Linsentrübung als Berufskrankheit

Gericht

BSG


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

23. 09. 1997


Aktenzeichen

2 RU 10/96


Leitsatz des Gerichts

Eine durch UV-Strahlung verursachte Linsentrübung kann eine Berufskrankheit iS der Anl 1 Nr 2401 zur BKVO (Grauer Star durch Wärmestrahlung) sein.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Kl. begehrt als Rechtsnachfolgerin ihres Ehemannes (Versicherter) die Anerkennung der Linsenlosigkeit beider Augen ihres Ehemannes als Folgen einer Berufskrankheit (BK).

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Entgegen der Ansicht der Bekl. hat die Kl. als Rechtsnachfolgerin ihres Ehemannes den geltend gemachten Feststellungsanspruch (§ 55 I SGF); denn die Linsenlosigkeit beider Augen, die beim Versicherten vorlag, war Folge einer BK.

Der Feststellungsanspruch richtet sich auch nach Inkrafttreten des SGB VII am 1. 1. 1997 nach den bis dahin geltenden Vorschriften der RVO; denn nach § 212 SGB VII gilt das neue Recht grundsätzlich erst für Versicherungsfälle, die nach dem 31. 12. 1996 eingetreten sind. Einer der Ausnahmetatbestände nach §§ 213ff SGB VII ist nicht gegeben.

Nach § 551 I 1 RVO gilt als Arbeitsunfall eine BK. BKen sind die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539 , 540 und 543 bis 545 RVO benannten Tätigkeiten erleidet. Zu den vom Verordnungsgeber bezeichneten BKen gehört nach der Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO „ein grauer Star durch Wärmestrahlung„. Der Versicherte erkrankte nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, an die das Revisionsgericht mangels zulässiger und begründeter Revisionsrügen und Anschlußrügen gebunden ist (§ 163 SGG), an grauem Star im Bereich beider Augen, weshalb zunächst Anfang des Jahres 1982 die Linse des linken und schließlich im September 1985 auch die des rechten Auges operativ entfernt werden mußte.

Die Linsentrübungen waren nach der umfassenden Aufklärung des Sachverhalts durch die Bekl. und im gerichtlichen Verfahren sowie aufgrund der eingehenden Beweiswürdigung des LSG mit Wahrscheinlichkeit auf „Wärmestrahlung„ iS der Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO zurückzuführen, der der Versicherte bei seiner versicherten Tätigkeit als Lithograph sowie Repromann ausgesetzt war. Linsentrübungen aus anderen Ursachen konnten ausgeschlossen werden. Der allein auffällig erhöhte Harnsäurespiegel des Versicherten kam danach als endogene Ursache nach der Stellungnahme von Prof. Dr. von D vom 25. 12. 1986 als Grundlage einer Katarakt nicht in Betracht. Beweisanzeichen für eine berufsbedingte Schädigung ist das Auftreten des Stars bereits in verhältnismäßig frühem Lebensalter (vgl Elster, Berufskrankheiten, S 140; Mertens/Perlebach, Berufskrankheitenverordnung, Stand Juli 1996, M 2401 Anm 3). Nach den Feststellungen des LSG begannen beim Versicherten die Linsenveränderungen bereits in einem für Katarakte sehr frühem Alter von unter 50 Jahren, so daß senile Veränderungen der Linsen iS seines Altersstars ausgeschlossen sind.

Nach den weiteren Feststellungen des LSG war der Versicherte, wie die Untersuchungen des Dr. S aufgrund des Berichts vom 8. 5. 1991 ergeben haben, während seiner Berufstätigkeit langjährig - insbesondere bis zum Jahre 1968 - UV-Strahlung ausgesetzt gewesen. Diese UV-Strahlung erfüllt den Begriff der Wärmestrahlung iS der BK der Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO. Die Revision beruft sich hinsichtlich des Begriffes Wärmestrahlung auf das aktuelle Merkblatt zur BK der Nr 2401. Nach diesem Merkblatt für die ärztliche Untersuchung bei BKen zur BK Nr 2401 (vgl BArbBl, Fachteil Arbeitsschutz, 1991 S 72 bis 74) wird der graue Star durch Wärmestrahlung allerdings ausschließlich durch die Einwirkung infraroter Strahlen, dh einer außerhalb des sichtbaren Lichtspektrums gelegener Wellenstrahlung, verursacht. Die zu den einzelnen BKen erlassenen Merkblätter geben zwar über den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse und Erfahrungen zur Zeit des Erlasses der BK Auskunft, bilden also ein wertvolles Hilfsmittel für die Erkennung und Behandlung der BKen sowie bei der Klärung von Zweifelsfragen. Sie sind aber formal-rechtlich nicht Bestandteil der BKVO und nicht von zwingend rechtlicher Verbindlichkeit. Sie schließen damit ein - wissenschaftlich begründetes - Abweichen nicht aus (vgl Krasney, ASU 29 [1994] S 525, 526; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand Januar 1996, § 551 RVO Anm. 10b).

Zutreffend hat das LSG ausgeführt, daß bei der Auslegung des Begriffs „Wärmestrahlung„ der BK der Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO nicht allein auf die Form der Wahrnehmung der Strahlung als Wärme abgestellt werden kann. Vielmehr hat die Auslegung des Begriffs Wärmestrahlung vom Schutzzweck der Norm her zu erfolgen. Absicht des Verordnungsgebers war es, den durch berufliche Beschäftigung verursachten Star bei Arbeitnehmern zu entschädigen. Nach der historischen Entwicklungsgeschichte dieser BK, die der erkennende Senat bereits in seiner Entscheidung vom 23. 2. 1996 - 2 RU 103/62 - (BG 1967, 75) dargestellt hat, war in der Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf gewerbliche BKen vom 12. 5. 1925 (RGBl I 69) unter der Nr 8 „Grauer Star bei Glasmachern„ aufgeführt. Nach § 3 dieser Verordnung iVm der Spalte III der Anl 1 erstreckte sich die Versicherung nur auf Glashütten. Die professionellen Linsentrübungen bei Glasmachern in verhältnismäßig frühem Lebensalter waren schon seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts bei Glasmachern in verhältnismäßig frühem Lebensalter bekannt. Als entscheidende Ursache sah man die Beschäftigung an den Schmelzöfen von Glashütten an, wie die vom Rechtsarbeitsministeirum herausgegebenen Richtlinien vom 6. 8. 1925 (RABl S 326/327) zeigen. Erweitert wurde die Entschädigungspflicht für Erkrankungen an grauem Star durch die 2. BKVO vom 11. 2. 1929 (RGBl I 27), indem bei der Nr 19 in der Spalte III als Betriebe auch Eisenhütten und Metallschmelzereien aufgenommen wurden. Die Erkankung an grauem Star sah man als Folge der Einwirkung der von den glühenden Schmelzmassen und den Wänden der Schmelzöfen ausgehenden Strahlen an (Bauer/Engel/Koelsch/Krohn, Die Ausdehnung der Unfallversicherung auf BKen, Heft 12 der Schriftenreihe „Arbeit und Gesundheit„, 1929, S 239). Doch zweifelte man daran, ob die ursprüngliche Auffassung, daß allein UV-Strahlen die Ursache der Erkrankung seien, zutreffe (Bauer/Engel/Koelsch/Krohn aaO). Man hielt weitere Forschungen zu der Frage für erforderlich, welche Rolle neben der strahlenden Energie die einzelnen Strahlungen des Spektrums spielten. Die weitere Entwicklung bis zur 6. BKO vom 28. 5. 1961 (BGBl I 505) zeigt, daß der Verordnungsgeber wegen der Schwierigkeiten, den durch berufliche Beschäftigung verursachten Star vom Altersstar abzugrenzen, den Kreis der in den Versicherungsschutz einbezogenen Unternehmen nur sehr vorsichtig und allmählich erweitert hat (vgl BSG aaO).So ergibt sich vor allem aus dem Merkblatt zu der BK der Nr 36 der 5. BKVO vom 26. 7. 1952 (BGBl I 395), daß der Verordnungsgeber bewußt davon abgesehen hat, den Kreis der in den Versicherungsschutz einbezogenen Unternehmen zu erweitern, und diese Entschließung von dem Ergebnis weiterer Forschungen abhängig machen wollte. Erst nach neuen Forschungen, wonach die auftretenden Veränderungen der Augenlinse durch Wärmeeinwirkung verursacht werden, hielt es der Verordnungsgeber in der 6. BKVO nicht mehr für gerechtfertigt, die Anerkennung der Erkrankung als BK auf einige bestimmte Unternehmen zu beschränken (AmtlBegr BR-Drucks 115/61 S 5 zu Nr 28 der Anl 1 zur 6. BKVO). Daraus ergibt sich, daß der Zusatz „durch Wärmestrahlung„ dazu dient, den beruflich bedingten vom sog altersbedingt auftretenden grauen Star abzugrenzen. Zugleich erreichte der Verordnungsgeber damit die Anerkennung des grauen Stars als BK nicht nur bei den Arbeitnehmern, die - wie bisher - in den vom Versicherungsschutz erfaßten Unternehmen der Strahlungsenergie ausgesetzt waren, die typischerweise bei Schmelzvorgängen entstehen, sondern auch bei den Arbeitnehmern, die einer Schädigung durch vergleichbare Einwirkungen im übrigen Bereich des Arbeitsmarkts ausgesetzt waren.

Das LSG hat unter Berufung auf die Stellungnahmen von Dr. S vom 30. 7. 1990 und 8. 5. 1991 festgestellt, daß die bei Schmelzvorgängen entstehende termische Strahlung nicht nur ein Strahlenspektrum bietet, sondern Strahlen unterschiedlicher Wellenlänge aussendet und daß auch Wärmestrahlung - abhängig von der Höhe der Strahlungstemperatur - UV-Anteile enthält. Auch bei anderen, den Schmelzvorgängen vergleichbaren Strahlungseinwirkungen, wird danach in der Regel Wärmestrahlung nicht in Form einer einzigen Strahlung, sondern als komplexe Strahlenquelle mit Strahlen unterschiedlicher Wellenlänge ausgesandt. Da somit bei „Wärmestrahlen„ in der Regel eine Emission von Strahlen unterschiedlicher Wellenlänge erfolgt, fehlen die Voraussetzungen, den Begriff „durch Wärmestrahlung„ auf Infrarot-Strahlung zu beschränken, wie im Merkblatt zu BK der Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO geschehen.

Hinzu kommt, daß im Merkblatt der BK der Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO einerseits ausgeführt wird, daß der graue Star durch Wärmestrahlung durch die Einwirkung von infraroten Strahlen verursacht werde. Trotzdem wird aber andererseits eingeräumt, daß die Wirkung der Infrarot-Strahlen auf die Augenlinse noch nicht abschließend geklärt sei. Außerdem werden wiederum die Gefahrenquellen, wie glühendes Glas, glühende Schmelzmassen in Eisenhütten usw. geschildert, bei denen angesichts der auftretenden hohen Temperaturen neben Infrarot-Strahlen ua auch UV-Strahlen entstehen zu pflegen. Im übrigen weist das LSG überzeugend darauf hin, daß wenn der Verordnungsgeber Linsentrübungen als BK-Folgen ausschließlich im Zusammenhang mit Infrarotstrahlung hätte anerkennen wollen, es nahegelegen hätte, statt des Begriffs der Wärmestrahlung den der Infrarot-Strahlung in die BK der Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO aufzunehmen. Daraus kann gefolgert werden, daß der Verordnungsgeber den Begriff der Wärmestrahlung umfassender verstanden hat. Der Begriff Wärmestrahlung iS der Bk der Nr 2401 der Anl 1 zur BKVO ist daher dahingehend auszulegen, daß er sämtliche Strahlungsarten, die typischerweise von einem unter hohen Temperaturen stehenden Material ausgestrahlt werden, mithin auch UV-Strahlen, erfaßt.

Das LSG kommt daher aufgrund der ihm obliegenden freien richterlichen Beweiswürdigung zu Recht zu dem Ergebnis, daß nach der überzeugenden Darstellung von Dr. S auch UV-B-Strahlen zur Wärmestrahlung gehören. Sie sind geeignet, Katarakte zu erzeugen, wovon sowohl Dr. C als Staatlicher Gewerbearzt sowie Dr. M und Dr S übereinstimmend ausgehen. Der Zusammenhang zwischen Katarakten und dem Einfluß ultravioletter Strahlung erscheint wissenschaftlich gesichert (vgl J. Schmidt/C. Schmitt/A. Wegener/O. Hockwin, Experimenteller Beitrag zur linsenschädigenden Wirkung ultravioletter Strahlung, in Fortschritte der Ophthalmologie, 1988, S 689ff). Im Falle des Versicherten bestehen daher revisionsrechtlich keine Bedenken gegen die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der berufsbedingten Einwirkung von UV-Strahlung bei der Arbeit mit Kohlebogenlampen sowie Xenogasbrennern und den aufgetretenen Linsentrübungen.

Soweit die Revision einwendet, die Entscheidungsgründe des LSG ließen nicht schlüssig erkennen, warum es die Stellungnahme des Dr. S vom 13. 12. 1991 hinsichtlich des Wahrscheinlichkeitsbegriffes für überzeugend hält, so verkennt sie, daß die Beweiswürdigung grundsätzlich im Ermessen des Tatsachengerichts steht. Das Revisionsgericht kann nur prüfen, ob das Tatsachengericht bei seiner Beweiswürdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungsgrundsätze verstoßen und ob es das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt hat (vgl BSG, Urt. v. 28. 1. 1994 - 2 RU 3/93 -, HVBG-INFO 1994, 943, Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 2. Aufl 1997, III, RdNr ff und IX, RdNr 286; Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 5. Aufl, § 128 SGG RdNr 4). Gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze könnte das SG aber nur dann verstoßen haben, wenn die von ihm im Rahmen der Beweiswürdigung in Bezug genommene Stellung des Dr. S vom 13. 12. 1991, in der dieser im Ergebnis seiner Ausführungen den ursächlichen Zusammenhang für wahrscheinlich hält, insoweit selbst widersprüchlich wäre. Gerade dies ist nicht der Fall; die Revision enthält dazu keine überzeugende Darlegungen. Soweit sie anführt, in der Stellungnahme vom 13. 12. 1991 habe Dr. S ausdrücklich auf offene Fragen verwiesen, so berücksichtigt die Bekl. dabei nicht den Zusammenhang, in dem die Ausführung steht. Dr. S hat nämlich klargestellt, daß angesichts der anfangs unklaren Arbeitsbedingungen des Versicherten und seines plötzlichen Todes seine genaue Exposition mit ultravioletter Strahlung nicht mehr zu klären ist. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis Dr. S auf offene Fragen und im übrigen auch seine von der Revision angeführte Bemerkung zu sehen, im vorliegenden BK-Fall blieben eine Reihe von Ungewißheiten, die man wohl nicht mehr ausräumen könne. Wie sich aus der Stellungnahme weiter ergibt, haben diese Umstände Dr. S veranlaßt, die Kausalbeziehung zwischen der Exposition mit UV-Strahlung und der Erkrankung nicht als gewiß, sondern lediglich - aber unfallversicherungsrechtlich ausreichend - als hinreichend wahrscheinlich zu sehen. ...

Vorinstanzen

LSG Nds., LG U 34/94, 14.12.1995

Rechtsgebiete

Sozialrecht

Normen

RVO § 551; BKVO Anl 1 NR 2401; SGB VII § 212