Nachschieben nachträglich bekanntgewordener Kündigungsgründe im Rahmen des § 626 II BGB
Gericht
BAG
Art der Entscheidung
Revisionsurteil
Datum
04. 06. 1997
Aktenzeichen
2 AZR 362/96
Beim Nachschieben nachträglich bekanntgewordener Gründe für eine außerordentliche Kündigung findet § 626 II BGB keine Anwendung (im Anschluß an BAG, AP Nr. 1 zu § 626 BGB Nachschieben von Kündigungsgründen).
Auszüge aus dem Sachverhalt:
Der Kl. war bei der Bekl. seit dem 15. 1. 1990 als kaufmännischer Angestellter beschäftigt, zuletzt in der Funktion des Leiters der EDV-Kalkulation zu einem Bruttomonatsgehalt in Höhe von 6100 DM. Anläßlich einer Kassenprüfung Ende Oktober 1994 stellte die Bekl. einen Fehlbetrag von 109796,93 DM fest, der sich im Rahmen weiterer Überprüfungen auf 595406 DM erhöhte. Aufgrund sich an die Feststellung des Fehlbetrags anschließender Ermittlungen ging die Bekl. davon aus, daß nicht nur der verantwortliche Kassenführer massiv gegen seine ihm obliegenden Verpflichtungen verstoßen habe, sondern daß sich andere Arbeitnehmer, u.a. auch der Kl., auf ihre Kosten bereichert hätten. Aufgrund vom Kl. abgezeichneter Einkaufsbelege, die im Kassenbuch als Barauszahlungen verbucht waren, deren Gegenstände die Bekl. jedoch nicht in ihrem Inventar auffinden konnte, ging die Bekl. davon aus, der Kl. habe auf ihre Kosten Gegenstände für den Privatbedarf gekauft. Der Kassenführer behauptete zudem gegenüber der Bekl., er habe dem Kl. auf dessen Drängen aus Mitteln der Bekl. verschiedene Darlehen ohne Beleg gewährt, von denen noch ein Betrag zwischen 13000 DM und 19000 DM nicht zurückerstattet sei. Nachdem der Kl. in einem Gespräch am 28. 10. 1994 nach Ansicht der Bekl. die gegen ihn erhobenen Vorwürfe nicht entkräften konnte, hörte sie den in ihrem Betrieb bestehenden Betriebsrat zu der von ihr beabsichtigten fristlosen, hilfsweise fristgerechten Kündigung an. Nach Zustimmung des Betriebsrats zur Kündigung kündigte die Bekl. das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 4. 11. 1994, dem Kl. am 7. 11. 1994 zugegangen, fristlos, hilfsweisefristgerecht zum 31. 12. 1994. Mit seiner am 15. 11. 1994 beim ArbG eingegangenen Klage hat sich der Kl. gegen die Kündigung gewandt und die Vorwürfe der Bekl. bestritten. Der Kl. hat zuletzt beantragt festzustellen, daß die mit Schreiben vom 4. 11. 1994, zugestellt am 7. 11. 1994, ausgesprochene fristlose Kündigung sozial ungerechtfertigt und rechtsunwirksam ist und daß das Arbeitsverhältnis dadurch nicht zur Auflösung gelangt. Nach Beweisaufnahme hat das ArbG der Klage stattgegeben. Am 15. 5. 1995 - nach Verkündung der erstinstanzlichen Entscheidung - erfuhr die Bekl., daß der Kl. vor Ausspruch der Kündigung einen Scheck der Firma O, einer Vertragspartnerin der Bekl., über 7785,96 DM zugunsten seines eigenen Kontos eingelöst hatte. Die Summe entspricht dem Betrag einer Rechnung über die Ausleihe von Schutzmasken durch die Firma O, die der Kl. für die Bekl. mit Datum vom 8. 9. 1994 erstellte. Mit Datum vom 21. 1. 1995 quittierte die Johanniter Unfallhilfe, bei der der Kl. ehrenamtlich tätig ist, dem Kl., 7835,96 DM als Spende der Firma O zweckgebunden für die Anschaffung eines Spülmobils eingezahlt zu haben. Die Bekl. teilte dem Betriebsrat mit, daß sie beabsichtige, diesen nachträglich bekanntgewordenen Sachverhalt im anhängigen Kündigungsschutzverfahren zur Begründung der außerordentlichen Kündigung nachzuschieben, sowie dem Kl. erneut zu kündigen. Nachdem der Betriebsrat mit Schreiben vom 24. 5. 1995 mitgeteilt hatte, er lege keinen Widerspruch ein, führte die Bekl. den oben genannten Sachverhalt mit ihrerBerufungsbegründung vom 20. 6. 1995 in den Prozeß ein. Ferner nahm sie den Sachverhalt zum Anlaß, mit Schreiben vom 28. 6. 1995 eine weitere fristlose Kündigung auszusprechen.
Das LAG hat nach Beweisaufnahme auf die Berufung der Bekl. das Urteil des ArbG teilweise abgeändert und festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Bekl. nicht fristlos, sondern nach Ablauf der Kündigungsfrist mit dem 31. 12. 1994 beendet worden ist. Mit ihrer vom LAG zugelassenen Revision verfolgt die Bekl. ihren Antrag auf vollständige Abweisung der Klage weiter. Die Revision war erfolgreich.
Auszüge aus den Gründen
I. Das LAG hat angenommen, das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien sei durch die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung am 7. 11. 1994 mit Ablauf des 31. 12. 1994 aufgelöst worden. Die Kündigung sei sozial gerechtfertigt.
Aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme zum Vorwurf der unberechtigten Scheckeinlösung seien drei Sachverhaltsalternativen nicht auszuschließen. Denkbar sei zum einen, daß der Kl. bewußt eine falsche Rechnung an die Firma O gesandt und sich mit ihr über die Verwendung des Rechnungsbetrags als Spende verständigt habe. Des weiteren sei denkbar, daß der Kl. den Scheck, der zur Begleichung der aufgrund des durchgeführten Maskengeschäfts gestellten Rechnung übersandt worden sei, unberechtigt an sich genommen habe. Beide Verhaltensweisen rechtfertigten an sich eine außerordentliche Kündigung. Schließlich sei denkbar, daß es zwischen dem Kl. und den Mitarbeitern der Firma O zu einem Mißverständnis hinsichtlich einer Spende für die Johanniter Unfallhilfe gekommen sei und daß die Bet. versehentlich von der Annahme ausgegangen seien, das Maskengeschäft sei storniert worden. Der Kl. habe es dann jedoch pflichtwidrig unterlassen aufzuklären, ob er berechtigt sei, das Geld als Spende zu verwenden. Diese Sachverhaltsalternative rechtfertige nur eine ordentliche Kündigung. Auch nach den ersten beiden Sachverhaltsalternativen sei die Kündigung nur als ordentliche wirksam. Denn eine entsprechende Anwendung des § 626 II BGB führe dazu, daß der Vorfall der Scheckeinlösung nicht mehr zur Rechtfertigung einer außerordentlichen Kündigung herangezogen werden könne, da die Bekl. diesen Sachverhaltskomplex erst nach Ablauf der Zwei-Wochen-Frist in den Prozeß eingeführt habe.
II. Dem folgt der Senat nicht. Für den von der Bekl. nachgeschobenen Kündigungsgrund ist § 626 II BGB entgegen der Ansicht des LAG nicht entsprechend anzuwenden. Das LAG durfte nicht offenlassen, welche der von ihm als denkbar angesehenen Sachverhaltsvarianten zutrifft.
1. Die Entscheidung des LAG ist insoweit rechtskräftig, als das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien spätestens am 31. 12. 1994 aufgrund der hilfsweise erklärten ordentlichen Kündigung der Bekl. sein Ende gefunden hat. Im Streit ist lediglich noch die Frage der Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung vom 4. 11. 1994.
2. Zutreffend ist das LAG davon ausgegangen, daß jedenfalls die zweite Sachverhaltsvariante auch ohne vorherige Abmahnung eine außerordentliche fristlose Kündigung gem. § 626 I BGB rechtfertigen würde. Hat der Kl. den Scheck eingelöst, obwohl er wußte, daß das Maskengeschäft durchgeführt worden war und der Scheck zum Ausgleich des Rechnungsbetrags dienen sollte, hat er damit ein Vermögensdelikt zum Nachteil der Bekl. begangen. Dadurch hätte der Kl. das für eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses notwendige Vertrauen in seine Redlichkeit in einem Maße zerstört, daß der Bekl. die Einhaltung der hier einschlägigen Kündigungsfrist nicht zumutbar wäre. Der Kl. hat dies auch nicht ernsthaft in Zweifel gezogen und insoweit keine beachtlichen Gegenrügen erhoben. Er erstrebt lediglich eine Beweiswürdigung, die diese Sachverhaltsvariante ausschließt. Für diese Variante und gegen die „Spendentheorie“ des Kl. spricht jedoch insbesondere, daß er den Scheck der Firma O auf seinem Privatkonto eingelöst und nicht unmittelbar an die Johanniter Unfallhilfe weitergegeben hat, daß er den Betrag selbst erst mit erheblicher Verzögerung (im neuen Kalenderjahr!) an die Johanniter Unfallhilfe „weitergeleitet“ hat und daß für die Firma O offenbar noch nicht einmal eine Spendenbescheinigung ausgestellt wurde. Dies wird das LAG bei der gebotenen weiteren Aufklärung des Sachverhalts und der Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu beachten haben.
3. Zu Unrecht hat das LAG aber die Rechtswirksamkeit der außerordentlichen Kündigung deshalb verneint, weil die Bekl. den Sachverhaltskomplex „Scheckeinlösung“ nicht innerhalb der Zwei-Wochen-Frist des § 626 II 1 BGB in den Prozeß eingeführt hat.
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG und der herrschenden Meinung in der Literatur können Kündigungsgründe, die dem Kündigenden bei Ausspruch der Kündigung noch nicht bekannt waren, uneingeschränkt nachgeschoben werden, wenn sie bereits vor Ausspruch der Kündigung entstanden sind (BAGE 14, 65 [70] = NJW 1963, 1267 = AP Nr. 50 zu § 626 BGB; BAG, NJW 1980, 2486 = AP Nr. 1 zu § 626 BGB Nachschieben von Kündigungsgründen; BAG, NZA 1986, 674 = AP Nr. 39 zu § 102 BetrVG 1972; Hillebrecht, in: KR, 4. Aufl., § 626 BGB Rdnr. 130; Kittner/Trittin, KSchR, 2. Aufl., § 626 BGB Rdnr. 40; Schaub, ArbeitsR-Hdb., 8. Aufl., § 125 IV 3; Stahlhacke/Preis, Kündigung und Kündigungsschutz im ArbeitsR, 6. Aufl., Rdnr. 443). Daran hält der Senat fest. Somit könnte die Bekl. den Sachverhaltskomplex „Scheckeinlösung“ zur Begründung der Kündigung nachschieben. Der Kl. hat den Scheck der Firma O unstreitig bereits vor Ausspruch der streitgegenständlichen Kündigungeingelöst. Dies ist der Bekl. erst am 15. 5. 1995 und damit nach Ausspruch der Kündigung bekanntgeworden.
b) Entgegen der Ansicht des LAG brauchen neu bekanntgewordene Kündigungsgründe auch nicht innerhalb der Ausschlußfrist des § 626 II 1 BGB in den Prozeß eingeführt zu werden. Die Ausschlußfrist bezieht sich nach dem eindeutigen Wortlaut des § 626 II 1 BGB allein auf die Ausübung des Kündigungsrechts, nicht auf die zugrundeliegenden Kündigungsgründe (vgl. Corts, in: RGRK, 12. Aufl., § 626 Rdnr. 230). Ist also bereits eine Kündigung ausgesprochen, so schränkt § 626 II 1 BGB unmittelbar ein Nachschieben nachträglich bekanntgewordener und zeitlich vor Ausspruch der Kündigung liegender Gründe nicht ein.
Entgegen der Ansicht des LAG kommt auch eine entsprechende Anwendung des § 626 II 1 BGB beim Nachschieben nachträglich bekanntgewordener Kündigungsgründe nicht in Betracht. Eine Gleichsetzung von ungekündigten und bereits gekündigten Arbeitnehmern, wie sie das LAG vornimmt, verbietet sich schon nach Sinn und Zweck des § 626 II 1 BGB. Die Zwei-Wochen-Frist soll dem Arbeitnehmer innerhalb kurzer Zeit Gewißheit darüber verschaffen, ob der Arbeitgeber einen bestimmten Sachverhalt zum Anlaß für eine außerordentliche Kündigung nimmt oder nicht. Hierdurch soll vermieden werden, daß der Arbeitgeber ein Mittel in der Hand hält, um den Arbeitnehmer während der weiteren Dauer des Arbeitsverhältnisses unter Druck zu setzen (vgl. BAGE 23, 475 [479] = NJW 1972, 463 = AP Nr. 1 zu § 626 BGB Ausschlußfrist). Ist jedoch bereits eine Kündigung ausgesprochen, kann eine solche Situation nicht mehr eintreten (vgl. BAG, NJW 1980, 2486 = AP Nr. 1 zu § 626 BGB Nachschieben von Kündigungsgründen). Der Schluß, der Arbeitgeber halte eine weitere Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses trotz des ihm bekanntgewordenen Verhaltens des Arbeitnehmers nicht für unzumutbar, ist nicht mehr möglich, wenn der Arbeitgeberbereits eine außerordentliche Kündigung ausgesprochen hat (vgl. BAGE 24, 401 [406] = NJW 1973, 533 L = AP Nr. 65 zu § 626 BGB). Mit dem Ausspruch der Kündigung hat der Arbeitgeber zu erkennen gegeben, daß er eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers subjektiv für unzumutbar hält. Ob diese Unzumutbarkeit bei objektiver Beurteilung tatsächlich im Zeitpunkt der Kündigung gegeben war, ist von den Gerichten unter Berücksichtigung aller zu diesem Zeitpunkt objektiv vorliegenden Umstände zu entscheiden, unabhängig davon, ob sie dem Kündigenden bei Ausspruch der Kündigung bereits bekannt waren (vgl. BAGE 14, 65 [71] = NJW 1963, 1267 = AP Nr. 50 zu § 626 BGB). Der gekündigte Arbeitnehmer kann daher nach Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung nicht damit rechnen, daß der Arbeitgeber im Prozeß nicht noch andere, bislang unentdeckte Gründe zur Rechtfertigung seiner Kündigung heranziehen wird. Er muß vielmehr davon ausgehen, daß der Arbeitgeber je nach Prozeßlage weitere Tatsachen vortragen wird, um in jedem Fall ein obsiegendes Urteil zu erstreiten. § 626 II 1 BGB findet somit beim Nachschieben von nachträglich bekanntgewordenen Kündigungsgründen keineAnwendung (so auch Corts, in: RGRK, § 626 Rdnr. 230; Schwerdtner, in: MünchKomm, 2.Aufl, § 626 Rdnr. 228; Staudinger/Preis, BGB, 13. Aufl., § 626 Rdnr. 66; Hillebrecht, in: KR, § 626 BGB Rdnr. 137a; Knorr/Bichlmeier/Kremhelmer, Hdb. des KündigungsR, 3. Aufl., S. 194 Rdnr. 15).
c) Soweit das BAG in seinem Urteil (NJW 1980, 2486 = AP Nr. 1 zu § 626 BGB Nachschieben von Kündigungsgründen) offengelassen hat, ob ein Auswechseln der Kündigungsgründe im Prozeß in dem Sinne, daß die Kündigung einen völlig anderen Charakter erhält, möglich ist oder ob in einem solchen Fall die neuen Kündigungsgründe nur eine neue Kündigung rechtfertigen, kann dies auch vorliegend dahinstehen. Ein solcher Fall liegt nicht vor. Bei den bereits in erster Instanz vorgetragenen Kündigungsgründen handelt es sich um vergleichbare Pflichtverletzungen. Sowohl der private Erwerb von Gegenständen auf Kosten der Bekl. wie auch die unberechtigte Einlösung eines Schecks richten sich gegen die Vermögensinteressen der Bekl.
4. Das Nachschieben des Sachverhaltskomplexes „Scheckeinlösung“ scheitert auch nicht an § 102 I BetrVG. Danach ist der Betriebsrat auch vor dem Nachschieben von Kündigungsgründen, die dem Arbeitgeber erst nach Ausspruch der Kündigung bekanntgeworden sind, anzuhören (vgl. BAGE 49, 39 = NZA 1986, 674 = NJW 1986, 3159 = AP Nr. 39 zu § 102 BetrVG 1972; Etzel, in: KR, 4. Aufl., § 102 BetrVG Rdnr. 188 m.w.Nachw.). Nach den Feststellungen des LAG, die der Kl. nicht mit Gegenrügen angegriffen hat und die damit für den Senat gem. § 561 ZPO verbindlich sind, hat die Bekl. den Sachverhalt der Scheckeinlösung erst nach Anhörung des Betriebsrats in den Prozeß eingeführt.
5. Da das LAG nicht festgestellt hat, welche der von ihm als möglich erachteten Sachverhaltsalternativen nach seiner Überzeugung gegeben ist, kann der Senat nicht selbst abschließend über die Rechtswirksamkeit der außerordentlichen Kündigung entscheiden. Dies führt zur Zurückverweisung der Sache an das LAG (§ 565 I ZPO).
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