 II 1; AMG §§ 1, 21ff .; SGB V § 12 I