Postalische Erreichbarkeit von Arbeitslosen

Gericht

BSG


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

02. 03. 2000


Aktenzeichen

B 7 AL 8/99 R


Leitsatz des Gerichts

Grundvoraussetzung für die Erreichbarkeit des Arbeitslosen ist die postalische Erreichbarkeit. Deren Sicherstellung erfordert, dass dem Arbeitslosen Briefpost unmittelbar, d.h. ohne Verzögerung und ohne Einschaltung Dritter zugehen kann.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Kl. begehrt von der Bekl. Arbeitslosengeld (Alg) für den Zeitraum vom 27. 12. 1994 bis 22. 1. 1995.

Der im Jahre 1939 geborene Kl. ist italienischer Staatsangehöriger. In der Zeit vom 22. 7. 1991 bis zum 10. 2. 1992 und vom 3. 6. 1992 bis 30. 11. 1992 war er als Verpacker bei einer Firma in Leverkusen beschäftigt. Vom 27. 10. 1993 bis 20. 12. 1994 war er in der JVA E. inhaftiert. Dort war er vom 20. 2. bis 20. 12. 1994 beitragspflichtig beschäftigt.

Nach seiner Haftentlassung meldete sich der Kl. am 27. 12. 1994 bei der Bekl. arbeitslos und beantragte die Bewilligung von Alg. In dem Antrag ist maschinenschriftlich die Anschrift „L. S.“ in „66 S.“ angegeben. Das Antragsfeld „falls in Untermiete, bei wem“ ist nicht ausgefüllt. Der Kl. wohnte bei einer Frau H. G. Ein eigener Briefkasten und ein eigenes Namensschild des Kl. waren bei der angegebenen Anschrift nicht vorhanden. Ein an ihn unter der Anschrift L. S. gerichtetes Schreiben der Bekl. kam am 30. 12. 1994 an die Bekl. mit dem Vermerk „unbekannt“ zurück. Die Bekl. lehnte die Bewilligung von Alg ab, weil der Kl. nicht erreichbar sei.

Nachdem der Kl. ein eigenes Namensschild und einen Briefkasten angebracht hatte, bewilligte die Bekl. dem Kl. Alg ab 6. 2. 1995 (Bescheid vom 17. 2. 1995). Für die Zeit zuvor hat der Kl. ab 29. 12. 1994 Sozialhilfe bezogen.

Der Kl. begehrte mit der Klage zum SG zunächst Alg für den Zeitraum vom 27. 12. 1994 bis 5. 2. 1995. Die Bekl. gab sodann ein „Teilanerkenntnis“ ab, weil am 23. 1. 1995 eine Arbeitsbescheinigung des Kl. bei ihr vorgelegen hatte, aus der die Anschrift des Kl. mit dem Zusatz „bei G.“ ersichtlich war.

Das SG verurteilte die Bekl., dem Kl. Alg für den Zeitraum vom 27. 12. 1994 bis 22. 1. 1995 zu gewähren. Das LSG hat die Berufung der Bekl. zurückgewiesen. Die Revision der Bekl. hatte Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Entgegen der Rechtsansicht des LSG war der Kl. nicht erreichbar, weil die Zustellung von Postsendungen unter der von ihm im Antrag auf Alg angegebenen Anschrift nicht gewährleistet war.

In der Revisionsinstanz fortwirkende Verfahrensverstöße, die - ob auf Rüge oder ohne eine solche - einer Sachentscheidung durch das Revisionsgericht entgegenstünden, liegen nicht vor. Insbesondere war die Berufung gegen das Urteil des SG gemäß §§ 143 , 144 I 1 Nr. 1 SGG statthaft; denn sie betraf einen Geldleistungsanspruch mit einem Beschwerdegegenstandswert von über 1.000,00 DM.

Nach § 103 I 1 Nr. 3 AFG steht der Arbeitsvermittlung zur Verfügung, wer das ArbA täglich aufsuchen kann und für das ArbA erreichbar ist. Die Voraussetzungen, unter denen ein Arbeitsloser im Sinne der genannten Vorschrift erreichbar ist, sind auf der Grundlage und im Rahmen des § 103 V AFG durch die Anordnung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit (BA) über den Aufenthalt von Arbeitslosen während des Leistungsbezugs (AufenthaltsAnO vom 3. 10. 1979 in der hier maßgeblichen Fassung vom 24. 3. 1993, ANBA 1993, 769) geregelt. Nach § 1 AufenthaltsAnO muss das ArbA den Arbeitslosen während der üblichen Zeit des Eingangs der Briefpost „unter der von ihm benannten, für die Zuständigkeit des ArbA maßgeblichen Anschrift erreichen können“. Nach der Rechtsprechung des Senats hierzu beinhaltet § 1 AufenthaltsAnO eine „Residenzpflicht“ derart, dass der Arbeitslose unter der im Leistungsantrag angegebenen Wohnanschrift täglich zumindest während der üblichen Zeit des Eingangs der Briefpost auch tatsächlich in der Wohnung angetroffen werden kann (grundlegend BSGE 66, 103 = SozR 4100 § 103 Nr. 47; Urteil des Senats vom 29. 4. 1992 - 7 RAr 4/91 - DBlR Nr. 3928a zu § 48 SGB X; Urteil des 11. Senats vom 24. 4. 1997 - 11 RAr 89/96 - DBlR Nr. 4460a zu § 48 SGB_X; vgl. kritisch zu dem Merkmal des üblichen Posteingangs BSG, SozR 3-4100 § 103 Nr. 16, S. 64).

Ungeachtet der vorgenannten Residenzpflicht ist Grundvoraussetzung der Erreichbarkeit, dass der Arbeitslose dem ArbA eine Anschrift mitgeteilt hat, durch die die postalische Erreichbarkeit sichergestellt ist. Unter einer Anschrift i.S. des § 1 AufenthaltsAnO ist nur eine solche zu verstehen, über die der Arbeitslose allein durch Inanspruchnahme des Postdienstes erreicht werden kann (BSG, SozR 3-4450 § 4 Nr. 1). Dies erfordert, dass der Arbeitslose gegenüber dem ArbA seinen Wohn- oder Aufenthaltsort so genau bezeichnet, dass Postsendungen dem Arbeitslosen unmittelbar, d.h. ohne Verzögerung durch Nachforschungen, ohne Einschaltung dritter Personen und ohne Abhängigkeit von Zufällen zugestellt werden können. Lebt ein Arbeitsloser mit anderen Personen in einer Wohnung oder sind in einem Wohnhaus mehrere Wohnungen, ggf. mit unterschiedlichen Eingängen oder Treppenhäusern vorhanden, so trifft ihn die aus dem Versicherungsverhältnis abzuleitende Obliegenheit (hierzu BSG, SozR 3-4100 § 119 Nr. 14), durch klarstellende Hinweise oder Zusätze zu der Anschrift dafür Sorge zu tragen, dass der Postbedienstete ohne weitere Nachfrage die Postzugangseinrichtung (Briefkasten, Briefschlitz in der Wohnungstür etc.) für diese Anschrift auffinden kann. So hätte der Kl. hier seine Anschrift dahin konkretisieren müssen, dass er „bei Frau G. wohnt“, um den Postzugang in deren Postzugangseinrichtung sicherzustellen.

Eines entsprechenden Zusatzes zu der Wohnanschrift hätte es nur dann nicht bedurft, wenn auf andere Weise sichergestellt gewesen wäre, dass Zustellungen der Post den Kl. unmittelbar erreichen können. Solche alternativen Maßnahmen zur Angabe einer genauen Anschrift sind etwa die Anbringung eines Namenschildes am Briefkasten des Wohnungsinhabers oder eines eigenen Briefkastens oder einer sonstigen Postzugangseinrichtung, die für jeden Postzusteller leicht erkennbar macht, in welche konkrete Postzugangseinrichtung die Post für den Arbeitslosen einzuwerfen ist. Ob entsprechende Maßnahmen im Einzelfall entbehrlich sein können, bedarf hier keiner Entscheidung. Es reicht jedenfalls nicht, wenn die Postzustellung von der bloßen Gefälligkeit Dritter abhängig ist oder Dritte zwecks Klärung der Postanschrift bemüht werden müssen (BSG, SozR 3-4450 § 4 Nr. 1). Im vorliegenden Fall war nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG eine unmittelbare Postzustellung im aufgezeigten Sinn an den Kl. nicht gewährleistet. Es fehlte mithin bereits an der postalischen Erreichbarkeit als erster Voraussetzung der Erreichbarkeit i.S. des § 103 I 1 Nr. 3 AFG.

Der Kl. hat zum einen bei Antragstellung nicht darauf hingewiesen, dass er bei Frau G. wohnt. Das Antragsformular der Bekl. sieht insoweit den Zusatz „falls in Untermiete, bei wem“ vor. Der Kl. hat aber auch nicht auf andere Weise - etwa durch Anbringung eines Namensschildes an dem Briefkasten der Frau G. - dafür Sorge getragen, dass ihn die Briefpost unter der von ihm angegebenen Anschrift tatsächlich erreichen konnte. Dass bereits der erste Brief der Bekl., der kurz nach der Arbeitslosenmeldung am 30. 12. 1994 mit dem Vermerk „unbekannt“ zurückkam, nicht zustellbar war, zeigt, dass eine unmittelbare Postzustellung ohne Briefkasten oder Namensschild, die auf den Kl. als in der L. S. wohnhaft hinwiesen, nicht gewährleistet war. Die Obliegenheit, durch Anbringen von Namensschildern auf dem Briefkasten oder an der Haustür für postalische Erreichbarkeit zu sorgen, wenn nicht schon zuvor die Zustellung durch Zusätze zur angegebenen Anschrift sichergestellt wurde, liegt so unmittelbar auf der Hand, dass auch evtl. Sprachschwierigkeiten des Kl. oder Missverständnisse bei Ausfüllung des Antragsformulars, hier nicht zu seinen Gunsten berücksichtigt werden können.

Die vorstehende Auslegung wird durch die weitere Rechtsentwicklung bestätigt. Nach § 119 III Nr. 3 SGB III i.d.F. des Ersten Gesetzes zur Änderung des Dritten Buchs Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (1. SGB III-ÄndG vom 16. 12 1997, BGBl. I 2970) setzt Verfügbarkeit u.a. voraus, dass der Arbeitslose Vorschlägen des ArbA zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten kann und darf. Die BA hat hierzu auf Grund der Ermächtigung des § 152 Nr. 2 SGB III die Erreichbarkeitsanordnung (EAO) vom 23. 10. 1997 (ANBA 1997, 1685) erlassen. Unabhängig von der Frage, inwieweit die bisherige Rechtsprechung des BSG zur tatsächlichen Erreichbarkeit (Residenzpflicht) des Arbeitslosen unter Geltung der EAO weiterhin aufrechterhalten werden kann (hierzu Benkel, NZS 1998, 364 und Valgolio, NZS 2000, 23), normiert § 1 I 2 EAO nunmehr - noch deutlicher als § 1 AufenthaltsAnO - die Grund-Verpflichtung des Arbeitslosen zur Sicherstellung der postalischen Erreichbarkeit. Der Arbeitslose hat nach dieser Vorschrift „sicherzustellen, dass ihn das ArbA persönlich an jedem Werktag an seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt unter der von ihm benannten Anschrift (Wohnung) durch Briefpost erreichen kann“. Hieraus wird auch in der Literatur einhellig die Folgerung gezogen, dass der Arbeitslose ggf. auch dafür Sorge zu tragen habe, dass ein ordnungsgemäßer Briefkasten oder eine sonstige Postzugangseinrichtung vorhanden ist (Brand, in: Niesel, SGB III, Rdn. 41 zu § 119; Gagel/Steinmeyer, SGB III, Rdn. 151 zu § 119; Wissing, in: Wissing/Eicher, SGB III, Rdn. 140 zu § 119; ders., SGb 1999, 10, 14).

Vorinstanzen

LSG Saarland, L 6/1 Ar 79/96, 19.11.1998

Rechtsgebiete

Sozialrecht

Normen

AFG § 103 I 1 Nr. 3 (Fassung: 18. 12. 1992); SGB III § 119 III Nr. 3; AufenthAnO § 1 (Fassung: 24. 3. 1993); ErreichbAnO § 1 (Fassung: 23. 10. 1997)