Bindungswirkung der tatsächlichen Verständigung
Gericht
BFH
Art der Entscheidung
Revisionsurteil
Datum
31. 07. 1996
Aktenzeichen
XI R 78/95
Eine im Rahmen einer Außenprüfung getroffene zulässige und wirksame „tatsächliche Verständigung“ über eine bestimmte Behandlung von Sachfragen bindet die Finanzbehörde bereits vor Erlaß der darauf beruhenden Bescheide (Weiterführung der bisherigen Rechtsprechung).
Auszüge aus dem Sachverhalt:
Der Kl. erzielt u.a. Einkünfte aus Gewerbebetrieb aus dem Betrieb einer Gaststätte. Dort führte das bekl. Finanzamt von November 1992 bis Juli 1993 für die Streitjahre eine betriebsnahe Veranlagung durch. Dabei stellte die Prüferin fest, daß der Kl. über seine Betriebseinnahmen keine Aufzeichnungen geführt, sondern die Umsätze im Wege einer Gesamtkalkulation ermittelt hatte. Sie korrigierte diese Kalkulation auf der Grundlage der von ihr festgestellten Wareneinsätze und Aufschlagsätze. Aufgrund dieser (und anderer) Feststellungen erließ das Finanzamt geänderte Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre.
Im Klageverfahren begehrte der Kl., die Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide für 1989 sowie den Einkommensteuerbescheid für 1990 zu ändern und die jeweiligen Steuern u.a. unter Berücksichtigung einer Vereinbarung, die bei einer Besprechung vom 17. 3. 1993 beim Finanzamt getroffen worden sei, festzusetzen; an dieser Besprechung habe die Prüferin und ihr Vorgesetzter teilgenommen. Das FG wies die Klage ab (EFG 1996, 45). Die Revision hatte Erfolg.
Auszüge aus den Gründen:
II. 1. Die Revision ist zulässig erhoben.
Entgegen der Auffassung des Finanzamts ist sie (noch) hinreichend begründet worden (§ 120 II FGO). Zwar enthält die Revisionsschrift zunächst überwiegend die Darstellung des vorangegangenen Verwaltungs- und Klageverfahrens. Sie läßt aber danach - vor allem unter Berücksichtigung seines Revisionsantrags - die Auffassung des Kl. erkennen, daß unter den von ihm geschilderten Umständen nicht nur eine tatsächliche Verständigung zustandegekommen ist, sondern ihr entgegen der Vorentscheidung vor Erlaß darauf beruhender Bescheide auch Bindungswirkung zukommt. Damit hat der Kl. dargetan, welche Ausführungen der Vorinstanz aus welchen Gründen unrichtig sein sollen und welche Punkte des angefochtenen Urteils er für änderungsbedürftig hält (Senat, BFH/NV 1994, 47, m.w.Nachw.; BFH/NV 1995, 815; Gräber/Ruban, FGO, 3. Aufl., § 120 Rdnrn. 32f.). Die Bezeichnung einzelner verletzter Bestimmungen ist nicht erforderlich, wenn der sachliche Bezug eindeutig erkennbar ist. Die Vorschrift des § 120 II FGO will bloße Formalbegründungen hindern. Eine umfassende Erörterung der streitigen Rechtsfragen wird nicht gefordert (BFHE 144, 40 = BStBl II 1995, 523; Gräber/Ruban, § 120 Rdnr. 33).
2. Die Revision ist auch begründet. Zwar geht die Vorentscheidung zu Recht von der grundsätzlichen Zulässigkeit einer tatsächlichen Verständigung über eine bestimmte Behandlung von Sachfragen aus. Zu Unrecht mißt das FG aber einer solchen Verständigung Bindungswirkung für die Verwaltung regelmäßig nur und erst zu, wenn diese Dispositionen in Form des Erlasses eines auf der Verständigung beruhenden Bescheides getroffen hat.
a) In der Rechtsprechung des BFH ist die Zulässigkeit tatsächlicher Verständigungen grundsätzlich anerkannt (BFHE 142, 549 = BStBl II 1985, 354; BFHE 162, 211 = BStBl II 1991, 45 = NJW 1991, 1199; BFHE 164, 168 = BStBl II 1991, 673 = NJW 1991, 2927 L; BFH/NV 1994, 290). Zwar sind Vergleiche über Steueransprüche wegen der Gesetzmäßigkeit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht möglich. Dagegen dient es in Fällen erschwerter Sachverhaltsermittlung der Förderung und Beschleunigung des Besteuerungsverfahrens und allgemein dem Rechtsfrieden, besondere Vereinbarungen über eine bestimmte (steuerliche) Behandlung von Sachverhalten (nicht aber über das anzuwendende Recht) zuzulassen. Dies gilt insbesondere in Schätzungsfällen. Derartige „tatsächliche“ Verständigungen betreffen in der Regel (nur) einen - von beiden Bet. zu konkretisierenden - Ausschnitt aus dem gesamten jeweils zu beurteilenden Besteuerungssachverhalt und dienen dem Ziel, insoweit Unsicherheiten und Ungenauigkeiten zu beseitigen. Sie sind wirksam, sofern sie nicht zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis führen (BFHE 142, 549 (553ff.) = BStBl II 1985, 354). Zudem ist erforderlich, daß auf Seiten der Finanzbehörde ein Amtsträger beteiligt ist, der zur Entscheidung über die Steuerfestsetzung befugt ist (BFHE 162, 211 = BStBl II 1991, 45 = NJW 1991, 1199; BFH, BFH/NV 1994, 290). Einer besonderen Form bedürfen tatsächliche Verständigungen nicht. Wenn auch - vor allem bei schwierig aufzuklärenden und zu beurteilenden Fallgestaltungen - eine schriftliche Niederlegung und die Unterzeichnung durch die Bet. sinnvoll erscheinen (vgl. auch v. Wedelstädt, DB 1991, 515 (517)), ist nicht ausgeschlossen, den Nachweis des Abschlusses einer tatsächlichen Verständigung auch durch andere Beweismittel (z.B. Zeugenvernehmung) zu führen.
Tatsächliche Verständigungen haben ihre Grundlage in dem bestehenden, konkreten Steuerrechtsverhältnis zwischen dem Finanzamt und dem Steuerpflichtigen (demgegenüber für öffentlichrechtlichen Vertrag z.B. v. Wedelstädt, m.w.Nachw.). Aus ihm ergeben sich die gesetzlich festgelegten Pflichten des Finanzamts zur Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen (§§ 88ff . AO 1977) und die entsprechenden Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen (§§ 90ff . AO 1977).
b) An einer zulässigen und wirksamen „tatsächlichen Verständigung“ müssen sich die Bet. festhalten lassen. Dies entspricht dem Grundsatz von Treu und Glauben, der im Steuerrecht als allgemeine Rechtsgrundlage uneingeschränkt anerkannt ist (BFHE 158, 31 (33ff.) = BStBl II 1989, 990). Der Grundsatz von Treu und Glauben gebietet, daß im Steuerrechtsverhältnis jeder auf die berechtigten Belange des anderen Teils angemessen Rücksicht nimmt und sich mit seinem eigenen früheren Verhalten nicht in Widerspruch setzt (BFHE 117, 317 (321)), auf das der andere Teil vertraut und im Hinblick darauf bestimmte Dispositionen getroffen hat (BFHE 164, 168 = BStBl II 1991, 673 = NJW 1991, 2927 L; BFHE 175, 496 = BStBl II 1995, 37 (39) = NJW 1995, 1576 L). Daraus ergibt sich - entgegen der Auffassung des FG - für die Verwaltung eine Bindungswirkung aber nicht erst, wenn diese ihrerseits durch „Erlaß entsprechender Bescheide disponiert“ hat. Denn dies würde bedeuten, daß einer im Rahmen einer Außenprüfung getroffenen tatsächlichen Verständigung vor dem Erlaß entsprechender Bescheide Bindungswirkung nicht zukommen könnte. Der Sinn des Instituts der tatsächlichen Verständigung liegt hingegen gerade darin, eine entsprechende Vereinbarung (mit Bindungswirkung) zu jedem Zeitpunkt des Besteuerungsverfahrens zu ermöglichen, wenn bestimmte Sachbehandlungen in Frage stehen und deren (endgültige) Klärung notwendig ist, um die Festsetzung der Steuer zu fördern. Dies betrifft insbesondere die Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen. Eine abschließende und damit beide Bet. bindende Verständigung muß daher - unter der Voraussetzung der Beteiligung eines zur Entscheidung über die Steuerfestsetzung befugten Amtsträgers - auch im Rahmen einer Außenprüfung „von vornherein“ (BFHE 164, 168 = BStBl II 1991, 673 m.w.Nachw. = NJW 1991, 2927 L; BFHE 162, 211 = BStBl II 1991, 45; BFH, BFH/NV 1994, 290) erzielbar sein. Dem entspricht es, die Dispositionen der Bet. darin zu sehen, daß sie unter Aufgabe ihrer unterschiedlichen Ausgangspositionen einvernehmlich auf weitere Ermittlungen in bezug auf den durch die tatsächliche Verständigung festgelegten Sachverhalt verzichten. Die gegenseitige Bindung beider Bet. ist einer tatsächlichen Verständigung daher immanent, ohne daß es einer entsprechenden ausdrücklichen Erklärung bedarf. Bei anderer Beurteilung wäre auch das Erfordernis der Anwesenheit eines für die Steuerfestsetzung zuständigen Amtsträgers nicht verständlich; denn durch sie soll eine Bindung gerade im Hinblick auf die zu erlassenden Bescheide gesetzt werden.
Dem FG ist zwar zuzugeben, daß vor einer Bindung der Bet. an eine Verständigung vor allem bei komplex gestalteten Sachverhalten ein Zeitraum für Überlegung und Nachprüfung regelmäßig sinnvoll ist. Es ist aber nicht einzusehen, warum die Bet. die erforderliche Aufklärung und Prüfung nicht vor dem Abschluß der tatsächlichen Verständigung vornehmen können. Zudem kann einer tatsächlichen Verständigung durch ausdrücklichen Vorbehalt eines Bet. die Bindungswirkung auch versagt werden.
3. Im Streitfall waren im Rahmen der betriebsnahen Veranlagung die Erlöse des Kl. aus seiner Gaststätte aufgrund des Wareneinsatzes und der Aufschlagsätze zu schätzen. Wie ausgeführt, handelt es sich damit um einen Bereich, in dem die Erzielung tatsächlicher Verständigungen sinnvoll sein kann (BFHE 164, 168 = BStBl II 1991, 673). Ob eine solche wirksam zustandegekommen ist, kann aufgrund der Feststellungen des FG nicht beurteilt werden. Das FG wird daher die erforderlichen Feststellungen nachzuholen und den Streitfall aufgrund der aufgezeigten Rechtsgrundsätze neu zu entscheiden haben.
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