Besondere Aufsichtspflicht einer Kinderklinik
Gericht
OLG Köln
Art der Entscheidung
Berufungsurteil
Datum
22. 12. 1993
Aktenzeichen
27 U 3/93
Eine Kinderklinik verletzt ihre Aufsichtspflicht, wenn Patienten ungehindert das Krankenhaus verlassen können, weil Bewachung und Kontrolle nicht ausreichend sind. Verletzt sich ein Kind in einem solchen Fall außerhalb des Klinikbereiches, ist das Krankenhaus schadensersatzpflichtig.
Auszüge aus dem Sachverhalt:
Die 1984 geborene Kl. wurde am 30. 7. 1990 als Kassenpatientin zur stationären Behandlung in die Kinderklinik der Bekl. zu 1, deren Chefarzt und ärztlicher Leiter der Bekl. zu 2 ist, aufgenommen. Sie sollte am 13. 8. 1990 wegen einer Nierenerkrankung operiert werden. Sie war nicht bettlägerig. Am Spätnachmittag des 10. 8. 1990 wurde sie von ihren geschiedenen Eltern besucht, die ihren Besuch gegen 17.30 Uhr beendeten und das Krankenhaus wieder verließen. Etwa zur gleichen Zeit besuchte die Zeugin L in Begleitung ihres 1985 geborenen Sohnes M ihre Tochter, die sich ebenfalls zur stationären Behandlung in dem Krankenhaus befand, und zwar auf derselben Station wie die Kl. Diese Station war zu der Zeit mit 28 Kindern belegt, die in der Spätschicht von vier weiblichen Pflegekräften ("Schwestern“) betreut wurden. Die Station befand sich im zweiten Stockwerk. Die Krankenzimmer lagen nebeneinander und waren von einem langen Flur zu erreichen, der vom Treppenhaus durch eine unverschlossene Tür (Haupteingangs- und -ausgangstür) abgegrenzt war, die sich gegenüber dem Schwesternzimmer befand. Der Stationsflur konnte desweiteren durch unverschlossene Türen im mittleren und hinteren Teil verlassen bzw. betreten werden, die in die darunterliegenden bzw. angrenzenden Stationen führten. Der Gebäudehaupteingang bzw. -ausgang war nicht mit einer von einem Portier besetzten Schleuse versehen, konnte also von jedermann unkontrolliert benutzt werden. Außerdem war das Gebäude über die Cafeteria und den Keller zugänglich. Nachdem ihre Eltern den Besuch beendet hatten, verließ die Kl. zusammen mit M unbemerkt die Station. Dem für sie zuständigen Pflegepersonal war sie als aktives Kind bekannt, das bereits zuvor verbotenerweise die Station verlassen hatte. Ihr waren deswegen Vorhaltungen gemacht worden. M und die Kl. waren einander als Nachbarskinder bekannt. Die Kinder verließen das Krankenhausgebäude und suchten eine unweit gelegene Kirche auf und nahmen Zeitschriften an sich. Danach begaben sie sich in ein zwischen Kirche und Pfarrhaus gelegenes Gebüsch. Dort entzündete M das Papier. Dabei fing unter nicht näher geklärten Umständen die Kleidung der Kl. Feuer. Sie erlitt schwere Brandverletzungen, die in einem Kinderkrankenhaus behandelt wurden. Es wurden ausgedehnte Verbrennungen dritten Grades festgestellt, die etwa 60 bis 65 % der gesamten Körperoberfläche einnahmen. Die Kl. mußte bis Ende Januar 1991 24 Operationen unter Vollnarkose erdulden. Ihr gesamter Körperstamm und die Arme sind mit Keloidnarben bedeckt. Die Beweglichkeit der Hüft-, Knie- und Schultergelenke ist eingeschränkt, das Gangbild unbeholfen. Weitere Narbenkorrekturen und Hauttransplantationen sind erforderlich. Ob Spätschäden wie Gelenkarthrosen und Brustminderentwicklung eintreten werden, ist noch nicht abschließend beurteilbar.
Die Kl. hat die Bekl. mit dem Vorwurf, die ihnen ihr gegenüber obliegenden Aufsichts- und Obhutspflichten verletzt zu haben, auf Zahlung von Schmerzensgeld und Feststellung der Ersatzpflicht wegen der materiellen und künftigen immateriellen Schäden in Anspruch genommen.
Das LG hat die Bekl. als Gesamtschuldner zur Zahlung von 100000 DM Schmerzensgeld verurteilt und festgestellt, daß die Bekl. als Gesamtschuldner verpflichtet seien, ihr sämtliche materiellen und künftigen immateriellen Schäden aus dem Unfallereignis zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen seien. Die Berufung der Bekl. hatte keinen Erfolg.
Auszüge aus den Gründen:
Das LG hat die Bekl. mit Recht wegen unerlaubter Handlung und, soweit es um den materiellen Schaden geht, aus dem Gesichtspunkt der positiven Vertragsverletzung zum Ersatz der infolge des Unfallereignisses vom 10. 8. 1990 erlittenen materiellen und immateriellen Schäden verurteilt (§§ 847 , 823 , 831 , 31 , 611 , 242 BGB). Die Bekl. zu 1 haftet, weil sie es vorwerfbar unterlassen hat, die notwendigen Vorkehrungen und Anordnungen zu treffen, um die in die Obhut ihres Klinikpersonals aufgenommene Kl. vor Schaden zu bewahren.
Es ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, der der Senat folgt, seit langem anerkannt, daß der Krankenhausträger geeignete Maßnahmen zu treffen hat, die vermeiden, daß aufgenommene Patienten durch andere Kranke oder Besucher zu Schaden kommen (vgl. BGH, NJW 1976, 1145). Hieraus und aus dem Grundsatz, daß die Sicherheit des Patienten oberstes Gebot ist (vgl. BGH, VersR 1954, 290), folgt, daß darüber hinaus geeignete Vorkehrungen zu treffen sind, die verhindern, daß ein Patient sich selbst allein oder im Zusammenwirken mit anderen Schaden zufügt, wenn dies nach der Art der Erkrankung oder sonstigen Eigenarten des Patienten, wozu auch kindliche Unreife gehört, bei verständiger Betrachtungsweise ernsthaft in Erwägung zu ziehen ist.
So liegt es im Streitfall. Ein sechs Jahre altes Kind bedarf der Aufsicht, damit es sich nicht in der ihm fremden Umgebung an potentiell-gefährlichen Gegenständen, Maschinen oder ähnlichem verletzen oder den sicheren behüteten Bereich verlassen kann und dadurch auch unvermuteten Gefahren ausgesetzt wird, die sich verwirklichen können, so daß es zu Schaden kommt. An solchen schadenverhütenden Maßnahmen hat es gefehlt. Die Kl. war durch keine geeigneten Vorkehrungen daran gehindert, zusammen mit dem etwa ein Jahr jüngeren M die Klinik zu verlassen. Das stellt einen Organisationsmangel dar.
Der Senat sieht sich nicht gehalten zu entscheiden, welche konkreten Maßnahmen im allgemeinen und erforderlichenfalls für den besonderen Einzelfall vom Klinikträger zu ergreifen sind, um die in seiner Obhut befindlichen behandlungsbedürftigen Kinder am unerlaubten Verlassen des behüteten Bereichs zu hindern. Es sind viele Maßnahmen denkbar, deren Wirksamkeit von den jeweiligen Umständen abhängt, so daß im Einzelfall relativ einfache und kostengünstige Vorkehrungen ausreichen mögen, während in anderen Fällen ein hoher Aufwand erforderlich sein mag. In jedem Fall ist aber ein Mindeststandard erforderlich, der gewährleistet, daß jedenfalls nach dem normalen Lauf der Dinge ein aufsichtsbedürftiges Kind den Obhutsbereich nicht unbemerkt verlassen kann. Daran hat es in der Klinik der Bekl. zu 1 gefehlt.
Weder die Station, auf der sich die Kl. befand, noch das Krankenhausgebäude insgesamt war insoweit in irgendeiner Weise durch bauliche Maßnahmen im weitesten Sinne gesichert. Die Kinder konnten jederzeit unbemerkt ihr Krankenzimmer verlassen, den Stationsflur betreten und von dort aus durch ungesicherte Türen unbemerkt in das Treppenhaus gelangen, und zwar entweder unmittelbar oder mittelbar über eine andere Station. Ob sie dabei bemerkt und daran gehindert wurden, hing mehr oder weniger vom Zufall ab, nämlich davon, ob sich eine Pflegekraft zufällig auf dem Flur oder in dem Schwesternzimmer befand und zudem gerade auf die Tür achtete. Die Türen waren unverschlossen und von sechsjährigen Kindern zu öffnen, wie die Bekl. selbst einräumen, mögen die Türen auch schwergängig gewesen sein. Ab dem Treppenhaus waren die Kinder jeglicher Kontrolle entzogen und konnten ohne weiteres das Gebäude verlassen. Danach sind überhaupt keine Sicherungsvorkehrungen ersichtlich.
Als relativ einfache, gleichwohl aber durchaus effektive Maßnahme hätte es sich zumindest angeboten, die Stationsflurtüren mit erhöht angebrachten Klinken zu versehen, die von Kindern im Alter der Kl. gewöhnlich nicht hätten erreicht werden können, oder die Türen dadurch zu sichern, daß sie nur mittels von Kindern nicht ohne weiteres erreichbaren automatischen Druckknöpfen hätten geöffnet werden können. Ferner wäre eine Überwachung der Türen und/oder des Hauptflures mittels einer Videoanlage zu erwägen gewesen. Man hätte auch daran denken können, bestimmte Kinder in einem besonderen Bereich zusammenzulegen, der überhaupt nur durch eine personell gesicherte Schleuse oder durch eine nur auf Anforderung (Klingel, Lichtsignal) vom Pflegepersonal zu öffnende Tür betreten und verlassen hätte werden können. Daß solche Maßnahmen keinen absoluten Schutz geboten hätten, macht sie nicht von vornherein überflüssig. Darum geht es auch nicht. Gefordert sind zumindest solche Vorkehrungen, die wirksame Schranken bewirken, mögen sie auch durch besonderes Geschick und gezieltes Ausnutzen unvermeidlicher Defizite überwunden werden können.
Wieso solchen Maßnahmen feuerpolizeiliche Gründe ernsthaft entgegenstehen sollten, ist nicht recht nachvollziehbar. Eine Station kann mit sogenannten Brandmeldern ausgestattet werden, die dafür sorgen, daß im Brandfalle sämtliche Türen automatisch aufspringen. Im übrigen ist die Station immer mit Pflegepersonal besetzt, das selbstverständlich sofort die nötigen Maßnahmen ergreifen kann, ohne daß es zu unvertretbaren Zeitverzögerungen kommt. Ferner ist darauf hinzuweisen, daß es in vielen Kliniken Bereiche gibt, die vor unbefugtem Zutritt oder Verlassen geschützt sind, wie der Intensiv-, Quarantäne- oder auch Säuglingsbereich. Es ist nicht einzusehen, warum gleiches nicht auch für bestimmte Bereiche einer Kinderklinik gelten soll.
Daß Sicherungsmaßnahmen Kosten verursachen, muß im Interesse der Gefahrenabwehr für den Patienten hingenommen werden, zumal die von den Bekl. angegebene Größenordnung von mehreren 100000 DM jährlich für den Fall einer nahezu optimalen Sicherungsmaßnahme, nämlich einer personell permanent besetzten Schleuse, im Verhältnis zu den Gefahren nicht unangemessen oder unzumutbar erscheint.
Die Bekl. zu 1 meint zu Unrecht, die fehlenden Sicherungsmaßnahmen seien ihr jedenfalls mangels Verschuldens nicht anzulasten, weil ihre Klinik insoweit dem gewöhnlichen Standard vergleichbarer Kliniken, sogar solcher modernerer Bauart, entspreche. Der Fahrlässigkeitsbegriff (§ 276 I 2 BGB) orientiert sich an der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, die nicht notwendig der üblichen entspricht (vgl. BGH, NJW 1965, 1075). Sollte die Behauptung der Bekl. zutreffen, so sind offenbar Nachlässigkeiten eingerissen, die der betroffene Patient nicht hinzunehmen braucht und die auch nicht zu entschuldigen vermögen (vgl. BGHZ 5, 319 = NJW 1952, 779; BGHZ 23, 290 = NJW 1957, 746).
Die Bekl. zu 1 ist der ihr obliegenden Aufsichts- und Obhutspflichten im Streitfall auch nicht anderweitig durch besondere personenbezogene Einzelbetreuung nachgekommen. Sie behauptet selbst nicht, eine Anordnung getroffen zu haben, wonach eine Pflegekraft ständig den Aufenthalt der Kl. unter Kontrolle zu halten gehabt hätte, weil sich die Kl. als „überaktiv“ erwiesen hatte und offenbar dazu neigte, unerlaubt die Station zu verlassen.
Die nach allem vorwerfbare Pflichtverletzung hat auch adäquat kausal zum Körperschaden der Kl. geführt. Nach der im Zivilrecht allgemein vertretenen Adäquanztheorie (vgl. die Nachw. bei Palandt/Heinrichs, BGB, 52. Aufl., Vorb. § 249 Rdnrn. 58 bis 61), ist die Ursache, sofern sie wie hier nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß auch der Erfolg entfiele, nur dann rechtlich irrelevant, wenn der Zusammenhang zwischen Pflichtverletzung als schädigendem Ereignis und Verletzungserfolg auf besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen beruht. Das ist hier nicht der Fall. Es liegt weder außerhalb aller Lebenserfahrung, daß sich Kinder im Alter der Kl. aus einem für sie bedrohlich oder auch nur langweilig wirkenden Krankenhaus entfernen, um außerhalb zu spielen, um sich gleichsam wenigstens zeitweilig der Isolierung zu entziehen, noch ist es unwahrscheinlich, daß sie sich dabei gefährlichen Spielen zuwenden, wozu das Anzünden von Papier und ähnlichem gehört. Derartiges ist nicht selten für Kinder dieses Alters besonders reizvoll; die darin liegenden Gefahren werden von ihnen nicht genügend realisiert. Daß es dabei zu erheblichen Verletzungen kommen kann, wird man ebenfalls nicht in Abrede stellen können. Das Hinzutreten weiterer Kinder, hier des M, ist ebenfalls nicht außergewöhnlich.
Der eingetretene Schaden hat zur Pflichtverletzung auch nicht bloß eine zufällige äußere Verbindung, sondern steht im inneren Zusammenhang zu der von der Bekl. durch Unterlassung geschaffenen Gefahrenlage. Insoweit unterfällt er auch dem Schutzzweck der verletzten Norm, nämlich der Verletzung der Obhutspflicht (vgl. BGH, NJW 1986, 1332). Die Pflicht, die Kl. am Verlassen des behüteten und kontrollierten Bereichs zu hindern, sollte sie auch davor schützen, in fremder Umgebung zu Schaden zu kommen, mag die Schadensquelle auch letztlich im kindlichen Spieltrieb begründet sein. Es bedarf einer besonderen Prüfung und Abwägung aller Umstände, insbesondere auch der Eigenarten des Kindes und seiner Freunde, bevor man ein nicht schulpflichtiges Kind sich selbst unbeaufsichtigt aushäusig überläßt.
Der Haftung der Bekl. zu 1 steht auch nicht ihre Behauptung entgegen, ihr Pflegepersonal habe die Eltern der Kl. gebeten, die Beendigung ihres Besuchs anzuzeigen, um es in die Lage zu versetzen, auf das Kind besonders zu achten. Dem seien die Eltern nicht nachgekommen, weshalb die besondere Überwachung unterblieben sei. Es kann offenbleiben, ob diese Behauptung bereits aus Rechtsgründen unerheblich ist, wie das LG meint, und welches anspruchsbegründende Merkmal gegebenenfalls davon betroffen wäre. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht nämlich nicht fest, daß die Behauptung richtig ist. (Wird ausgeführt.)
Der Bekl. zu 2 haftet als verantwortlicher Chefarzt der Kl. in demselben Umfang aus dem Gesichtspunkt der unerlaubten Handlung (§§ 823 , 847 BGB) auf Schadensersatz, und zwar gesamtschuldnerisch mit der Bekl. zu 1 (§§ 840 , 421 BGB). Es gehört zu seinem Verantwortungsbereich als ärztlicher Leiter der Kinderklinik, darauf hinzuwirken, daß die notwendigen Vorkehrungen zur Sicherheit und Obhut der Kinder getroffen und eingehalten werden. Diese Pflicht hat er verletzt. Er behauptet selbst nicht, Maßnahmen irgendwelcher Art ergriffen oder angeordnet zu haben.
Kanzlei Prof. Schweizer Rechtsanwaltsgesellschaft mbH © 2020
Impressum | Datenschutz | Cookie-Einstellungen