Kein Anspruch auf Fortzahlung des vollständigen Gehalts bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit eines Angestellten im Betongewerbe

Gericht

BAG 5. Senat


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

26. 08. 1998


Aktenzeichen

5 AZR 127/98


Leitsatz des Gerichts

Nach § 5 des Manteltarifvertrags für die Angestellten in der Beton- und Fertigteilindustrie und dem Betonsteinhandwerk (Betonsteingewerbe) Nordwestdeutschland vom 14. September 1993 hat der Angestellte bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit keinen Anspruch auf Fortzahlung des Gehalts in Höhe von 100%.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Parteien streiten über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.

Der Kl. ist bei der Bekl. als angestellter Meister zu einem Monatsgehalt von zuletzt 5793 DM brutto beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien findet kraft beiderseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag für die Angestellten in der Beton- und Fertigteilindustrie und dem Betonsteinhandwerk (Betonsteingewerbe) Nordwestdeutschland vom 14. 9. 1993 (MTV) Anwendung. Dessen § 5 enthält unter der Überschrift „Gehaltszahlung bei Krankheit und im Todesfall“ folgende Regelungen:

I. Krankheit

Es gelten die gesetzlichen Bestimmungen.

Verheiratete erhalten nach ununterbrochener 5jähriger Betriebszugehörigkeit als Angestellte bis zur Dauer von weiteren 6 Wochen den Unterschiedsbetrag zwischen den Beträgen, die dem Angestellten aus Anlaß der Erkrankung zufließen und 90% des tatsächlichen Nettogehaltes als Zuschuß. Der Anspruch besteht nur einmal innerhalb von 12 Monaten.

Soweit der Angestellte kein Krankengeld bezieht, ermäßigt sich der Zuschuß um die Höhe des Krankengeldes, daß er erhalten würde, wenn er versicherungspflichtig wäre.

Der Kl. war im März 1997 für 23 Arbeitsstunden und im April 1997 für 133 Arbeitsstunden arbeitsunfähig erkrankt. Die Bekl. leistete Entgeltfortzahlung in Höhe von 80% unter Berufung auf die seit dem 1. 10. 1996 geltende neue Fassung des § 4 EntgeltFG. Der Kl. beansprucht den Differenzbetrag zu 100% in rechnerisch unstreitiger Höhe.

Er hat die Auffassung vertreten, § 5 Abschnitt I Ziff. 1 MTV verweise auf die gesetzlichen Bestimmungen im Zeitpunkt des Abschlusses des Tarifvertrages. Es gelte daher das Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle (Lohnfortzahlungsgesetz) vom 27. 7. 1969. Dies sehe eine 100%ige Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall vor. Im übrigen ergebe sich aus der Regelung des § 5 Abschnitt I Ziff. 2 MTV, daß die Tarifvertragsparteien beim Abschluß des MTV den Willen gehabt hätten, die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bis zu sechs Wochen in voller Höhe zu sichern.

Der Kl. hat beantragt, die Bekl. zu verurteilen, an ihn 959,11 DM brutto nebst 4% Zinsen aus dem sich hieraus ergebenden Nettobetrag seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Bekl. hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, § 5 Abschnitt I Ziff. 1 MTV verweise auf die jeweils gültigen gesetzlichen Bestimmungen über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision des Kl. hat keinen Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Die Revision des Kl. ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kl. hat für die Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit in den Monaten März und April 1997 keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung in Höhe von 100% seines Arbeitsentgelts. § 5 Abschnitt I Ziff. 1 MTV enthält keine eigenständige Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.


I.

Bis zum 31. 5. 1994 galt für Arbeiter das „Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle (Lohnfortzahlungsgesetz)“ vom 27. 7. 1969, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. 12. 1988. Angestellte hatten Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach § 616 Abs. 2 BGB, § 63 HGB und § 133c GewO. Durch das Entgeltfortzahlungsgesetz vom 26. 5. 1994, in Kraft getreten am 1. 6. 1994 (Art. 68 Abs. 4 PflegeVG vom 26. 5. 1994 - BGBl. I 1014, 1070), wurde die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter und Angestellte auf eine einheitliche gesetzliche Grundlage gestellt. Dabei blieb die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts zunächst unverändert. Durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. 9. 1996 (BGBl. I 1476, 1477) wurde die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall herabgesetzt. Sie beträgt nunmehr nach § 4 Abs. 1 Satz 1 EntgeltFG n.F. nur noch „80 von Hundert des dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelts“.

Bestehende tarifliche Regelungen sind durch die gesetzliche Neuregelung nicht aufgehoben worden. Der Gesetzgeber wollte in bestehende Tarifverträge nicht eingreifen (BT-Drucks. 13/4612, S. 2; Buchner, NZA 1996, 1177, 1179).

Nach § 5 Abschnitt I Nr. 1 MTV gelten für die Gehaltszahlung bei Krankheit „die gesetzlichen Bestimmungen“.


II.

Die Auslegung des Tarifvertrags ergibt, daß die Tarifvertragsparteien die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nicht eigenständig geregelt haben.

1. In diesem Zusammenhang finden die Grundsätze für die Auslegung des normativen Teils von Tarifverträgen Anwendung (vgl. hierzu und zum folgenden BAG Urteile vom 16. 6. 1998 - 5 AZR 67/97 - und - 5 AZR 638/97 - AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Schuhindustrie und AP Nr. 221 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau).

2. Verweisen Tarifverträge auf gesetzliche Vorschriften, die ohnehin gelten, so handelt es sich um deklaratorische Klauseln, wenn nicht der Wille zur Schaffung einer gesetzesunabhängigen eigenständigen Tarifregelung im Tarifvertrag einen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden hat (BAG 40, 102 = AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; BAG Beschluß vom 28. 1. 1988 - 2 AZR 296/87 - und BAG Urteil vom 4. 3. 1993 - 2 AZR 355/92 - AP Nr. 24, 40 zu § 622 BGB; Senatsurteile vom 16. 6. 1998 - 5 AZR 67/97 - AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Schuhindustrie, und vom 1. 7. 1998 - 5 AZR 456/97 - AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Fleischindustrie; vgl. auch BAG Urteil vom 12. 11. 1964 - 5 AZR 507/63 - AP Nr. 4 zu § 34 SchwBeschG1961). Dabei macht es keinen Unterschied, ob allgemein auf gesetzliche Bestimmungen oder auf bestimmte Gesetze, z.B. das Lohnfortzahlungsgesetz bzw. die für Angestellte geltenden gesetzlichen Vorschriften verwiesen wird, oder ob es heißt, der Arbeitnehmer habe Anspruch auf Fortzahlung des Gehalts oder „seiner Bezüge“ nach oder nach Maßgabe bestimmter gesetzlicher Vorschriften. Mit einer Verweisung auf ein ohnehin anwendbares Gesetz bringen die Tarifvertragsparteien in aller Regel zum Ausdruck, daß das Gesetz und nicht der Tarifvertrag maßgeblich sein soll. Bei der Aufnahme einer Verweisung in den Tarifvertrag haben die Tarifvertragsparteien zwar meist genaue Vorstellungen vom Inhalt der gesetzlichen Regel. Eine solche Vorstellung ist aber bei Verweisungen mit dem Willen zur Schaffung einer eigenständigen Regelung nicht gleichzusetzen.

Da Verweisungen auf ohnehin anwendbare gesetzliche Vorschriften typischerweise auf fehlenden Regelungswillen hindeuten, bedarf es in solchen Fällen besonders deutlicher Anhaltspunkte dafür, daß gleichwohl ein Regelungswille bestand. Anders verhält es sich bei wortgleicher oder inhaltsgleicher Übernahme einschlägiger gesetzlicher Vorschriften eines Tarifvertrags ohne Nennung des Gesetzes. Nach Auffassung des Zweiten Senats sind auch solche Bestimmungen im Zweifel deklaratorisch (BAG 74, 167; 81, 76 = AP Nr. 42, 48 zu § 622 BGB; BAG Urteil vom 14. 2. 1996 - 2 AZR 166/95 - AP Nr. 21 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie) und bedarf es auch hier zusätzlicher Anhaltspunkte, um auf den Willen der Tarifvertragsparteien zur Schaffung einer gesetzesunabhängigen Regelung schließen zu können. Da aber in derartigen Fällen nicht schon der Wortlaut des Tarifvertrags gegen das Bestehen eines Regelungswillens spricht, sind insoweit weniger strenge Anforderungen an den Ausdruck dieses Willens zu stellen.

Diese Unterschiede zeigen sich insbesondere bei der Bedeutung, die das Vorhandensein einer eigenständigen Tarifregelung über die Zahlung von Zuschüssen zum Krankengeld ab der siebten Krankheitswoche für die Auslegung hat. Der Senat sieht in einer solchen Regelung bei bloßen Verweisungen - anders als bei der wortgleichen oder inhaltsgleichen Übernahme gesetzlicher Bestimmungen in den Tarifvertrag - kein hinreichend starkes Indiz dafür, daß der Tarifvertrag die Höhe der Entgeltfortzahlung innerhalb der Sechswochenfrist eigenständig regelt.

3. § 5 Abschnitt I Nr. 1 MTV enthält eine bloße Verweisung auf „die gesetzlichen Bestimmungen“. Die Tarifvertragsparteien haben die gesetzlichen Bestimmungen weder wort- noch inhaltsgleich übernommen. Sie haben sie sich nicht zu eigen gemacht. Auch aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang ergibt sich nicht, daß es sich um eine eigenständige Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung handelt.

Nach § 5 Abschnitt I Nr. 2 MTV erhalten langjährig beschäftigte verheiratete Arbeitnehmer vom Arbeitgeber bis zur Dauer von weiteren sechs Wochen einen Zuschuß zum Krankengeld in Höhe des Differenzbetrags zu 90% des tatsächlichen Nettoentgelts. Diese Regelung ist - auch nach den Grundsätzen des Zweiten Senats - eigenständig, da ein über die gesetzlichen Bestimmungen hinausgehender Anspruch vereinbart wurde. Allein aus dem konstitutiven Charakter dieser Bestimmung folgt jedoch noch nicht, daß auch § 5 Abschnitt I Nr. 1 MTV als konstitutiv anzusehen wäre. Der konstitutive Charakter eines Teils eines zusammenhängenden Regelungsbereichs läßt noch keinen Schluß auf den Charakter des übrigen Teils der auszulegenden Bestimmung zu. Den Tarifvertragsparteien steht es frei, von ihrer Regelungsbefugnis nur in Teilbereichen Gebrauch zu machen und in anderen auf die gesetzlichen Bestimmungen zu verweisen (vgl. BAG Urteil vom 14. 2. 1996 - 2 AZR 166/95 - AP Nr. 21 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie [II 4b der Gründe]).

Das Vorhandensein einer eigenständigen Regelung ergibt sich nicht aus den Zwecken der Zuschußregelung. Die Zuschußregelung des § 5 Abschnitt I Nr. 2 MTV soll den Einkommensverlust der länger beschäftigten verheirateten Arbeitnehmer nach Ablauf der Sechswochenfrist für einen bestimmten Zeitraum teilweise ausgleichen und ihn annähernd so stellen wie innerhalb der Sechswochenfrist. Dieser Zweck wird zwar nur erreicht, wenn dem Arbeitnehmer für die ersten sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit ein Anspruch auf Fortzahlung des vollen Arbeitsentgelts zusteht. Allein daraus kann aber bei Verweisungen wie der des § 5 Abschnitt I Nr. 1 MTV nicht auf eine eigenständige Regelung geschlossen werden. Deutlich wird daraus nur, daß sich die Tarifvertragsparteien bei der Zuschußregelung eine vorausgegangene Entgeltfortzahlung zu 100% vorgestellt, also auf der Basis der damaligen gesetzlichen Regelung verhandelt haben.

Vorinstanzen

Landesarbeitsgericht Düsseldorf

Rechtsgebiete

Arbeitsrecht

Normen

BAG TVG § 1 Tarifverträge: Betonsteingewerbe; MTV für die Angestellten in der Beton- und Fertigteilindustrie und dem Betonsteinhandwerk (Betonsteingewerbe) Nordwestdeutschland vom 14. September 1993 § 5; EntgeltFG § 4 Abs. 1 n.F.