Haftung einer Narkoseärztin - Berufshaftpflichtversicherung
Gericht
BAG
Art der Entscheidung
Revisionsurteil
Datum
25. 09. 1997
Aktenzeichen
8 AZR 288/96
Die auch bei grober Fahrlässigkeit des Arbeitnehmers möglichen Haftungserleichterungen (vgl. BAGE 63, 127 = NZA 1990, 97 = NJW 1990, 468 = NZV 1990, 66 = AP Nr. 97 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers) sind nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil der Arbeitnehmer freiwillig eine Berufshaftpflichtversicherung abgeschlossen hat, die auch im Falle grober Fahrlässigkeit für den Schaden eintritt.
Im Einzelfall können Haftungserleichterungen deshalb ausscheiden, weil der Arbeitnehmer mit besonders grober (gröbster) Fahrlässigkeit handelte.
Auszüge aus dem Sachverhalt:
Die Parteien streiten darüber, ob die als Ärztin beim Kl. beschäftigte Bekl. zur Erstattung von Zahlungen verpflichtet ist, die der Kl. an die Hinterbliebenen einer bei einer Bluttransfusion verstorbenen Patientin geleistet hat. Die Bekl. legte 1986 ihr medizinisches Staatsexamen ab. Nach zehnmonatiger Tätigkeit als Assistenzärztin in den Abteilungen Radiologie und Chirurgie verschiedener Krankenhäuser wurde sie vom Kl. ab dem 16. 8. 1987 befristet zum Zwecke der Weiterbildung zur Ärztin für Anästhesiologie angestellt. Das Arbeitsverhältnis bestimmte sich nach dem Bundes-Angestelltentarifvertrag (im folgenden: BAT). Anläßlich einer am 28. 1. 1988 durchgeführten Magenoperation verabreichte die Bekl. einer Patientin mit der Blutgruppe Null zwei Blutkonserven. Dabei bemerkte sie nicht, daß es sich um die von einer vorangegangenen Operation stammenden Blutkonserven mit der Blutgruppe A handelte. Zu der Verwechslung war es gekommen, weil die Bekl. die Blutgruppe der Patientin C nicht feststellte und übersah, daß in dem zu den Blutkonserven gehörenden Transfusionsprotokoll der Name der Patientin G angegeben war. Den abschließenden "Bedside-Test", der dazu dient, die Übereinstimmung zwischen Patientenblut und Blutkonserve zu überprüfen, führte die Bekl. falsch durch. Sie entnahm Blut über die Zuspritzmöglichkeit des bereits vor Operationsbeginn gelegten venösen Zugangs am linken Handrücken der Patientin, jedoch erst, nachdem die Transfusionskanüle bereits eingeführt und das Transfusionssystem schon gefüllt war. Auf diese Weise entnahm die Bekl. für den Test statt Blut der Patientin Blut aus der Blutkonserve, so daß sie Spenderblut mit Spenderblut verglich. Die Verwechslung der Blutgruppen wurde erst nach der Transfusion durch Blutdruckabfall bei der Patientin festgestellt. Die Patientin verstarb infolge der Transfusion. Der Kl. zahlte an die Hinterbliebenen und die beteiligte Krankenkasse insgesamt 110418,10 DM. Einen weiteren Schadensersatz an die Angehörigen leistete die private Berufshaftpflichtversicherung der Bekl. Der Kl. begehrt von der Bekl. Schadensersatz in Höhe der von ihm geleisteten 110418,10 DM. Er hat die Auffassung vertreten, die Bekl. habe grob fahrlässig gehandelt. Sie habe es versäumt, sich vor Einleitung der Narkose Kenntnis von der Blutgruppe der Patientin zu verschaffen und die Namensbeschriftung auf den Blutkonserven und den Beipackzetteln zu überprüfen. Die Nichtübereinstimmung der Blutgruppen hätte sie beim "Bedside-Test" erkennen können, wenn sie nicht pflichtwidrig das Blut aus einer für die Bluttransfusion vorgesehenen Kanüle entnommen hätte. Die Bekl. könne sich nicht auf ihren verhältnismäßig niedrigen Ausbildungsstand und die Schwierigkeit der Narkoseführung berufen. Die Blutübertragung sei nicht aufgrund eines Operations- oder Narkosezwischenfalls erforderlich gewesen, habe nicht unter Zeitdruck durchgeführt werden müssen und gehöre zu den Aufgaben, die ein approbierter Arzt, unabhängig von seiner Weiterbildung zum Facharzt, beherrschen müsse. Ein Mitverschulden der Anästhesieschwester sei nicht zu berücksichtigen, weil nach den Transfusionsrichtlinien der Bundesärztekammer und des Bundesgesundheitsamtes der transfundierende Arzt die Verantwortung für die Eignung der Blutkonserve trage. Die Bekl. hat die Auffassung vertreten, sie habe im Verhältnis zu dem kl. Land für den Schaden, der durch den Tod der Patientin entstanden sei, nicht einzustehen, weil sie nicht grob fahrlässig i.S. des über § 14 BAT im Arbeitsverhältnis der Parteien entsprechend geltenden § 96 BadWürttBG gehandelt habe.
Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Die Revision der Bekl. hatte keinen Erfolg.
Auszüge aus den Gründen:
I. Die Bekl. ist dem Kl. in vollem Umfang zum Schadensersatz verpflichtet. Eine Haftungsmilderung nach den Grundsätzen der Arbeitnehmerhaftung scheidet aus, weil die Bekl. mit besonders grober (gröbster) Fahrlässigkeit handelte.
1. Ohne Rechtsfehler hat das LAG angenommen, die Bekl. habe schuldhaft ihre arbeitsvertraglichen Pflichten dadurch verletzt, daß sie als Ärztin der Patientin C bei einer Bluttransfusion Blut der falschen Blutgruppe verabreicht und dadurch den Tod der Patientin herbeiführte. Hierüber streiten die Parteien in der Revisionsinstanz auch nicht mehr. Sie bewerten lediglich den Grad des Verschuldens der Bekl. unterschiedlich.
2. Die Haftung der Bekl. wegen schuldhafter Vertragsverletzung (§§ 280 , 286 BGB analog) ist nicht nach § 14 BAT i.V. mit § 96 BadWürttBG ausgeschlossen.
a) Über § 14 des im Arbeitsverhältnis der Parteien geltenden BAT finden für die Schadenshaftung des Angestellten die für die Beamten des Arbeitgebers geltenden Vorschriften entsprechende Anwendung. Die Beamten des kl. Landes Baden-Württemberg haben nach § 96 I BadWürttBG ihrem Dienstherrn einen durch schuldhafte Verletzung ihrer Dienstpflichten verursachten Schaden nur dann zu ersetzen, wenn ihnen Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zur Last fällt. Dieses Haftungsprivileg gilt über § 14 BAT auch für die Angestellten des kl. Landes.
b) Das LAG ist zutreffend von grober Fahrlässigkeit der Bekl. ausgegangen. Die Annahme des LAG, die Bekl. habe objektiv eine besonders grobe und auch subjektiv unentschuldbare Pflichtverletzung begangen, beruht auf einer nachvollziehbaren und widerspruchsfreien Würdigung des Sachverhalts. Die Bekl. hatte gleich mehrere Sicherheitsmaßnahmen mißachtet, die ein Arzt bei einer Bluttransfusion zu beachten hat. So hat die Bekl. nicht versucht, die Blutgruppe der Patientin in Erfahrung zu bringen, obwohl nach der Art der Operation damit zu rechnen war, daß eine Transfusion erforderlich werden würde. Sie hat übersehen oder nicht festgestellt, welcher Name auf dem Transfusionsprotokoll der Blutkonserven stand, welche ihr gegeben wurden. Sie hat auf diese Weise die bei Bluttransfusionen notwendigen Sicherheitsmaßnahmen weitgehend unterlassen und die ihr zuarbeitende Krankenschwester nicht kontrolliert. Die Gefährdung der Patientin durch die falschen Blutkonserven hätte nur noch durch den "Bedside-Test" erkannt werden können, den sie gegen die Regeln der ärztlichen Kunst durchführte. Das LAG hat auch die subjektiven Umstände des Pflichtverstoßes zutreffend in seine Beurteilung einbezogen. Es hat das Ausmaß der an die Bekl. gestellten Anforderungen mit Hilfe eines Sachverständigengutachtens und unter Berücksichtigung der bis zum Vorfall erworbenen Berufserfahrung der Bekl. ohne Rechtsfehler eingeschätzt. Die Bekl. ist approbierte Ärztin und befand sich bereits in der Facharztausbildung. Die Blutübertragung gehört nicht zu den spezifischen Aufgaben eines Anästhesiearztes, sondern muß von jedem Arzt ausgeführt werden können. Die Bekl. war keiner besonderen Streßsituation ausgesetzt, da die Transfusion ohne Zeitdruck und nicht aufgrund eines Operations- oder Narkosezwischenfalls angeordnet wurde. Schließlich war die Bekl. mit den zur Narkoseführung erforderlichen Geräten vertraut und hatte bereits bei ähnlich schwierigen Operationen als Anästhesistin gearbeitet.
3. Dem LAG ist auch darin zuzustimmen, daß dem Kl. kein mitwirkendes Verschulden gem. § 254 BGB zuzurechnen ist. Zwar beruht die Verwechslung der Blutkonserven auch auf Fehlleistungen anderer Mitarbeiter, deren Verschulden als Erfüllungsgehilfen der Kl. gem. § 278 BGB wie eigenes Verschulden zu vertreten hatte. Ein Pflichtverstoß der beteiligten Anästhesieschwester ist darin zu sehen, daß sie nicht auf den Namen der Patientin achtete, als sie die falschen Blutkonserven dem Kühlschrank entnahm. Die Verwechslung wäre auch vermieden worden, wenn die Blutkonserven der vorangegangenen Operation nicht im Kühlschrank geblieben wären. Die Fehlleistungen anderer Mitarbeiter entlasten die Bekl. aber nicht. Als Ärztin hatte die Bekl. die alleinige Verantwortung für die Eignung der bei der Bluttransfusion verwendeten Blutkonserven (Nr. 3.5.2 der Transfusionsrichtlinien). Sie kann sich daher nicht auf ein Mitverschulden ihr unterstellter Mitarbeiter berufen.
4. Auch die Grundsätze der Arbeitnehmerhaftung führen nicht zu einer Haftungsmilderung.
a) Nach der Entscheidung des Großen Senats des BAG vom 27. 9. 1994 (BAGE 78, 56 = NZA 1994, 1083 = NJW 1995, 210 = AP Nr. 103 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers) finden die Grundsätze über die Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung auf alle Arbeiten Anwendung, die durch den Betrieb veranlaßt sind und aufgrund eines Arbeitsverhältnisses geleistet werden. Die Anwendung der Grundsätze ist nicht davon abhängig, daß die den Schaden verursachenden Arbeiten gefahrgeneigt sind. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der Vorwurf fahrlässigen Verhaltens betrifft die durch Arbeitsvertrag bestimmten Dienstpflichten der Bekl.
b) Im Beschluß des Großen Senats vom 27. 9. 1994 (BAGE 78, 56 = NZA 1994, 1083 = NJW 1995, 210 = AP Nr. 103 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers) sind die Grundsätze über die Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung wie folgt zusammengefaßt worden: Bei grober Fahrlässigkeit hat der Arbeitnehmer in aller Regel den gesamten Schaden zu tragen, bei leichtester Fahrlässigkeit haftet er dagegen nicht, während bei normaler Fahrlässigkeit der Schaden in aller Regel zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer quotal zu verteilen ist. Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Arbeitnehmer an den Schadensfolgen zu beteiligen ist, richtet sich im Rahmen einer Abwägung der Gesamtumstände, insbesondere von Schadensanlaß und Schadensfolgen, nach Billigkeits- und Zumutbarkeitsgesichtspunkten. Zu den Umständen, denen je nach Lage des Einzelfalls ein unterschiedliches Gewicht beizumessen ist und die im Hinblick auf die Vielfalt möglicher Schadensursachen auch nicht abschließend bezeichnet werden können, gehören der Grad des dem Arbeitnehmer zur Last fallenden Verschuldens, die Gefahrgeneigtheit der Arbeit, die Höhe des Schadens, ein vom Arbeitgeber einkalkuliertes oder durch Versicherung deckbares Risiko, die Stellung des Arbeitnehmers im Betrieb und die Höhe des Arbeitsentgelts, in dem möglicherweise eine Risikoprämie enthalten ist. Auch können u.U. die persönlichen Verhältnisse des Arbeitnehmers, wie die Dauer seiner Betriebszugehörigkeit, sein Lebensalter, seine Familienverhältnisse und sein bisheriges Verhalten, zu berücksichtigen sein.
c) Auch wenn der Arbeitnehmer bei grober Fahrlässigkeit in aller Regel den gesamten Schaden zu tragen hat, sind Haftungserleichterungen bei grober Fahrlässigkeit nicht ausgeschlossen. Die Entscheidung ist nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalls zu treffen, wobei es entscheidend darauf ankommen kann, daß der Verdienst des Arbeitnehmers in einem deutlichen Mißverhältnis zum Schadensrisiko der Tätigkeit steht (BAGE 63, 127 = NZA 1990, 97 = NJW 1990, 468 = NZV 1990, 66 = AP Nr. 97 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers).
d) Das LAG ist von diesen Grundsätzen ausgegangen. Es hat jedoch die Auffassung vertreten, eine Haftungsmilderung bei grober Fahrlässigkeit scheide hier deshalb aus, weil die Bekl. gegen die Folgen grober Fahrlässigkeit bei ihrer Berufshaftpflichtversicherung versichert sei. Dieser Begründung folgt der Senat nicht. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG kann ein Arbeitnehmer sich nicht auf Haftungsbeschränkung berufen, wenn zu seinen Gunsten eine gesetzlich vorgeschriebene Haftpflichtversicherung (z.B. Kfz-Haftpflichtversicherung) eingreift (vgl. BAG, AP Nr. 36 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers; ebenso BGH, NJW 1972, 440 = AP Nr. 68 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers). Diese bei Bestehen einer gesetzlichen Pflichtversicherung geltenden Grundsätze können nicht auf den Fall übertragen werden, daß der Arbeitnehmer sich gegen das Risiko seiner betrieblichen Tätigkeit freiwillig selbst versichert hat. Die private Haftpflichtversicherung, für deren Abschluß kein gesetzlicher Zwang besteht, haftet nur in dem Umfang, in dem der Arbeitnehmer selbst haftet. Bei Bestehen einer Pflichtversicherung liegen Risiken vor, die der Gesetzgeber als so gefahrträchtig erachtet hat, daß er den Handelnden im Hinblick auf mögliche Gefahren für andere ohne Versicherungsschutz nicht tätig sehen wollte. Diese Tatsache überlagert gleichsam die Grundsätze der beschränkten Arbeitnehmerhaftung. Für die Anwendung dieser Grundsätze besteht kein Raum in der vom Gesetzgeber durch die Pflichtversicherung vorgesehenen Wertung. Besteht ein solcher Pflichtversicherungsschutz jedoch nicht, hängt die Anwendung der Grundsätze der Arbeitnehmerhaftung nicht von der Zufälligkeit des Bestehens einer privaten Haftpflichtversicherung ab (BAG, EzA § 611 BGB Gefahrgeneigte Arbeit Nr. 28).
e) Die Entscheidung des LAG erweist sich jedoch aus anderen Gründen als richtig. Die volle Haftung der Bekl. folgt nämlich bereits daraus, daß die Bekl. mit besonders grober (gröbster) Fahrlässigkeit handelte. Wie bereits dargelegt (s. unter 2b), hatte die Bekl., ohne daß eine besondere Streßsituation vorlag, gleich mehrere Sicherheitsmaßnahmen mißachtet, die eine Verwechslung von Blutgruppen ausschließen sollten. Wegen der akuten Lebensgefährdung, die bei der Übertragung von Blut einer falschen Blutgruppe entsteht, ist eine solche Häufung von Fehlern und Unterlassungen durch einen Arzt schlechterdings nicht hinnehmbar. Ein solches ärztliches Verhalten ist als besonders grobe Fahrlässigkeit zu bewerten. Eine Haftungsmilderung nach den Grundsätzen der Arbeitnehmerhaftung ist im konkreten Fall auch nicht im Hinblick auf die Höhe des eingetretenen Schadens angezeigt.
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