Kein Unfallversicherungsschutz bei alkoholbedingtem Unfall

Gericht

BSG


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

23. 09. 1997


Aktenzeichen

2 RU 40/96


Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Beteiligten streiten um die Entschädigung eines Verkehrsunfalls des Kl. als Arbeitsunfall.

Der Kl. war vom 30. 3. 1987 bis 22. 5. 1987 bei der Firma F. D.-GmbH als Offsetdrucker beschäftigt gewesen. Am Nachmittag des 15. 6. 1987 begab er sich zu dieser Firma, um dort noch seine Arbeitspapiere abzuholen. Auf dem Rückweg befuhr er mit dem Pkw die R.-Straße in F. An der nicht durch Vorfahrtzeichen geregelten Einmündung in die Z.-Straße stieß er mit seinem Pkw in Höhe der Hinterachse gegen den Anhänger eines dort von links kommenden Lkw. Der Kl. erlitt dabei erhebliche Verletzungen. Die Blutalkoholbestimmung ergab eine BAK des Kl. von 1,82 Promille. Der Kl. erklärte, zu dem Zusammenstoß sei es auch deshalb gekommen, weil er nicht auf die Fahrbahn, sondern auf die von ihm bei seinem früheren Arbeitgeber abgeholten Papiere auf dem Beifahrersitz geblickt habe. Sein Mitverschulden liege in einer kurzzeitigen Geistesabwesenheit. Bei dem Blick auf die auf dem Beifahrersitz liegende Gehaltsabrechnung habe er einen zu geringen Betrag bemerkt. Dies habe auf ihn wie ein Schock gewirkt.

Die Bekl. lehnte Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab, weil die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des Kl. die allein wesentliche Ursache des Unfalls gewesen sei. Das SG hat die Bekl. verurteilt, das LSG hat die Klage abgewiesen. Die Revision des Kl. hatte keinen Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Der Kl. hat keinen Anspruch, wegen des Unfallereignisses vom 15. 6. 1987 aus der gesetzlichen Unfallversicherung entschädigt zu werden. Wie das LSG zutreffend entschieden hat, erlitt der Kl. keinen Arbeitsunfall.

Der Entschädigungsanspruch richtet sich noch nach den Vorschriften der RVO, da der geltend gemachte Arbeitsunfall vor dem Inkrafttreten des SGB VII am 1. 1. 1997 eingetreten ist (Art. 36 UVEG, § 212 SGB VII).

Nach § 550 I RVO gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539 , 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Der Kl. verunglückte auf dem Rückweg von seiner ehemaligen Arbeitgeberin, bei der er seine Arbeitspapiere abgeholt hatte. Das Abholen der Arbeitspapiere steht im allgemeinen unter Unfallversicherungsschutz, weil es der Abwicklung der Rechtsbeziehungen aus dem bisherigen Beschäftigungsverhältnis mit dem Unternehmer dient (BSGE 20, 23). Damit stand zwar die Fahrt mit der versicherten Tätigkeit im inneren Zusammenhang. Der Unfall des Kl. war jedoch wesentlich allein auf seine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit zurückzuführen.

Das LSG ist bei der rechtlichen Beurteilung zutreffend in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats seit seiner Entscheidung vom 30. 6. 1960 (BSGE 12, 242) davon ausgegangen, daß die auf Alkoholgenuß zurückzuführende Fahruntüchtigkeit eines Kraftfahrers den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung ausschließt, wenn sie die unternehmensbedingten Umstände derart in den Hintergrund drängt, daß sie als die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls anzusehen ist (siehe auch Brackmann/Krasney/Burchardt/Wiester, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. 3, Gesetzliche Unfallversicherung, 12. Aufl., § 8 Rdnr. 345). Der Kl. war im Zeitpunkt des Unfalls infolge nicht betriebsbedingter Alkoholeinwirkung absolut - unabhängig von sonstigen Beweiszeichen - fahruntüchtig. Das BSG hat sich bei der Entscheidung, ab welchem Blutalkoholwert ein Kraftfahrer absolut fahruntauglich ist, im Interesse der Rechtseinheit und Rechtssicherheit der Rechtsprechung des BGH (BGHSt 37, 89 (94)) angeschlossen. Es geht deshalb nunmehr von einem Blutalkoholgehalt von 1,1 Promille aus (BSG, Urt. v. 25. 11. 1992 - 2 RU 40/91, HV-INFO 1993, 305), ab dem ein Kraftfahrer absolut fahruntauglich ist.

Bei der rechtlichen Beurteilung ist das LSG davon ausgegangen, daß mehrere Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn bei der Entstehung des Unfalls mitgewirkt haben. Zum einen hat es zutreffend die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des Kl. als eine Mitursache im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn gesehen. Dies ergibt sich nach den Feststellungen des LSG schon aus dem Umstand, daß der Kl., wenn er nicht alkoholisiert gewesen wäre, nicht mit der überhöhten Geschwindigkeit von 40 bis 50 km/h in den Straßeneinmündungsbereich eingefahren wäre.

Nach der gutachterlichen Stellungnahme des Dipl.-Ing. E vom 31. 1. 1996 hätte der Kl. höchstens mit einer Geschwindigkeit von 10 bis 25 km/h in den Einmündungsbereich einfahren dürfen. Daß er doch mit einer weit überhöhten Geschwindigkeit in den Straßeneinmündungsbereich eingefahren ist, ist nach der maßgebenden Beweiswürdigung des LSG auf die Alkoholisierung zurückzuführen. Hinzu kommt, daß der Kl. nach den Feststellungen des LSG sowohl nach dem Inhalt der polizeilichen Verkehrsunfallanzeige vom 15. 6. 1987 als auch nach dem Gutachten des Dipl.-Ing. G vom 11. 9. 1989 reaktionslos und damit ungebremst auf den Lkw-Anhänger aufgefahren ist. Dieser Umstand läßt sich auch nicht durch einen Blick auf die auf dem Beifahrersitz liegenden Gehaltsunterlagen erklären. Zwar käme hierfür auch eine durch psychische Ursachen bewirkte Aufmerksamkeitsstörung, hervorgerufen durch gedankliche Ablenkung wegen eines festgestellten zu niedrigen Gehaltsnachzahlungsbetrages, in Betracht. Nachdem nach den Feststellungen des LSG aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen Dipl.-Ing. F der am Unfall beteiligte Lkw vom Schnittpunkt der Straßen bis zur Unfallstelle vier Sekunden benötigte, ist davon auszugehen, daß die gedankliche Ablenkung infolge der Alkoholbeeinflussung nachhaltiger wirken konnte. Bei einem nüchternen Kraftfahrer wäre demnach auch bei einem Blick auf den Beifahrersitz noch eine Reaktion zu erwarten gewesen. Die hohe Aufprallgeschwindigkeit, das Fehlen jeglicher Reaktionszeichen, insbesondere von Bremsspuren, spricht für eine Verursachung des Unfalls durch die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des Kl. Entgegen dem Vortrag der Revision hat das LSG die Ablenkung des Kl. durch den Blick auf die am Beifahrersitz liegenden Gehaltsunterlagen als Ursache im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn berücksichtigt. Es hat diesen Umstand entgegen der Revisionsbegründung nicht als unbeachtlich "ausgeschieden", sondern vielmehr gerade die Intensität dieses Mangels an Aufmerksamkeit während der entscheidenden Phase beim Einfahren in den Straßeneinmündungsbereich der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit zugeschrieben.

Gerade infolge der Alkoholbeeinflussung konnte die gedankliche Ablenkung nachhaltiger wirken, so daß der Kl. trotz des verkehrswidrigen Verhaltens des Unfallgegners auf die Verkehrssituation überhaupt nicht reagierte. Gerade dieses Verhalten ist durch die massive Alkoholisierung erklärbar. Ohne die Einwirkung des Alkohols wäre nach den Feststellungen des LSG eine Reaktion auf die Verkehrslage zu erwarten gewesen.

Außer der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit des Kl. hat als weitere Ursache des Unfalls im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn das Verhalten des Lkw-Fahrers als wege- bzw. betriebsbedingter Umstand mitgewirkt. Dieser hatte das Vorfahrtsrecht des von rechts kommenden Kl. nicht beachtet. Nach den Umständen konnte der Lkw-Fahrer nicht damit rechnen, den Einmündungsbereich der R.-Straße noch vor dem herannahenden Kl. passieren zu können. Ohne dieses Fehlverhalten des Lkw-Fahrers wäre der Unfall nicht passiert.

In Fällen der hier vorliegenden Art, in denen bei der Entstehung des Unfalls im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn neben der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit der betriebsbedingte Umstand der Vorfahrtsverletzung durch den Lkw-Fahrer als Weggefahr mitgewirkt hat, bedarf es der Abwägung und Wertung, ob nach der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung maßgeblichen Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung (vgl. Brackmann/Krasney/Burchardt/Wiester, § 8 Rdnrn. 309ff.) die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit gegenüber anderen Unfallursachen als die rechtlich allein wesentliche Bedingung zu werten ist (BSGE 18, 101). Der Begriff der rechtlich wesentlichen Ursache ist ein Wertbegriff. Die Frage, ob eine Mitursache für den Erfolg wesentlich ist, beurteilt sich nach dem Wert und der Bedeutung, die ihr die Auffassung des täglichen Lebens für das Zustandekommen des Erfolges gibt. Danach ist eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit, die bei der Entstehung des Unfalls mitgewirkt hat, gegenüber den betriebsbedingten Umständen als rechtlich allein wesentliche Ursache zu werten, wenn nach den Erfahrungen des täglichen Lebens davon auszugehen ist, daß der Versicherte, hätte er nicht unter Alkoholeinfluß gestanden, bei gleicher Sachlage wahrscheinlich nicht verunglückt wäre. Er ist dann nicht einer Betriebsgefahr erlegen, sondern nur "bei Gelegenheit" einer versicherten Tätigkeit verunglückt (BSGE 48, 228 (229)). Es muß vergleichend gewertet werden, welcher Umstand gegenüber der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit etwa gleichwertig und welcher demgegenüber derart unbedeutend ist, daß er außer Betracht bleiben muß. Zu den unternehmensbezogenen Umständen (Mitursachen) gehören auch die mit der Teilnahme am Verkehr verbundenen Gefahren (BSGE 43, 110 (112)).

Die rechtliche Wertung des LSG, daß nach Lage des Falles die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des Kl. die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls gewesen ist und daß es infolgedessen an dem ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit - d.h. der Zurücklegung des Weges - und dem Unfallereignis fehlt, enthält entgegen der Auffassung der Revision keine Rechtsfehler. Bei der vergleichenden Wertung der Unfallursachen hat das LSG zutreffend den wegbedingten Umstand des verkehrswidrigen Verhaltens des anderen Verkehrsteilnehmers nicht als rechtlich wesentliche Mitursache des Unfalls gewertet. Vielmehr hat es das alkoholbedingte Fehlverhalten des Kl. als die allein überragende und damit allein wesentliche Ursache des Unfalls angesehen. Denn der Kl. wäre - als nicht unter Alkoholeinfluß stehender Pkw-Fahrer - ohne weiteres in der Lage gewesen, den Unfall durch rechtzeitiges Abbremsen zu verhindern.

Wie das LSG aufgrund seiner Feststellungen ausgeführt hat, ergibt sich dies aus allen eingeholten verkehrstechnischen Sachverständigengutachten. Nach dem Gutachten des Dipl.-Ing. F wäre es dem Kl. bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 50 km/h ohne Schwierigkeiten möglich gewesen, auch bei einer Bremsverzögerung von nur 6 m pro Sekunde sowie einer Reaktionszeit von 1 sec den Pkw vor der Unfallstelle anzuhalten. Auch Dipl.-Ing. G kam in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, daß - ausgehend von einer Fahrgeschwindigkeit von 45 km/h und einer Entfernung des Kl. von 3 sec bzw. 37,5 m zur Unfallstelle - er bei einer Reaktionszeit von 1 sec bei einer üblichen Verzögerung von 3,2 m pro Sekunde bis zum Ende der Kollisionsstrecke noch hätte anhalten können. Im gleichen Sinn hat auch nach den Feststellungen des LSG Dipl.-Ing. E dargelegt, daß das fahrbahnlängsaxiale Abstandsverhalten es möglich gemacht hätte, entweder die Geschwindigkeit so weit zu reduzieren, daß es nicht zum Auffahrunfall gekommen wäre, oder aber noch vor dem Einmündungstrichterbereich zum Stillstand zu kommen. Zu Recht weist das LSG darauf hin, daß der Kl. trotz der Vorfahrtsverletzung des Lkw-Fahrers schon nach der StVO verpflichtet war, das Seine zur Unfallverhinderung beizutragen. Eine Verhinderung des Unfalls wäre möglich gewesen. Daß der Kl. den Unfall nicht verhindert hat, hat das LSG aufgrund seiner Wertung zutreffend auf die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des Kl. zurückgeführt. Das Verhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers, ohne das der Unfall - im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn - nicht eingetreten wäre, kann als unternehmensbedingter Umstand durch die Auswirkung der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit des Verunglückten bis zur rechtlichen Bedeutungslosigkeit zurückgedrängt werden (BSGE 18, 101 (103)). Wie das LSG ausgeführt hat, war das unter Alkoholeinfluß stehende Verhalten des Kl. für das Zustandekommen des Zusammenstoßes von so überragender Bedeutung gewesen, daß demgegenüber das Fehlverhalten des Lkw-Fahrers rechtlich nicht als Mitursache zu werten ist.

Einen weiteren Grund dafür, daß die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des Kl. die allein wesentliche Bedingung des Unfalls gewesen ist, sieht das LSG darin, daß es unabhängig von der verkehrsfehlerhaften Verhaltensweise des Lkw-Fahrers allein aufgrund der alkoholbedingten Fahrweise des Kl. in jedem Falle zu einem Verkehrsunfall gekommen wäre. Denn der Kl. sei mit einer derartig erhöhten Geschwindigkeit in den Einmündungsbereich der Straße gefahren, daß er nach dem Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Ing. E ihn nicht hätte durchfahren können, ohne aus der Kurve getragen zu werden. Nach dem Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Ing. G wäre der Kl., wenn der Lkw-Fahrer vorfahrtsbedingt angehalten hätte, entweder unter das Führerhaus des Lkw geraten oder aus der Kurve getragen worden. Auch bei einem verkehrsgerechten Verhalten des Lkw-Fahrers wäre es deshalb ebenfalls zu einem Unfall gekommen. Ein derartiger hypothetischer unfallbezogener Geschehensverlauf kann bei Anwendung der in der gesetzlichen Unfallversicherung herrschenden Theorie der wesentlichen Bedingung bei der Entscheidung keine Berücksichtigung finden (vgl. dazu BSGE 63, 277; Brackmann/Krasney/Burchardt/Wiester, § 8 Rdnr. 318; Kater/Leube, Gesetzliche Unfallversicherung, SGB VII, 1997, vor § 7 Rdnrn. 27ff., § 8 Rdnr. 135; Schulin, in: Handbuch des SozialversicherungsR, Bd. 2, UnfallversicherungsR, § 29 Rdnrn. 14ff., § 31 Rdnr. 31; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl., S. 480d ff.). Aber auch ohne Berücksichtigung einer derartigen hypothetischen Kausalität ist diese auf die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit zurückzuführende Fahrweise des Kl. bei vergleichender Abwägung der Unfallursachen bereits als die allein wesentliche Bedingung für das Zustandekommen des Unfalls zu werten.

Rechtsgebiete

Sozialrecht

Normen

RVO § 539 a.F.