Minderung des Pflegegeldes wegen Nichtausschöpfung des Sachleistungsanspruchs

Gericht

BSG


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

26. 11. 1998


Aktenzeichen

B 3 P 16/97 R


Leitsatz des Gerichts

Nimmt ein Pflegebedürftiger der Pflegestufe III, der als Härtefall anerkannt ist, von den ihm zustehenden Sachleistungen bis zum monatlichen Höchstbetrag von 3750 DM lediglich solche im Umfang von 950 DM in Anspruch, so mindert sich der Anspruch auf das volle Pflegegeld von 1300 DM anteilig; er bleibt nicht deshalb ungekürzt, weil der Regelhöchstbetrag von 2800 DM für Sachleistungen der Pflegestufe III rechnerisch noch voll zur Verfügung steht.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die pflegebedürftige Kl. wird von ihrem Ehemann und einer professionellen Pflegekraft gepflegt. Anfang 1995 beantragte sie bei der bekl. Pflegekasse Pflegeleistungen als Kombinationsleistung nach § 38 SGB XI, und zwar Sachleistungen in Höhe von 950 DM (entsprechend der Differenz zwischen der Regel-Höchstsachleistung von 2800 DM nach § 36 III Nr. 3 SGB XI und der Höchstsachleistung „zur Vermeidung von Härten„ von 3750 DM nach § 36 IV SGB XI) sowie das Pflegegeld der Pflegestufe III von 1300 DM. Die Bekl. stellte die Pflegebedürftigkeit nach Pflegestufe III sowie das Vorliegen eines Härtefalls fest und bewilligte ab 1. 4. 1995 als Kombinationsleistung Sachleistungen bis zum Härtefall-Höchstbetrag von 3750 DM sowie Pflegegeld entsprechend dem Prozentsatz der nicht ausgeschöpften Sachleistungen; da der gewählte Sachleistungsanteil von 950 DM ca. 25% der Härtefall-Höchstsachleistungen von 3750 DM ausschöpfe, sei noch ein Pflegegeld in Höhe von 75% von 1300 DM, also 975 DM zu zahlen (Bescheid vom 19. 2. 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. 4. 1996).

Das SG hat der Klage auf Zahlung des vollen Pflegegeldes stattgegeben. Das LSG hat die Klage abgewiesen. Die Revision der Kl. blieb erfolglos.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

II. … Nach § 36 I 1, 3 und 4 SGB XI i.d.F. durch das 1. SGB XI-ÄndG vom 14. 6. 1996 (BGBl I, 830) haben Pflegebedürftige bei häuslicher Pflege Anspruch auf Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung als Sachleistung (häusliche Pflegehilfe). Die häusliche Pflegehilfe wird durch geeignete Pflegekräfte erbracht, wobei auch - wie hier für einen Teil des Pflegebedarfs - die Pflegekasse mit einer Einzelperson einen Pflegevertrag abschließen kann. Nach § 36 III Nr. 3 SGB XI umfassen die Hilfeleistungen bei Pflegebedürftigen der Pflegestufe III Pflegeeinsätze bis zu einem Gesamtwert von 2800 DM monatlich; nach § 36 IV SGB XI können die Pflegekassen Pflegebedürftigen der Pflegestufe III in besonders gelagerten Einzelfällen „zur Vermeidung von Härten„ jedoch weitere Pflegeeinsätze bis zu einem Gesamtwert von 3750 DM monatlich gewähren. Gem. § 37 I SGB XI kann der Pflegebedürftige anstelle der häuslichen Pflegehilfe auch Pflegegeld beantragen, wenn er die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung in geeigneter Weise sowie dem Umfang des Pflegegeldes entsprechend selbst sicherstellt - wie hier für den übrigen Teil des Pflegebedarfs durch den Ehemann. Das Pflegegeld beträgt für Pflegebedürftige der Pflegestufe III 1300 DM monatlich. Nach § 38 S. 1 SGB XI enthält der Pflegebedürftige, wenn er - wie hier - die ihm nach § 36 III und IV SGB XI zustehenden Sachleistungen nur teilweise in Anspruch nimmt, daneben anteiliges Pflegegeld; dieses wird um denjenigen Vomhundertsatz vermindert, in dem der Pflegebedürftige Sachleistungen in Anspruch genommen hat (§ 38 S. 2 SGB XI).

Die Auffassung der Kl. läuft darauf hinaus, sie habe keine Sachleistungen in Anspruch genommen, sondern lediglich die Härteleistungen nach § 36 IV SGB XI; das dürfe nicht zur Minderung des Pflegegeldes führen, weil dieses den Härtefall nicht berücksichtige. Dem stehen aber der Wortlaut und die Entstehungsgeschichte des Gesetzes entgegen. § 38 S. 1 SGB XI in der ursprünglichen Fassung durch Art. 1 PflegeVG vom 26. 5. 1994 (BGBl I, 1014) lautete: „Nimmt der Pflegebedürftige die ihm nach § 36 III zustehende Sachleistung nur teilweise in Anspruch, erhält er daneben anteiliges Pflegegeld im Sinne des § 37.„ Dieser nur auf Abs. 3 abstellende Wortlaut hatte zum Teil zu der Auffassung geführt, nach Bewilligung der Sachleistung „zur Vermeidung von Härten„ gem. § 36 IV SGB XI sei die Wahl einer Kombinationsleistung nicht mehr möglich (vgl. Besprechungsergebnis der Spitzenverbände der Pflegekassen, WzS 1996, 120f., sowie Wannagat/Meydam, SGB XI, Stand Februar 1996, § 38 Rdnr. 4). Durch das 1. SGB XI-ÄndG vom 14. 6. 1996 (BGBl I, 830) ist hinter „§ 36 III„ die Ergänzung „und 4„ eingefügt und damit ein „redaktionelles Versehen korrigiert„ worden (BT-Dr 13/3696, S. 13), das durch die nachträgliche Einfügung von § 36 IV SGB XI im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens entstanden war (Jung, Die neue Pflegeversicherung SGB XI, 1995, Rdnr. 343); dadurch ist klargestellt, daß auch bei denjenigen Pflegebedürftigen der Pflegestufe III, die als Härtefälle anerkannt sind, die Bewilligung einer Kombinationsleistung möglich ist. Ferner ergibt sich daraus, daß auch bei Vorliegen eines Härtefalls nur von einer Sachleistung auszugehen ist und die Aufstockung des Höchstbetrages keine rechtlich zu trennende Zulage darstellt; § 38 S. 1 SGB XI spricht nicht von den nach § 36 III und IV zustehenden Sachleistungen, sondern einer Sachleistung.

Danach kann auch nicht angenommen werden, der Gesetzgeber habe im anschließenden Satz 2 von § 38 SGB XI als Sachleistung nur die Regelsachleistungen nach § 36 III SGB XI gemeint. § 38 S. 2 SGB XI schreibt wörtlich die Minderung des Pflegegeldes um denjenigen Vomhundertsatz vor, in dem der Pflegebedürftige „Sachleistungen„ in Anspruch genommen hat. Schon aus dem Wortlaut der Vorschrift ist zu schließen, daß von den erhöhten Sachleistungen einschließlich der zusätzlich zu gewährenden Sachleistungen zur Vermeidung von Härten (als Basis der Berechnung = 100%) auszugehen ist. § 38 SGB XI läßt aber auch sonst weder in der alten, noch in der neuen Fassung erkennen, daß für den Fall der Gewährung von zusätzlichen Pflegeeinsätzen zur Vermeidung von Härten nach § 36 IV SGB XI ein anderes Berechnungsverfahren maßgeblich sein soll. Jedenfalls aus Anlaß der Gesetzesänderung, deren Gegenstand gerade diese zusätzlichen Pflegeeinsätze zur Vermeidung von Härtefällen gewesen sind, hätte eine Regelung über ein anderes Berechnungsverfahren, wenn der Gesetzgeber sie gewollt hätte, nahegelegen.

Etwas anderes folgt auch nicht aus dem systematischen Zusammenhang sowie dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Es liegt kein Widerspruch darin, daß zwar § 36 IV SGB XI zusätzliche Pflegeeinsätze in besonders gelagerten Einzelfällen zur Vermeidung von Härten vorsieht, § 37 SGB XI es bei vergleichbarem Pflegebedarf aber bei dem Pflegegeld der Pflegestufe III von 1300 DM beläßt, also keinen weiteren Pflegegeldzuschlag „zur Vermeidung von Härten„ kennt. Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, daß bei außergewöhnlichem Pflegebedarf familiäre oder ehrenamtliche Pflege im Regelfall nicht ausreicht und die hohen Kosten bei einem Einsatz professioneller Pflegekräfte den Regelhöchstbetrag von 2800 DM bald erschöpfen. Wenn er den Einsatz selbstbeschaffter Pflegekräfte - in der Regel Familienangehörige - auch bei einem derart hohen Pflegebedarf nicht mit einem entsprechenden Zuschlag zum Pflegegeld fördert, sondern auch insoweit auf die unentgeltlichen Hilfeleistungen innerhalb der Familie oder anderer Solidargemeinschaften setzt, liegt darin keine verfassungwidrige Ungleichbehandlung. Denn die Unterscheidung danach, ob die Pflege durch professionelle Kräfte erfolgt oder nicht, beruht auf einem sachlichen Grund; im übrigen hat der Gesetzgeber hinsichtlich Art und Umfang von sozialen Leistungen auch in der Pflegeversicherung einen weiten Gestaltungsspielraum (vgl. dazu BSG, SozR 3-3300 § 14 Nr. 2; BSG, SozR 3-3300 § 15 Nr. 1; Urt. v. 6. 8. 1998 - B 3 P 9/97 R). Das Fehlen eines Zuschlags zum Pflegegeld der Pflegestufe III in Härtefällen ist auch kein Grund, die Kl. von einer Minderung zu verschonen, weil sie Sachleistungen im Umfang von 2800 DM nicht ausschöpft, also den Umfang des „normalen„ Sachleistungsanspruchs in der Pflegestufe III. Die Kl. wäre sonst bessergestellt als derjenige Pflegebedürftige, der überhaupt keine Sachleistungen in Anspruch nimmt. Die Kl. erhielte wie dieser volles Pflegegeld, aber dazu noch die Sachleistungen. Andererseits ist sie bei der Inanspruchnahme von Kombinationsleistungen im Vergleich zu einem Pflegebedürftigen der Pflegestufe III - ohne Härtezuschlag - insofern zu Recht bessergestellt, als ihr Anspruch auf Pflegegeld durch die Sachleistungen weniger schnell aufgezehrt wird, weil sich der Prozentanteil von der höheren Bemessungsgrundlage 3750 DM errechnet.

Rechtsgebiete

Sozialrecht

Normen

SGB XI §§ 36, 37, 38; GG Art. 20