Politische Arbeitnehmerweiterbildung im Ausland
Gericht
BAG
Art der Entscheidung
Revisionsurteil
Datum
16. 03. 1999
Aktenzeichen
9 AZR 166/98
Ein im Ausland durchgeführtes Studienseminar über die sozialen und politischen Verhältnisse dieses Landes kann der politischen Arbeitnehmerweiterbildung dienen, wenn ein hinreichender Bezug zu gesellschaftlichen, sozialen oder politischen Fragen hergestellt wird, die die Bundesrepublik Deutschland betreffen.
Auszüge aus dem Sachverhalt:
Die Parteien streiten über einen Anspruch des Kl. nach dem Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz Nordrhein-Westfalen (AWbG). Der Kl. ist Arbeitnehmer der Bekl.; 1996 war er im Werk Bochum in der Qualitätssicherung beschäftigt. Im Februar 1996 beantragte er schriftlich, ihn für die Zeit vom 29. 4. bis 10. 5. 1996 bezahlt freizustellen, um an der Veranstaltung „Zur aktuellen politischen und sozialen Situation in Cuba“ teilzunehmen. Die Bekl. lehnte eine Freistellung des Kl. ab. Mit seinem Einverständnis gewährte sie ihm für die Zeit vom 29. 4. 1996 bis 6. 5. 1996 unbezahlten Sonderurlaub. Für die anschließende Zeit bis 10. 5. 1996 Tarifurlaub. Die Bekl. verpflichtete sich, dem Kl. das infolge des Sonderurlaubs entfallende Entgelt zu zahlen, wenn rechtskräftig festgestellt wird, dass die Veranstaltung den Anforderungen des AWbG und des Weiterbildungsgesetzes NW (WbG) entspricht. Der Kl. hat daraufhin an der Veranstaltung teilgenommen, die von dem „Forum Eltern und Schule“ durchgeführt worden ist. Das Forum ist als Einrichtung der politischen Weiterbildung in anderer Trägerschaft i.S. des § 9 S. 1 lit. a Alt. 2 AWbG anerkannt. Das Seminar ist nach folgendem Ablaufplan durchgeführt worden:
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In dem vom Kl. im Rechtsstreit eingereichten Konzept des Veranstalters heißt es u.a.: Thematisch/inhaltlich. Cuba ist ein Land der so genannten „Dritten Welt“, das seit 40 Jahren einen eigenen gesellschaftspolitischen Weg zu einem sozialistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell eingeschlagen hat. Insofern ist die aktuelle politische und soziale Situation in Cuba ein in zweifacher Hinsicht relevantes Thema für die politische Bildung.
1. Zum einen als so genanntes „Entwicklungsland“: Durch die fortschreitende weltweite Vernetzung von Nationalökonomien können gesellschaftspolitische Fragen, wie z.B. die wirtschaftliche Situation des eigenen Landes, nicht mehr allein unter nationalen Gesichtspunkten betrachtet werden. Gerade die Situation von Ländern der „Dritten Welt“ und ihre Abhängigkeit von den wirtschaftlich reichen und starken Nationen ist hier von Bedeutung.
2. Zum anderen als Land mit einem sozialistischen Wirtschaftsund Gesellschaftsmodell: Die Systemauseinandersetzung zwischen kapitalistisch-marktwirtschaftlichen und kommunistischen bzw. sozialistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell ist mit dem Zusammenbruch letzteren in der Sowjetunion und in Osteuropa nicht beendet. Auch für die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung in der Bundesrepublik ist es deshalb relevant, ein sozialistisches Gesellschaftsmodell „in der Praxis“ kritisch in Augenschein nehmen zu können. Unter den eingangs genannten beiden Aspekten war leitend für die Auswahl von Themen und Lernorten, den TeilnehmerInnen Einblick in die Arbeitsweise wichtiger gesellschaftlicher Institutionen wie auch in die Lebensweise und Lebensbedingungen der Menschen in Cuba zu vermitteln und zu bearbeiten: Methodisch-didaktische Überlegungen. Wie bereits angerissen stand die Bildungsveranstaltung unter folgenden Zielen:
1. Vermittlung von Eindrücken und Kenntnissen über Institutionen des sozialistischen Gesellschaftsmodells in Cuba;
2. Vermittlung von Eindrücken und Kenntnissen über die Lebensbedingungen und Lebensweise der Menschen in Cuba als einem „Dritte-Welt-Land“.
Der Kl. hat geltend gemacht, die Veranstaltung habe der politischen Weiterbildung gedient. Der an sich wegen der weltweiten Vernetzung von Politik ohnehin entbehrliche Bezug zur (gesellschafts-)politischen Auseinandersetzung mit den Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland sei bei den abendlichen Auswertungstreffen hergestellt worden. Der Kl. hat beantragt, die Bekl. zu verurteilen, an ihn 1265,40 DM brutto nebst 4% Zinsen auf den sich ergebenden Nettobetrag seit dem 11. 7. 1996 zu zahlen.
ArbG und LAG haben der Klage stattgegeben. Hiergegen wendet sich die Bekl. mit der vom LAG zugelassenen Revision erfolgreich.
Auszüge aus den Gründen:
Die Revision der Bekl. ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidungen und zur Abweisung der Klage. Der Kl. hat keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung für die Dauer seines Sonderurlaubs vom 29. 4. bis 6. 5. 1996.
I. Der Kl. hat keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 7 AWbG. Nach dieser Vorschrift entsteht ein Anspruch nur, wenn der Arbeitgeber erklärt, den Arbeitnehmer von der Arbeit zur Teilnahme an einer Arbeitnehmerweiterbildungsveranstaltung freizustellen (ständige Senatsrechtsprechung vgl. BAGE 87, 16 = NZA 1998, 760). Das ist nicht geschehen. Die Bekl. hat dem Kl. für den umstrittenen Zeitraum Sonderurlaub gewährt.
II. Ein Anspruch des Kl. ergibt sich auch nicht aus einer mit der Bekl. getroffenen besonderen Vereinbarung.
1. Die Bekl. hat dem Kl. angeboten, bei gerichtlicher Feststellung der Anerkennungsvoraussetzungen nach dem AWbG das dem Kl. für die Zeit seines Sonderurlaubs vom 29. 4. 1996 bis 6. 5. 1996 entgangene Arbeitsentgelt zu zahlen. Dieses Angebot hat der Kl. angenommen. Damit ist eine rechtsgeschäftliche Verpflichtung des Arbeitgebers zur Entgeltfortzahlung begründet worden, die von einer Bedingung abhängig ist (BAGE 72, 200 = NZA 1993, 1032; BAG, NZA 1998, 758 = AP Nr. 23 zu § 1 BildungsurlaubsGNRW = EzA § 7 AWbG NW Nr. 26).
2. Die vereinbarte Bedingung für die Entgeltfortzahlung ist nicht eingetreten. Nach § 9 S. 1 gilt eine Bildungsveranstaltung als anerkannt, wenn sie nach den Bestimmungen des Weiterbildungsgesetzes durchgeführt wird und § 1 II AWbG entspricht. Die besuchte Bildungsveranstaltung hat nicht der politischen Weiterbildung i.S. des § 1 II AWbG gedient.
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG ist der Begriff „politische Weiterbildung“ nach den vom BVerfG hervorgehobenen Zielen der Arbeitnehmerweiterbildung auszulegen (BAG, NZA 1994, 454 = AP Nr. 5 zu § 1 BildungsurlaubsGNRW = EzA § 7 AWbG NW Nr. 12; BAGE 80, 94 = NZA 1996, 256; BAGE 81, 328 = NZA 1997, 151). Sie bezweckt „das Verständnis der Arbeitnehmer für gesellschaftliche, soziale und politische Zusammenhänge zu verbessern, um damit die in einem demokratischen Gemeinwesen anzustrebende Mitsprache und Mitverantwortung in Staat, Gesellschaft und Beruf zu fördern“ (BVerfGE 77, 308 = NZA 1988, 357). Der Arbeitnehmer soll mithin befähigt werden, aufgrund der ihm durch die Bildungsveranstaltung vermittelten Kenntnisse und Einsichten selbständig Urteile zu fällen und an politischen Prozessen teilzuhaben. Dieses Ziel der Arbeitnehmerweiterbildung ist damit auf das Gemeinwesen bezogen, in dem der Arbeitnehmer lebt und an dessen Gestaltung er mitwirken kann. Das sind Gemeinden, Länder, Bund und die Europäische Union. Der politischen Weiterbildung i.S. von § 1 II AWbG dienen somit regelmäßig nur Bildungsveranstaltungen, die sich mit den politischen und sozialen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union befassen.
Die Behandlung der politischen und sozialen Situation eines anderen Landes wird dadurch nicht ausgeschlossen. Denn auch durch den Vergleich unterschiedlicher Verhältnisse können nützliche Kenntnisse und Erfahrungen gewonnen werden. Es muss aber gewährleistet sein, dass der Arbeitnehmer durch die vergleichende Betrachtung Kenntnisse und Erfahrungen für eine bessere Mitsprache und Mitverantwortung in seinem Gemeinwesen gewinnen kann. Dazu ist erforderlich, dass in der Bildungsveranstaltung ein hinreichender Bezug zu den gesellschaftlichen, sozialen oder politischen Verhältnissen hergestellt wird, die die Bundesrepublik Deutschland betreffen. Entgegen der Auffassung der Revision kommt es dabei auf die „politische Nähe“ der Bundesrepublik Deutschland oder auf das Ausmaß der wechselseitigen wirtschaftlichen Kontakte nicht an.
Ob die an politische Arbeitnehmerweiterbildung zu stellenden Anforderungen erfüllt sind, bestimmt sich nach der ständigen Senatsrechtsprechung, nach dem didaktischen Konzept des Veranstalters sowie der zeitlichen und sachlichen Ausrichtung der einzelnen Lerneinheiten. Diese müssen uneingeschränkt den gebotenen systematischen Lernprozess erkennen lassen, der die Urteils- und Handlungsfähigkeit der Teilnehmer fördern soll (vgl. BAG, NZA 1999, 872 = AP Nr. 26 zu § 1 BildungsurlaubsGNRW m.w.Nachw.). Das macht erforderlich, die Bildungsmaßnahme und ihre Inhalte dahin zu überprüfen, ob sie geeignet sind, die Handlungsfähigkeit des Arbeitnehmers im gesellschaftlich/politischen Geschehen der Bundesrepublik Deutschland zu verbessern.
Diese Beurteilung obliegt zunächst den Tatsachengerichten. Deren Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs politische Arbeitnehmerweiterbildung unterliegt in der Revisionsinstanz nur der eingeschränkten Prüfung, ob der Rechtsbegriff selbst verkannt, Denkgesetze verletzt oder wesentliche Umstände bei der Bewertung übersehen worden sind (st. Rspr. des BAG, BAGE 87, 41 = NZA 1998, 336 m.w.Nachw.).
b) Das angefochtene Berufungsurteil hält diesem revisionsrechtlich eingeschränkten Prüfmaßstab nicht stand.
aa) Das LAG hat es als ausreichend angesehen, dass „Themen in politischer Hinsicht“ behandelt worden seien. Das Seminar sei jedenfalls geeignet gewesen, die Urteilsfähigkeit der Teilnehmer zu schärfen und die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland zu bewerten.
bb) Damit hat das LAG den Begriff politische Arbeitnehmerweiterbildung verkannt.
(1) Zwar lässt der stetige Wandel politischer Verhältnisse und Anschauungen nicht zu, einen allgemeinen Katalog geeigneter oder nicht geeigneter Themen zur politischen Weiterbildung aufzustellen. Zum Gegenstand politischer Weiterbildung können deshalb nicht nur Themen zur Staats- oder Bürgerrechtskunde gemacht werden, sondern auch andere Fragen, die Aufgabe oder Ziel von Politik sind oder zur politischen Diskussion gestellt werden sollen. Deshalb hat der Senat auch Veranstaltungen als politische Weiterbildung anerkannt, die sich mit Fragen des regionalen Umweltschutzes in Deutschland befassen (vgl. BAGE 74, 99 = NZA 1994, 456; BAGE 81, 328 = NZA 1997, 151). Damit hat der Senat aber nicht zum Ausdruck gebracht, jedes Thema, für das „in politischer Hinsicht“ ein Interesse geltend gemacht werden könnte, erfülle den Begriff politischer Arbeitnehmerweiterbildung i.S. von § 1 II AWbG.
(2) Das LAG ist außerdem von der Senatsrechtsprechung abgewichen, nach der stets zu prüfen ist, ob das didaktische Konzept des Veranstalters und die zeitliche sowie sachliche Ausrichtung der einzelnen Lerneinheiten geeignet sind, das Ziel der politischen Arbeitnehmerweiterbildung zu erreichen. Seine pauschale Aussage, durch die Beschäftigung mit kubanischen Verhältnissen sei die Urteilsfähigkeit der Teilnehmer gesteigert worden, ist mit der verfassungsrechtlich gebotenen Kontrolle nicht vereinbar. Den Fachgerichten ist nach der Rechtsprechung des BVerfG aufgegeben zu überprüfen, ob eine thematisch umstrittene Bildungsveranstaltung den gesetzlichen Zielvorgaben entspricht (BVerfGE 77, 308 = NZA 1988, 357). Zwar kann ein Auslandsaufenthalt den Erfahrungsschatz erweitern und dazu beitragen, die eigene Lebenssituation im gesellschaftlich/politischen Raum zu reflektieren und zum Handeln anregen. Die Feststellung eines möglichen individuellen Bildungserlebnisses genügt aber nicht. Zu prüfen ist der organisierte Lernprozess.
Auf eine systematische Überprüfung, ob die Bildungsveranstaltung gezielt die Mitwirkung der Arbeitnehmer am öffentlichen Leben in der Bundesrepublik Deutschland förderte, konnte das LAG auch nicht wegen der von ihm pauschal angeführten „Vernetztheit und Globalisierung“ verzichten. Zwar trifft es zu, dass „Wirtschaft und Politik“ nicht an den grenzen der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union halt machen. Insbesondere können durch die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland die sozialen Interessen der Arbeitnehmer in Deutschland betroffen sein. Das LAG hat aber nicht aufgezeigt, dass im Seminar solche grenzüberschreitenden Fragen behandelt worden sind.
3. Der Senat kann abschließend entscheiden. Eine Zurückverweisung des Rechtsstreits an das BerGer. kommt nach dem Ergebnis der Revisionsverhandlung nicht in Betracht (§ 565 III Nr. 1 ZPO). Aufgrund der festgestellten Tatsachen bleibt kein Raum für die vom Kl. gewünschte Bestätigung der Bildungsveranstaltung als politische Arbeitnehmerweiterbildung.
Der Kl. hat nicht schlüssig dargelegt, dass die Veranstaltung nach ihrer zeitlichen und sachlichen Ausrichtung der politischen Arbeitnehmerweiterbildung i.S. von § 1 II AWbG im erforderlichen Ausmaß gedient hat.
a) Nach dem Seminarprogramm diente ein 2½ stündiges Arbeitsgespräch mit Mitarbeitern und Schülern der Gewerkschaftsschule am 29. 4. 1996 dem Austausch über Bildungs- und Gewerkschaftsarbeit in beiden Ländern. Auch der Nachmittag des 6. 5. 1996 war mit übergreifenden Themen i.S. der politischen Arbeitnehmerweiterbildung belegt, nämlich mit den Bedingungen eines Joint Venture-Unternehmens und der Verträglichkeit unterschiedlicher ökonomischer Systeme. Nicht auszuschließen ist, dass in den am 3. 5. 1996 gehaltenen Referaten zur Innen- und Außenpolitik Kubas „unter der Blockade“ Stellungnahmen und Reaktionen der Europäischen Union und/oder der Bundesrepublik Deutschland angesprochen wurden.
Alle anderen, zeitlich überwiegenden Programmpunkte wie Referate zur Rolle und Struktur der Gewerkschaften, Rechte und Pflichten der Arbeitnehmer (29. 4.: 3 Stunden), der Besuch des Gewerkschaftskongresses (30. 4.: 5½ Stunden), Revolutionsgeschichte und Pressewesen (2. 5.: 5½ Stunden). Arbeitsbedingungen und Besuch eines Stahlwerks (6. 5.: 3 Stunden) sind ausschließlich auf die Vermittlung von Informationen über soziale und politische Fragen in Kuba zugeschnitten.
b) Für die erforderliche Ausrichtung der Bildungsveranstaltung mit dem Ziel der Befähigung zu Mitsprache und Mitverantwortung genügt nicht die pauschale Behauptung des Kl., ein Bezug zur (gesellschafts-)politischen Auseinandersetzung mit den Verhältnissen der Bundesrepublik Deutschland sei bei den täglichen Auswertungseinheiten erfolgt, in denen die „bei den einzelnen Programmpunkten gemachten eher individuellen Erfahrungen der einzelnen Teilnehmer in einen systematischen Zusammenhang gestellt und in das didaktische Konzept des Veranstalters eingebettet“ worden seien. Das stimmt weder mit dem Ziel des Veranstalters „Vermittlung von Eindrücken und Kenntnissen über Institutionen des sozialistischen Gesellschaftsmodells in Cuba und über die Lebensbedingungen und die Lebensweisen der Menschen in Cuba als einem Dritte-Welt-Land“ überein, noch lässt diese Behauptung eine Überprüfung in zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht zu.
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