Schmerzengsgeldanspruch eines Radfahrers bei ungerechtfertigter Trunkenheitsbehauptung des Haftpflichtversicherers

Gericht

OLG Nürnberg


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

30. 04. 1997


Aktenzeichen

6 U 3535/96


Leitsatz des Gerichts

  1. Ein Prozeßverhalten der beklagten Haftpflichtversicherung, das vom Geschädigten als herabwürdigend empfunden werden muß (hier: grundlos aufgestellte Behauptung eines Mitverschuldens wegen angeblicher Alkoholisierung), wirkt sich schmerzensgelderhöhend aus.

  2. Zur Höhe des Schmerzensgeldanspruchs (hier: 150000 DM) eines 25jährigen Motorradfahrers, der bei einem fremdverschuldeten Verkehrsunfall massive Verletzungen (Oberschenkelamputation des linken Beins; offener Trümmerbruch des linken Ellenbogens mit endgültiger Versteifung des Gelenks bei 90§ ) erlitten hat, und die zu gravierenden gesundheitlichen, privaten und beruflichen Dauerfolgen führen.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Bekl. hat in vollem Umfang für die Folgen eines Verkehrsunfalls vom 25. 6. 1990 einzustehen. Unstreitig erlitt der Kl. bei dem Unfall sehr schwere Verletzungen. Bereits am Unfallort wurde ihm der linke Oberschenkel notfallmäßig amputiert. Außerdem bestand eine drittgradige offene Trümmerfraktur des linken Ellenbogens, die dazu führte, daß das Ellenbogengelenk aufgrund der ausgedehnten knöchernen Zerstörung in Rechtswinkelstellung versteift blieb (Arthrodese). In diesem Bereich kam es nach zunächst komplikationsfreiem Verlauf zu einer Infektion, die eine erneute Operation im Januar 1991 nötig machte. Vom linken Oberschenkel verblieb lediglich ein Stumpf, der Kl. muß eine Oberschenkelprothese tragen. Insgesamt war eine etwa fünfmonatige stationäre Krankenhausbehandlung nötig, außerdem führte der Unfall zu einer 100%igen Erwerbsunfähigkeit für die Dauer von ca. zweieinhalb Jahren. Am 28. 12. 1992 konnte der Kl. die Tätigkeit in seiner alten Firma wieder aufnehmen. Er ist gelernter Werkzeugmacher und arbeitet jetzt als Fachkraft an einer computergesteuerten Werkzeugmaschine. Es handelt sich hierbei um eine hauptsächlich stehende Tätigkeit. Die schwerwiegende Beeinträchtigung der Gesundheit, Lebensfreude und Leistungskraft eines jungen Manns durch den Verlust eines Beins und die dazukommende schwerwiegende Behinderung durch ein versteiftes Ellenbogengelenk werden hier noch durch eine Reihe von Komplikationen und Befunden verschlimmert.

Auf Grund des Unfalls ist ein Beckenschiefstand von 2 cm entstanden, der zu einer Verbiegung der Wirbelsäule führt. Dadurch kommt es zu einer beginnenden arthrotischen Veränderung der Wirbelsäule, die im weiteren Leben zunehmen wird. Muskelverspannung und Bandscheibendegeneration speziell im unteren Lendenwirbelsäulenbereich sind deshalb zu erwarten. Durch die Prothese am linken Bein ist das rechte Bein überlastet. Dies führt zu Gelenksbeschwerden beginnend vom rechten Hüftgelenk bis zum rechten Kniegelenk und im oberen Sprunggelenk rechts. Seine Erwerbsfähigkeit ist auf Dauer um 75 % gemindert, eine spätere unfallbedingte Erhöhung ist nicht ausgeschlossen.

Das LG hat dem Kl. ein Schmerzensgeld von 95000 DM zugesprochen. Seine dagegen gerichtete Berufung hatte Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Der Senat ist der Auffassung, daß das vom Erstgericht mit 95000 DM angesetzte Schmerzensgeld zum Ausgleich der vom Kl. durch den Unfall vom 25. Juni 1990 erlittenen immateriellen Schäden angesichts der vollen Einstandspflicht der Bekl. nicht ausreicht, daß vielmehr ein Schmerzensgeldbetrag von 150000 DM angemessen ist (§ 847 BGB).

Das Schmerzensgeld soll dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich für diejenigen Schäden bieten, die nicht vermögensrechtlicher Art sind und zugleich dem Gedanken Rechnung tragen, daß der Schädiger dem Geschädigten Genugtuung schuldet für das, was er ihm angetan hat. Zu berücksichtigen ist ferner, daß die Art und Weise, wie die Bekl. den Schadensersatzprozeß des Kl. geführt hat, eine weitere seelische Beeinträchtigung des Kl. bedeutete, die sich auf die Höhe des Schmerzensgelds auszuwirken hat (vgl. BGH, VersR 1970, 134). Denn der an sich aus dem Unfallereignis in vollem Umfang ersatzberechtigte Kl. wurde durch das Regulierungsverhalten der Bekl. über Jahre im Ungewissen gehalten und nicht in die Lage versetzt, sich beizeiten mit dem ihm angemessenen Schmerzensgeld einen Ausgleich für die schwerwiegende Beeinträchtigung seines körperlichen und seelischen Wohlbefindens zu beschaffen. Dabei kann zunächst dahinstehen, ob für den Schädiger eine Erfolgsaussicht im Hinblick auf seine Weigerung, den begehrten Ersatz zu leisten, bestand. Wenn der Schädiger letztlich unterliegt, so trägt er und nicht der Anspruchsberechtigte das Risiko der durch die Zahlungsweigerung entstandenen Verzögerungen und weiteren Beeinträchtigungen. Hier war nicht nur der 1991 zur Verfügung gestellte pauschale Ersatzbetrag für alle materiellen und immateriellen Schäden i.H. von 40000 DM erkennbar unzureichend. Vollends unverständlich jedenfalls ist die Weigerung der Bekl. gewesen, nach dem Endurteil des Senats vom 28. 7. 1994 weiteren Ersatz zu leisten, obwohl auf Grund der damit erkannten vollen Haftung der Bekl. klar sein mußte, daß die erbrachten Leistungen viel zu gering waren. Im vorliegenden Fall kommt als ein weiterer Aspekt hinzu, daß nicht nur die Leistungsverzögerung als solche, sondern auch die Art und Weise der Prozeßführung der Bekl. eine zusätzliche Genugtuung für den Kl. erfordern. Eine solche zusätzliche Genugtuung kommt allerdings nur dann in Betracht, wenn das Prozeßverhalten über die verständliche Rechtsverteidigung hinaus von einem Geschädigten als herabwürdigend empfunden werden muß. Der Senat sieht ein solches Verhalten der Bekl. hier in der grundlos aufgestellten Behauptung, der Kl. sei bei dem Unfall mit 0,5 bis 0,8 Promille alkoholisiert gewesen, obwohl die Bekl. die polizeilichen Unfallakten kannte und wußte, daß bei dem aus einer Blutlache und in der Klinik entnommenen Blut des Kl. nur 0,01 bzw. 0,03 Promille Alkohol festgestellt wurden. Der Senat hat darauf bereits in dem zum Schadensgrund erlassenen Endurteil in dieser Sache vom 22. 7. 1994 hingewiesen.

Unter Berücksichtigung dieser Umstände erscheint dem Senat ein Schmerzensgeld von 150000 DM angemessen. Dieser Betrag bewegt sich im Rahmen der Rechtsprechung (vgl. OLG Nürnberg, NJW 1982, 1337, in dem für eine Oberschenkelamputation mit Blasenschädigung vor 15 Jahren auf ein Schmerzensgeld von 12000 DM erkannt worden ist; OLG Koblenz v. 19. 2. 1960, ADAC-Schmerzensgeldtabelle, 17. Aufl., Nr. 1607: dort wurden bei einem ähnlich schweren Unfall mit Beinamputation - allerdings ohne die hier vorliegende lebenslängliche Beeinträchtigung durch Versteifung eines Ellenbogengelenks - 120000 DM zugesprochen).

Rechtsgebiete

Schadensersatzrecht

Normen

BGB § 847