Aufklärung bei Routineimpfung
Gericht
BGH
Art der Entscheidung
Revisionsurteil
Datum
15. 02. 2000
Aktenzeichen
VI ZR 48/99
Hat sich gerade das Risiko verwirklicht, über das aufgeklärt werden musste und tatsächlich aufgeklärt worden ist, so spielt es regelmäßig keine Rolle, ob bei der Aufklärung auch andere Risiken der Erwähnung bedurften. Vielmehr kann aus dem Eingriff keine Haftung hergeleitet werden, wenn der Patient in Kenntnis des verwirklichten Risikos seine Einwilligung erteilt hat.
Das Erfordernis eines Aufklärungsgesprächs gebietet bei einer Routineimpfung nicht in jedem Fall eine mündliche Erläuterung der Risiken. Es kann vielmehr genügen, wenn dem Patienten nach schriftlicher Aufklärung Gelegenheit zu weiteren Informationen durch ein Gespräch mit dem Arzt gegeben wird.
Auszüge aus dem Sachverhalt:
Die am 8. 2. 1994 in der 34. Schwangerschaftswoche geborene Kl. verlangt von der bekl. Kinderärztin Schadensersatz wegen eines Impfschadens. Am 17. 3. 1994 wurde die Kl. von ihrer Mutter erstmals bei der Bekl. zur Kindervorsorgeuntersuchung U 3 vorgestellt. Weitere Vorstellungen durch die Muter schlossen sich am 18. 3. und 5. 4. 1994 an. Als die Kl. am 11. 5. 1994 zur Vorsorgeuntersuchung U 4 erneut bei der Bek. vorgestellt wurde, verabreichte ihr diese mit Zustimmung der Mutter eine Grundimmunisierung gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis und Haemophilus Typ B sowie im Wege der Schluckimpfung mit einem dreifach-lebend Impfstoffpräparat gegen Kinderlähmung (Poliomyelitis). Zuvor war der Mutter der Kl. von der Sprechstundenhilfe der Bekl. ein Merkblatt der regionalen Kinderärzte zu den Impfungen ausgehändigt worden, von dem sie im Wartezimmer Kenntnis nahm und das sie anschließend wieder zurückgab, ohne es unterzeichnet zu haben. Als Nebenwirkungen der Impfung gegen Kinderlähmung war in dem Merkblatt unter anderem aufgeführt: „Selten treten fieberhafte Reaktionen auf, extrem selten Lähmungen (1 Fall auf 5 Millionen Impfungen)“. Beim Eintritt in das Behandlungszimmer war sie dann von der Bekl. befragt worden, ob sie das Merkblatt gelesen habe, was sie bejahte. Nach Untersuchung der Kl. hatte die Bekl. anschließend erklärt, wenn die Mutter es wolle, könne man jetzt impfen. Am 13. 6. 1994 kam die Mutter mit dem Kind wegen eines Hautausschlags erneut zur Bekl. Bei diesem Anlass wurde die zweite Impfung gegen Poliomyelitis vorgenommen. Am 18. 6. 1994 wurden bei der Kl. Fieber und am 25. 6. eine Schonhaltung des linken Beines festgestellt. Die danach vorgenommenen Untersuchungen ergaben, dass die Kl. an Kinderlähmung erkrankt war. Das Versorgungsamt F. hat einen Impfschadensfall mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 80% festgestellt und eine Impfschadensrente bewilligt. Die Kl. hat der Bekl. fehlerhafte Behandlung und unzureichende Aufklärung mit der Folge einer fehlenden wirksamen Einwilligung in die Impfung vorgeworfen; auch habe die notwendige Einwilligung ihres Vaters gefehlt. Sie hat die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes von mindestens 100000 DM sowie die Feststellung der Ersatzpflicht der Bekl. für alle Folgeschäden aus den Polioimpfungen begehrt.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Das OLG hat ihr unter Zubilligung eines Schmerzensgeldes von 80000 DM im Wesentlichen stattgegeben.
Die Revision der Bekl. hatte Erfolg.
Auszüge aus den Gründen:
I. Das BerGer. hält - dem LG folgend - einen Behandlungsfehler der Bekl. nicht für nachgewiesen. Es meint jedoch, die Klage sei deshalb überwiegend begründet, weil die Mutter der Kl. mangels hinreichender Aufklärung durch die Bekl. noch wirksam in die Impfungen eingewilligt habe. Zwar sei das der Mutter am 11. 5. 1994 überlassene Merkblatt in Bezug auf die Polioimpfung inhaltlich als ausreichende Aufklärung anzusehen. Jedoch sei die Aufklärung nicht rechtzeitig erfolgt.
Hierzu hat das BerGer. ausgeführt, dass die Mutter der Kl. mit der Frage der Impfung ernsthaft erstmals am 11. 5. 1994 konfrontiert worden sei. Weder sei ihr bei Übergabe des Merkblattes noch danach von der Bekl. deutlich gemacht worden, dass sie nunmehr eine eigenständige Entscheidung darüber treffen müsse, ob sie die Impfung durchführen lassen wolle oder nicht. Das habe sich auch aus dem Merkblatt nicht hinreichend deutlich ergeben. Dieses habe eine Vielzahl von Informationen über vier verschiedene Impfungen enthalten. Es habe die Gefahr bestanden, dass beim ersten Durchlesen die Einzelheiten nicht vollständig erfasst und am Ende der Lektüre der am Anfang stehende Text schon wieder vergessen gewesen sei oder zumindest nicht mehr klar vor Augen gestanden habe. Zudem sei die Mutter bei Durchlesen des Blattes im Wartezimmer durch den Säugling auf ihrem Arm abgelenkt worden, so dass die Möglichkeit bestehe, dass ihr zur reiflichen Überlegung vor Erteilung der Einwilligung nicht genügend Zeit geblieben sei. Eine ordnungsgemäße, rechtzeitige Aufklärung wäre ohne weiteres in der Weise möglich gewesen, dass der Mutter das Merkblatt entweder schon bei der Untersuchung U 3 oder bei einem der weiteren Besuche übergeben und ihr belassen worden wäre, um es zu Hause in Ruhe zu lesen, oder aber bei der Untersuchung U 4 einen gesonderten Termin zu vereinbaren, da die erste Impfung gerade zu diesem Termin keineswegs zwingend gewesen sei.
II. Diese Ausführungen halten im Ergebnis der rechtlichen Prüfung nicht stand. Der Kl. steht ein Schadensersatzanspruch gegen die Bekl. wegen rechtswidriger Verletzung ihrer Gesundheit nicht zu. Die Revision rügt zu Recht, dass die Annahme des BerGer., die Mutter der Kl. habe mangels hinreichender Aufklärung durch die Bekl. nicht wirksam in die Impfung eingewilligt, auf zu strengen Anforderungen beruht.
1. Zutreffend hat das BerGer. allerdings ausgeführt, an einer wirksamen Einwilligung fehle es nicht schon deshalb, weil der Vater der Kl. der Impfung nicht zugestimmt habe. Zwar bedarf es in Fällen, in denen wie hier die elterliche Sorge beiden Eltern gemeinsam zusteht (§§ 1626 ff. BGB), zu einem ärztlichen Heileingriff, zu dem auch eine Vorsorgeimpfung gehört, die Einwilligung beider Elternteile. Doch wird man im Allgemeinen davon ausgehen können, das der mit dem Kind beim Arzt erscheinende Elternteil ermächtigt ist, die Einwilligung in die ärztliche Behandlung für den abwesenden Elternteil mit zu erteilen, worauf der Arzt in Grenzen vertrauen darf, solange ihm keine entgegenstehenden Umstände bekannt sind. Dies gilt, wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 28. 6. 1988 (BGHZ 105, 45 = NJW 1988, 2946 = LM § 276 [Ca] BGB Nr. 37) ausgeführt hat und woran er festhält, jedenfalls in Routinefällen, zu denen auch die Routineimpfung gehört.
Bei der im ersten Halbjahr 1994 durchgeführten Schluckimpfung gegen Kinderlähmung mit lebenden abgeschwächten Polioerregern handelte es sich, wie das BerGer. rechtsfehlerfrei ausgeführt hat, um eine Routineimpfung. Sie war von der Ständigen Impfkommission des Bundesgesundheitsamtes (STIKO) seit langem empfohlen (vgl. BGesundhbl 1991, 384, und BGesundhbl 1994, 85) und wurde auch in Baden-Württemberg von der zuständigen Gesundheitsbehörde gem. § 14 III BSeuchG insbesondere 1994 öffentlich empfohlen (GABl BW 1994, 286). Sie wurde seit Einführung des oralen Polioimpfstoffs 1962 millionenfach durchgeführt. Die Frage der Vornahme solcher Impfungen stellte sich jedem Sorgeberechtigten in den ersten Lebensmonaten eines Kindes (vgl. STIKO-Empfehlung 1991, S. 384), und zwar üblicherweise anlässlich der routinemäßigen Vorsorgeuntersuchungen der Säuglinge und Kleinkinder, was allgemein bekannt war. Bei einer derart empfohlenen Impfung, die eine Vielzahl von Eltern an ihren Kindern vornehmen ließen, durfte die Bekl. daher mangels gegenteiliger konkreter Anhaltspunkte darauf vertrauen, dass die Mutter der Kl. sich mit der Ermächtigung des Vaters für die Impfung entschied, zumal - wie das BerGer. zutreffend bemerkt - die Mutter auch zuvor stets allein mit der Kl. in der Praxis erschienen war.
2. Das BerGer. geht ferner mit Recht davon aus, dass die von der Mutter der Kl. erteilte Einwilligung in die Impfung nur wirksam war, wenn sie zuvor über die damit verbundenen Risiken aufgeklärt worden war. Einer solchen Risikoaufklärung bedarf es auch bei einer freiwilligen Impfung, und zwar selbst dann, wenn diese öffentlich empfohlen ist (BGHZ 126, 286 = NJW 1994, 3012 = LM H. 1/1995 § 839 [Ca] BGB Nr. 96; BGH, NJW 1990, 2311 = LM § 839 [A] BGB Nr. 51 = VersR 1990, 737 zu 3.; vgl. auch BGH, VersR 1959, 355). Die Notwendigkeit zur Aufklärung über die Gefahr, dass der Impfling auf Grund der Impfung mit lebenden Polioviren an einer spinalen Kinderlähmung erkrankt, entfiel entgegen der Auffassung der Revision nicht deshalb, weil es sich dabei um eine äußerst seltene Folge der Impfung handelt. Das BerGer. hat unter Hinweis auf C. Braemer (in: Arznei-Telegramm 6/1997, S. 57 m.w. Nachw.) eine Schadenshäufigkeit von 1 : 4,4 Millionen zu Grunde gelegt. In dem von der Bekl. der Mutter der Kl. ausgehändigten Merkblatt ist das Risiko mit 1 : 5 Millionen angegeben. Soweit die Revisionserwiderung demgegenüber geltend macht, diese Werte seien unzutreffend, bei Erstimpfungen steige das Risiko nämlich auf 1 : 750000 Impfdosen, bedurfte es einer näheren Klärung der Schadenshäufigkeit nicht, da statistischen Risikowerten nur ein vergleichsweise geringer Wert zukommt (BGHZ 126, 386 [389] = NJW 1994, 3012 = LM H. 1/1995 § 839 [Ca] BGB Nr. 96; Senat, NJW 1980, 1905 = LM § 823 [Aa] BGB Nr. 50 = VersR 1981, 456 [457]). Entscheidend für die ärztliche Hinweispflicht ist nicht ein bestimmter Grad der Risikodichte, insbesondere nicht eine bestimmte Statistik. Maßgebend ist vielmehr, ob das betreffende Risiko dem Eingriff spezifisch anhaftet und es bei seiner Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belastet (BGHZ 126, 386 [389] = NJW 1994, 3012 = LM H. 1/1995 § 839 [Ca] BGB Nr. 96; Senat, NJW 1996, 779 = LM H. 3/1996 § 823 [J] BGB Nr. 43 = VersR 1996, 330 [331]). Der Senat hält daher daran fest, dass grundsätzlich auch über derartige äußerst seltene Risiken aufzuklären ist. Das gilt entgegen der Auffassung der Revision und entsprechender Äußerungen im Schrifttum (Deutsch, VersR 1998, 1053 [1057]) auch für öffentlich empfohlene Impfungen, bei denen die Grundimmunisierung der Gesamtbevölkerung zur Verhinderung einer epidemischen Verbreitung der Krankheit im öffentlichen Interesse liegt. In Fällen öffentlicher Impfempfehlung hat zwar durch die Gesundheitsbehörden eine Abwägung zwischen den Risiken der Impfung für den Einzelnen und seine Umgebung auf der einen und den der Allgemeinheit und dem Einzelnen drohenden Gefahren im Falle der Nichtimpfung auf der anderen Seite bereits stattgefunden. Das ändert aber nichts daran, dass die Impfung gleichwohl freiwillig ist und sich der einzelne Impfling daher auch dagegen entscheiden kann. Dieser muss sich daher nicht nur über die Freiwilligkeit der Impfung im Klaren sein (vgl. BGH, VersR 1959, 355), was hier in Bezug auf die Mutter der Kl. nicht in Zweifel gezogen wird. Er muss auch eine Entscheidung darüber treffen, ob er die mit der Impfung verbundenen Gefahren auf sich nehmen soll oder nicht. Das setzt die Kenntnis dieser Gefahren, auch wenn sie sich nur äußerst selten verwirklichen, voraus; diese muss ihm daher durch ärztliche Aufklärung vermittelt werden.
3. Der Senat tritt dem BerGer. auch darin bei, dass die schriftlichen Hinweise zur Impfung gegen Kinderlähmung in dem Merkblatt, das der Mutter der Kl. ausgehändigt wurde, inhaltlich nicht zu beanstanden sind.
a)Das Merkblatt enthält in Bezug auf die Poliomyelitis folgende Belehrung: Kinderlähmung ist eine Viruserkrankung, die zu bleibenden Lähmungen und sogar zum Tode führen kann. Eine ursächliche Behandlung gibt es nicht. Vor Einführung der Impfung gab es jährlich Tausende von Erkrankungen und Hunderte von Todesfällen. Die Impfung wird als Schluckimpfung mit abgeschwächten, lebenden Viren in der Regel dreimal in den ersten beiden Lebensjahren durchgeführt. Eine Auffrischungsimpfung sollte nach zehn Jahren erfolgen. Nebenwirkungen: Die Impfung wird normalerweise komplikationslos vertragen. Öfters werden als normale Reaktion breiige Stühle beobachtet, selten treten fieberhafte Reaktionen auf, extrem selten Lähmungen (1 Fall auf 5 Millionen Impfungen).
b) Der darin enthaltene Hinweis auf die Gefahr des Auftretens von Lähmungen war ausreichend.
aa) Er umfasste zunächst das Risiko einer durch die Verabreichung von Lebendviren verursachten Kinderlähmung (sog. Impf-Poliomyelitis). Zu Unrecht bemängelt die Revisionserwiderung den unterlassenen Hinweis darauf, dass Lähmungen, insbesondere eine schlaffe Lähmung der Beine auch durch das so genannte Guillain-Barré-Syndrom auftreten könnten, bei dem es sich ebenfalls um eine gefürchtete Folge der Impfung mit lebenden Polioviren handele. Nach der Rechtsprechung des Senats braucht der Patient nur „im Großen und Ganzen“ über Chancen und Risiken der Behandlung aufgeklärt zu werden. Nicht erforderlich ist die exakte medizinische Beschreibung der in Betracht kommenden Risiken (BGHZ 90, 103 [106] = NJW 1990, 103 = LM § 823 [Eh] BGB Nr. 48; Senat, NJW 1991, 2346 = LM H. 2/1992 § 823 [Aa] BGB Nr. 129 = VersR 1991, 777; NJW 1992, 754 = LM H. 4/1992 § 286 [G] ZPO Nr. 4 = VersR 1992, 238 [240]). Der Hinweis auf Lähmungen umfasste daher auch solche auf Grund des Guillain-Barré-Syndroms, so dass eine gesonderte Aufklärung hierüber nicht geboten war.
Soweit die Revisionserwiderung zusätzliche Risiken anspricht (Meningo-Encephalitis, Krampfanfälle etc., vgl. OLG Stuttgart, MedR 2000, 35), über die nicht aufgeklärt worden sei, rechtfertigt dies keine andere Beurteilung. Hat sich nämlich wie im Streitfall gerade dasjenige Risiko verwirklicht, über das aufgeklärt werden musste und tatsächlich auch aufgeklärt worden ist, so spielt es regelmäßig keine Rolle, ob bei der Aufklärung auch andere Risiken der Erwähnung bedurften. Vielmehr hat der Patient in Kenntnis des verwirklichten Risikos seine Einwilligung gegeben, so dass von daher aus dem Eingriff keine Haftung hergeleitet werden kann. Überlegungen dazu, ob er die Zustimmung bei Hinweis auf ein anderes Risiko möglicherweise versagt hätte, sind notwendigerweise spekulativ und können deshalb nicht Grundlage für einen Schadensersatzanspruch sein.
bb) Der Senat vermag der Revisionserwiderung auch nicht darin zu folgen, dass die Belehrung in dem Merkblatt das Risiko der Erkrankung an Kinderlähmung, vor dem die Impfung schützen soll, in unzutreffender Weise dramatisiert habe, weil der Eindruck erweckt werde, die Impfung mit lebenden Viren sei erforderlich, um eine Erkrankung an Poliomyelitis, unter Umständen mit tödlicher Folge, zu vermeiden. Es ist zwar richtig, dass in dem Merkblatt nur von der Vielzahl von Erkrankungen und Todesfällen vor Einführung der Schluckimpfung die Rede ist, von dem inzwischen eingetretenen Rückgang der Erkrankungsgefahr infolge der jahrzehntelangen Impfpraxis dagegen nichts erwähnt wird. Doch ist der Mutter der Kl. deswegen keine unrichtige Vorstellung von der Schaden-Nutzen-Relation vermittelt worden.
Der Grund für die Einführung der Schluckimpfung mit Lebendviren im Jahre 1962 bestand darin, dass die übertragbare Kinderlähmung in zunehmendem Maße die Gesundheit der Bevölkerung in der Bundesrepublik bedrohte und ein ausreichender Schutz dagegen durch die bis dahin übliche Impfung mit einem injizierten Impfstoff, der nur nicht vermehrungsfähige, inaktivierte Polioviren (IPV) enthielt, nicht erreicht werden konnte (Begr. des Regierungsentwurfs zur Änderung des BSeuchG 1963, BT-Dr IV/3097, S. 3). Das änderte sich, als ein Impfstoff zur Verfügung stand, der aus lebenden, abgeschwächten Polioerregern bestand und oral zu sich genommen werden konnte (orale Polio-Vakzine [OPV]). Die in der Folgezeit durchgeführten Schluckimpfungen führten nach den Feststellungen des BerGer. in Deutschland dazu, dass die autochthone Poliomyelitis, das heißt die durch Wildviren verursachte Kinderlähmung, erheblich zurückging. Seit 1986 wird Deutschland als poliofrei angesehen (Koch/Thilo, DtÄrzteBl 1998, B-324). Daraus erwuchs die Erkenntnis, dass das Risiko, an einer durch Impfung mit Lebendviren ausgelösten Kinderlähmung zu erkranken, höher war als das einer Infektion durch Wildviren, die wenigen in Deutschland festgestellten Polioerkrankungen also ausschließlich durch Impfung mit Lebendviren herbeigeführt worden waren. Die STIKO änderte deshalb 1998 ihre Impfempfehlung: Sie empfahl - wegen des Risikos einer „vakzineassoziierten paralytischen“ Poliomyelitis - nicht mehr wie bisher den Polio-Lebendimpfstoff (OPV), sondern nur einen „zu injizierenden Impfstoff, inaktivierte Polio-Vakzine (IPV), mit gleicher Wirksamkeit“ (BGesundhbl 1998, 312 [319]).
Diese Gegebenheiten lassen jedoch entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung nicht den Schluss zu, der Mutter der Kl. sei über den Nutzen und die Gefahrträchtigkeit der Schluckimpfung für sich selbst und für die Allgemeinheit ein unzutreffender Eindruck vermittelt worden. Aus dem Hinweis auf die Häufigkeit von Erkrankungen vor Einführung der Impfung folgt für den Leser keineswegs, dass die Gefahr in unvermindertem Ausmaß fortbesteht, seitdem die Bevölkerung überwiegend gegen Poliomyelitis geimpft wird. Das Gegenteil liegt vielmehr nahe.
Überdies ist zu beachten, dass die Empfehlungen der STIKO nach den Feststellungen des sachverständig beratenen BerGer. medizinischer Standard sind. Da die STIKO daher auch im hier maßgeblichen Zeitraum Anfang 1994 die Impfung ab dem dritten Lebensmonat unter Anwendung des oralen Polio-Impfstoffs empfahl (BGesundhbl 1994, 85), und die zuständigen Gesundheitsbehörden der Länder dem folgend diese Impfmethode gem. § 14 III BSeuchenG öffentlich empfahlen, war dies für den jeweiligen Kinderarzt maßgebend. Für ihn bedeuteten derartige Empfehlungen, dass das Verhältnis zwischen Nutzen und Schadensrisiko für den Impfling von diesen Gremien bereits abgewogen war, mögen dabei auch epidemiologische Gesichtspunkte eine Rolle gespielt haben, die freilich auch für den einzelnen Impfling nicht ohne Bedeutung sind. Dementsprechend durfte auch die Bekl. mangels gegenteiliger Erkenntnis von einem überwiegenden Nutzen der Schluckimpfung im Vergleich zum Risiko einer Erkrankung ausgehen.
c) Die Aufklärung in dem Merkblatt war auch nicht deshalb unzureichend, weil darin nicht auf die Möglichkeit einer Impfung mit einem anderen Impfstoff als mit lebenden Polioerregern, bei dem die Gefahr einer Impf-Poliomyelitis nicht besteht, hingewiesen wurde.
aa) Es bestand zwar, wie bereits ausgeführt, seit langem die Möglichkeit, die Impfung gegen Kinderlähmung auch mit einem aus abgetöteten Polioerregern bestehenden Impfstoff (IPV) vorzunehmen, der medizinisch anerkannt und nach der STIKO-Empfehlung 1998 von „gleicher Wirksamkeit“ war. Doch hielt die STIKO, wie aus der Impfempfehlung 1994 hervorgeht, den inaktivierten an Stelle von oralem Polioimpfstoff nur bei Personen mit Immundefizienz (angeborenen oder infolge immunsuppressiver Therapie oder HIV-Infektionen u.a.) für indiziert (S. 85). In den STIKO-Empfehlungen 1991 war die IPV-Impfung dagegen überhaupt noch nicht als in Betracht kommend erwähnt worden; sie tauchte nur bei den sich anschließenden Hinweisen des Bundesgesundheitsamtes auf (BGesundhbl 1991, 384 [387f.]). Im Normalfall entsprach somit im Jahre 1994 die Impfung mit OPV dem medizinischen Standard. Die Bekl. brauchte daher die Mutter der Kl. auch nicht auf die Möglichkeit einer Impfung mit IPV hinzuweisen.
bb) Allerdings muss der Arzt den Patienten nach der Rechtsprechung des Senats dann auf die Möglichkeit einer anderen Behandlung hinweisen, wenn ernsthafte Stimmen in der medizinischen Wissenschaft gewichtige Bedenken gegen eine zum Standard gehörende Behandlung und die damit verbundenen Gefahren äußern (Senat, NJW 1978, 587 = LM § 823 [Aa] BGB Nr. 37 = VersR 1978, 41 [42]; NJW 1996, 776 = LM H. 3/1996 § 823 [Db] BGB Nr. 25 = VersR 1996, 233). Diese Grundsätze hätten entsprechend auch dann zu gelten, wenn wegen veränderter Impfsituation Zweifel an der Notwendigkeit der Schluckimpfung mit lebenden Viren aufgekommen wären und die Auffassung vertreten worden wäre, dass der Impfzweck unter Vermeidung der mit der bisherigen Impfmethode verbundenen Gefahren auch durch eine Impfung mit abgetöten Polioerregern ereicht werden könnte. Eine dahingehende Aufklärung konnte von der Bekl. hier jedoch nicht erwartet werden, denn das BerGer. hat unangegriffen festgestellt, dass die Diskussion um die Zweckmäßigkeit von Polioimpfungen mit Lebendviren, die 1998 schließlich zu einer Änderung der Impfempfehlung von Seiten der STIKO führte, erst nach 1994 eingesetzt habe.
d) Mit Recht macht die Revisionserwiderung allerdings geltend, dass die Bekl. nach dem bereits mehrfach erwähnten Urteil des BGH in BGHZ 126, 386 = NJW 1994, 3012 = LM H. 1/1995 § 839 [Ca] BGB Nr. 96, auf die Gefahr der Ansteckung von Kontaktpersonen der mit Lebendviren geimpften Kl. hätte hinweisen müssen, was hier nicht geschehen ist. Dieses Versäumnis hat jedoch nicht zur Folge, dass die von der Mutter der Kl. erklärte Einwilligung in die Impfung unwirksam war. Die Belehrung über die für Kontaktpersonen bestehende Ansteckungsgefahr ist Bestandteil der dem Patienten geschuldeten therapeutischen Aufklärung. Ihre Unterlassung stellt daher einen Behandlungsfehler dar, der Schadensersatzansprüche von Seiten geschädigter Dritter auslösen kann (BGHZ 126, 386 [288] = NW 1994, 3012 = LM H. 1/1995 § 839 [Ca] BGB Nr. 96). Um solche Ansprüche geht es im vorliegenden Fall jedoch nicht.
4. Durchgreifenden Bedenken begegnet hingegen die Auffassung des BerGer., die Aufklärung könne im Hinblick auf die Art und Weise, wie sie hier vorgenommen worden sei, nicht als rechtzeitig angesehen werden.
a) Das BerGer. stellt, was die Revision nicht angreift, fest, dass die Mutter der Kl. erstmals bei der Vorsorgeuntersuchung U 4 am 11. 5. 1994 mit der Frage der Impfung konfrontiert worden sei. Die Aufklärung unmittelbar vor der Impfung durch Aushändigung des Merkblatts, das die Mutter - wie das BerGer. ebenfalls unangegriffen feststellt - im Wartezimmer las, hält das BerGer. nicht für rechtzeitig, zumal die Mutter durch den Säugling auf dem Arm abgelenkt gewesen sei und daher die Möglichkeit bestehe, dass ihr zu einer reiflichen Überlegung nicht genügend Zeit geblieben sei. Nach Auffassung des BerGer. wäre es für eine ordnungsgemäße, rechtzeitige Aufklärung geboten gewesen, der Mutter das Merkblatt schon bei der Untersuchung U 3 im März 1994 oder bei einem der weiteren Besuche zu übergeben und es ihr zu belassen, um es zu Hause in Ruhe zu lesen, oder aber bei der Untersuchung U 4 einen gesonderten Termin für die erste Impfung zu vereinbaren.
b) Damit überspannt das BerGer., wie die Revision zu Recht rügt, die Anforderungen an eine rechtzeitige Aufklärung bei einer Routineimpfung. Nach gefestigter Rechtsprechung reicht bei ambulanten Eingriffen grundsätzlich eine Aufklärung am Tage des Eingriffs aus (Senat, NJW 1994, 3009 = LM H. 1/1995 § 823 [Aa] BGB Nr. 157 = VersR 1994, 1235 [1236]; NJW 1995, 2410 = LM H. 10/1995 § 823 [Aa] BGB Nr. 163 = VersR 1995, 1055 [1057]; NJW 1996, 777 = LM H. 3/1996 § 823 [Ac] BGB Nr. 60 = VersR 1996, 195 [197]). Das gilt nur dann nicht, wenn die Aufklärung erst so unmittelbar vor dem Eingriff erfolgt, dass der Patient unter dem Eindruck steht, sich nicht mehr aus einem bereits in Gang gesetzten Geschehensablauf lösen zu können (z.B. Aufklärung unmittelbar vor der Tür zum Operationssaal).
Die hier vorgenommene Mehrfachimpfung erforderte keine Aufklärung zu einem früheren, von der Impfung abgesonderten Zeitpunkt. Insbesondere kann nicht, wie es das BerGer. für geboten hält, verlangt werden, das Merkblatt der Mutter mit nach Hause zu geben, damit sie es dort in Ruhe lesen und bedenken konnte, und die Impfung alsdann in einem gesonderten Termin durchzuführen. Dadurch werden an den Arzt überzogene Anforderungen gestellt.
Die Schluckimpfung stellte, auch wenn sie nicht völlig risikolos war, die Eltern nicht vor schwierige Entscheidungen, die erst einer gründlichen Abwägung und reiflichen Überlegung bedurft hätten. Es handelte sich, wie bemerkt, um eine Routineimpfung, bei der den Eltern der Entscheidungskonflikt auf Grund der von den Gesundheitsbehörden vorgenommenen Abwägung des Für und Wider und der von ihnen ausgesprochenen Impfempfehlung weitgehend abgenommen war. Die Notwendigkeit der Impfung war in der Bevölkerung seit langem allgemein anerkannt und wurde von den Eltern bei ihren Kindern zu Vermeidung der gefürchteten Kinderlähmung allseits veranlasst. Bei dieser Sachlage konnte die Bekl. davon ausgehen, dass auch die Mutter der Kl. mit der Impfung vertraut und über die allseits akzeptierte Notwendigkeit im Bilde war. Sollte der Sorgeberechtigte in einem solchen Fall ausnahmsweise eine Bedenkzeit wünschen, so kann von ihm erwartet werden, dass er dies gegenüber dem Arzt zum Ausdruck bringt und eine sofortige Impfung ablehnt.
c) Die der Mutter der Kl. zuteil gewordene Aufklärung war auch nicht deshalb unzureichend, weil die Bekl. sie nicht in einem persönlichen Gespräch über die Impfung und deren Risiko aufgeklärt hat. Nach der Rechtsprechung des Senats bedarf es allerdings zum Zwecke der Aufklärung des „vertrauensvollen Gesprächs zwischen Arzt und Patienten“ (NJW 1985, 1399 = LM § 286 [B] ZPO Nr. 60 = VersR 1985, 361 [362]). Das schließt jedoch keineswegs die Verwendung von Merkblättern aus, in denen die notwendigen Informationen zu dem Eingriff einschließlich seiner Risiken schriftlich festgehalten sind. Derartige schriftliche Hinweise sind heute weitgehend üblich und haben den Vorteil einer präzisen und umfassenden Beschreibung des Aufklärungsgegenstands sowie der für den Arzt wesentlichen Beweisbarkeit. Sie sind insbesondere bei Routinebehandlungen, also auch bei öffentlich empfohlenen Schutzimpfungen am Platze.
Freilich vermögen solche Merkblätter nicht das erforderliche Arztgespräch zu ersetzen (Senat, NJW 1985, 1399), in dem sich der Arzt davon überzeugen muss, ob der Patient die schriftlichen Hinweise gelesen und verstanden hat, und das ihm die Möglichkeit gibt, auf die individuellen Belange des Patienten einzugehen und eventuelle Fragen zu beantworten. Doch gebietet dieses Erfordernis eines Aufklärungsgesprächs, an dem grundsätzlich festzuhalten ist, nicht in jedem Fall eine mündliche Erläuterung der Risiken. Unter Umständen, wie sie beim vorliegenden Sachverhalt im Hinblick auf den Routinecharakter der öffentlich empfohlenen Impfung gegeben sind, kann der Arzt ausnahmsweise davon ausgehen, dass der Patient auf eine zusätzliche gesprächsweise Risikodarstellung keinen Wert legt. Bei derartigen Routinemaßnahmen kann es genügen, wenn dem Patienten nach schriftlicher Aufklärung Gelegenheit zu weiteren Informationen durch ein Gespräch mit dem Arzt gegeben wird. Das entspricht auch den Empfehlungen der STIKO von 1998 zur Aufklärungspflicht vor Schutzimpfungen (BGesundhbl 1998, 312). Ob die Impfung in öffentlichen Impfterminen oder wie hier als Einzelimpfung vorgenommen wird, ist dabei nicht von maßgeblicher Bedeutung. Gelegenheit zu einem Gespräch ist der Mutter der Kl. im vorliegenden Fall gegeben worden. Nach den Feststellungen des BerGer. fragte die Bekl. sie beim Eintritt in das Behandlungszimmer, ob sie das Merkblatt gelesen habe, was sie bejahte. Im Anschluss an die Untersuchung des Säuglings erklärte die Bekl., man könne jetzt impfen, wenn die Mutter es wolle. Damit war der Kl. in ausreichender Weise Gelegenheit gegeben, weitere Fragen zu der bevorstehenden Impfung zu stellen, wenn sie dies gewollt hätte. Bei einer Routineimpfung wie hier durfte die Bekl. bei dem Hinweis, man könne jetzt die Impfung vornehmen, erwarten, dass die Mutter einen etwaigen Wunsch nach weiterer Aufklärung zu erkennen gibt. Ungekehrt durfte sie aus dem Schweigen entnehmen, dass ein derartiges Bedürfnis nicht bestand. Ebenso konnte sie erwarten, dass die Mutter spätestens bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen würde, dass sie bei der Lektüre des Merkblattes durch den Säugling auf ihrem Arm, wie das BerGer. verfahrensfehlerfrei feststellt, abgelenkt war.
War danach die Art und Weise der Aufklärung bei der ersten Impfung am 11. 5. 1994 unter den hier gegebenen Umständen nicht zu beanstanden, kommt es auf die Rüge der Revision, jedenfalls habe die Mutter bis zur zweiten Impfung am 13. 6. 1994, die für den Impfschaden ursächlich war, ausreichend Zeit für eine freie Entscheidung gehabt, nicht mehr an. Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung bedurfte es vor der zweiten Impfung auch keiner erneuten Aufklärung darüber, dass der von der STIKO empfohlene Abstand zwischen den beiden Impfungen nicht eingehalten war, denn das sachverständig beratene BerGer. hat - dem landgerichtlichen Urteil folgend - verfahrensfehlerfrei festgestellt, dass diese Abweichung unbedeutend war.
III. Nach alledem ist das angefochtene Urteil auf die Revision der Bekl. aufzuheben und - da weitere Feststellungen nicht mehr in Betracht kommen - das klageabweisende Urteil des LG wiederherzustellen.
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