Ermittlung der Beschäftigtenzahl für die Anwendung der Kleinbetriebsklausel
Gericht
BVerfG
Art der Entscheidung
Beschluss
Datum
27. 01. 1998
Aktenzeichen
1 BvL 22/93
Zur Ermittlung der für die Anwendung der Kleinbetriebsklausel maßgeblichen Arbeitnehmerzahl nach § 23 I 3 KSchG a. F.
Auszüge aus dem Sachverhalt:
Das Verfahren betrifft die Frage, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar war, daß § 23 KSchG bis zum 30. 9. 1996 auch solche Betriebe vom gesetzlichen Kündigungsschutz freistellte, bei denen eine beliebig große Zahl von Arbeitnehmern beschäftigt war, die wöchentlich zehn (monatlich 45) Stunden oder weniger arbeiteten. Der allgemein arbeitsrechtliche Kündigungsschutz ist im Kündigungsschutzgesetz in der Fassung des Gesetzes vom 26. 4. 1985 (BGBl I, 710) geregelt. Von dem betrieblichen Geltungsbereich dieses Gesetzes werden durch § 23 I 2 KSchG die sogenannten Kleinbetriebe ausgenommen. Diese Bestimmung ist nach einem heute ergangenen Beschluß des BVerfG bei verfassungskonformer Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar (BVerfG, NJW 1998, 1475 [unter Nr. 1 in diesem Heft]). Von der Prüfung ausgenommen wurde dabei die hier zu beantwortende Vorlagefrage. Satz 3 des § 23 KSchG wurde durch Art. 3 Nr. 2 lit. b des Gesetzes vom 26. 4. 1985 angefügt. Vorher wurden Teilzeitkräfte ohne Rücksicht auf den Umfang ihrer Tätigkeit bei der Bestimmung der maßgeblichen Betriebsgröße mitgezählt (vgl. BAGE 43, 80 [82 ff.] = NJW 1984, 82; Weigand, in: KR, 4. Aufl. [1996], § 23 KSchG Rdnr. 38 jew. m. w. Nachw.; a. A. Wank, ZIP 1986, 206 [297 ff.]). Für die Regelung aus dem Jahre 1985 waren in erster Linie beschäftigungspolitische Gründe maßgeblich (vgl. BT-Dr 10-2102, S. 17, 29). Der Gesetzgeber rechnete mit einer Vermehrung von Teilzeitarbeitsplätzen in Kleinbetrieben. Mit dem Schutzzweck der Norm sei es vereinbar, diejenigen teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer bei der Ermittlung der Beschäftigtenzahl unberücksichtigt zu lassen, die wegen ihrer geringfügigen Arbeitsleistung für die Betriebsgröße kaum eine Rolle spielten. Die Kleinbetriebsklausel ist inzwischen durch Art. 1 des Arbeitsrechtlichen Gesetzes zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung (Arbeitsrechtliches Beschäftigungsförderungsgesetz) vom 25. 9. 1996 (BGBl I, 1476) mit Wirkung ab dem 1. 10. 1996 erneut geändert worden. Danach gilt der allgemeine Kündigungsschutz nach dem ersten Abschnitt des Kündigungsschutzgesetzes nicht mehr für Betriebe und Verwaltungen, in denen in der Regel zehn oder weniger Arbeitnehmer ausschließlich der zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten beschäftigt werden. Bei der Feststellung der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer werden teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von nicht mehr als zehn Stunden mit 0,25, nicht mehr als 20 Stunden mit 0,5 und nicht mehr als 30 Stunden mit 0,75 berücksichtigt. Der Kl. des Ausgangsverfahrens war seit dem 2. 5. 1988 bei der Bekl. als Glas- und Gebäudereiniger mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden beschäftigt. Der Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis wegen vertragswidrigen Verhaltens. Die Belegschaft bestand aus fünf Arbeitnehmern mit einer Arbeitszeit von mehr als zehn Wochenstunden oder mehr als 45 Monatsstunden. Weitere rund 45 Arbeitnehmer wurden in geringerem Umfang, teilweise nur mit zwei Stunden pro Woche, beschäftigt. Im Kündigungsschutzprozeß wurde um die Frage gestritten, ob das beanstandete Verhalten des Kl. eine Kündigung rechtfertigte. Das ArbG hat das Verfahren ausgesetzt und dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob § 23 I 3 KSchG mit Art. 3 I GG vereinbar ist. Von der Entscheidung dieser Vorfrage hänge das Ergebnis des Rechtsstreits ab. Auf der Grundlage des § 1 KSchG wäre die Kündigung sozial ungerechtfertigt und daher der Kündigungsschutzklage stattzugeben. Es fehle bereits an der erforderlichen Abmahnung. Finde das Kündigungsschutzgesetz hingegen gem. § 23 KSchG keine Anwendung, sei die Klage abzuweisen.
Das BVerfG hat nach verfassungskonformer Auslegung § 23 I 3 KSchG für verfassungsgemäß befunden.
Auszüge aus den Gründen:
B. I. 1. Vorrangiger Maßstab für die verfassungsrechtliche Beurteilung von § 23 I 3 KSchG ist Art. 3 I GG. Durch die Kleinbetriebsklausel werden die davon betroffenen Arbeitnehmer gegenüber anderen, die in größeren Betrieben arbeiten, benachteiligt. Die Benachteiligung ist durch die besondere Interessenlage der Arbeitgeber in kleineren Betrieben gerechtfertigt.
2. Die Regelung des Satzes 3 hat zur Folge, daß Betriebe mit einer beliebig großen Zahl von Arbeitnehmern vom gesetzlichen Kündigungsschutz freigestellt sind, solange sie nicht mehr als fünf Vollzeitarbeitskräfte und darüber hinaus ausschließlich Teilzeitkräfte beschäftigen, die weniger als zehn Wochenstunden oder 45 Stunden im Monat arbeiten (im folgenden: Viertelteilzeitkräfte). Der Ausgangsfall zeigt, daß in bestimmten Dienstleistungsbranchen eine Personalstruktur möglich und wirtschaftlich sinnvoll ist, die eine Beschäftigung von rund 50 Personen erlaubt, ohne die Grenze des § 23 I 2, 3 KSchG zu überschreiten.
3. Bei einer solchen Betriebsgröße liegen die Gründe, die die Benachteiligung der Arbeitnehmer rechtfertigen, nicht mehr vor. Ein besonderes, auf enge persönliche Zusammenarbeit gestütztes Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer besteht bei so großen Betrieben nicht. Sie haben insbesondere im Hinblick auf Organisationsstruktur und Verwaltungskraft mit dem typischen Kleinbetrieb wenig gemein. Allgemeine arbeitsmarktpolitische Erwägungen können eine ungleiche Behandlung von Arbeitnehmern in Kleinbetrieben nicht rechtfertigen, weil es sich dabei nicht um Erwägungen handelt, die sich spezifisch auf solche Betriebe beziehen. Vor Art. 3 I GG könnte die Regelung deshalb nur standhalten, wenn der Gesetzgeber Betriebe in der Größenordnung der Bekl. des Ausgangsverfahrens als atypisch vernachlässigen könnte. Das ist nicht der Fall.
4. a) Jede gesetzliche Regelung muß generalisieren. Der Gesetzgeber kann die Vielfalt der Fälle, die er mit seiner Regelung erfaßt, nicht im vorhinein erkennen und muß sich deswegen mit Einschätzungen zufriedengeben. Er darf Rechtsfolgen an ein typisches Erscheinungsbild des Regelungsgegenstands knüpfen und dabei in Kauf nehmen, daß er nicht jeder Besonderheit gerecht wird. Außerdem hat er die Verständlichkeit und Praktikabilität seiner Normen zu bedenken und darf deswegen von Differenzierungen absehen, die diesem Ziel entgegenstehen. Dies betrifft vor allem die Regelung von Massenerscheinungen. Das BVerfG hat dieser Sachgesetzlichkeiten und die damit begründeten Randunschärfen normativer Regelungen in ständiger Rechtsprechung anerkannt (vgl. BVerfGE 11, 245 [254] = NJW 1960, 1447 L; st. Rspr.; zuletzt BVerfGE 89, 15 [24] = NJW 1994, 122).
b) Die Öffnung der Kleinbetriebsklausel durch § 23 I 3 KSchG in der hier maßgeblichen Fassung läßt sich durch diese Gesichtspunkte jedoch nicht rechtfertigen. Zwar steht dem Gesetzgeber bei der Abgrenzung des betrieblichen Geltungsbereichs des Kündigungsschutzgesetzes ein weiter Typisierungsspielraum zu. Angesichts der Fülle der Erscheinungsformen kleinerer Betriebe und Verwaltungen ist es unmöglich, den betrieblichen Geltungsbereich des Gesetzes anders als durch pauschale Begriffsbildung zu umschreiben. Arbeitgeberseitige Kündigungen sind zudem Massenerscheinungen, für deren Abwicklung den Betrieben und Arbeitsgerichten handhabbare Regelungen zur Verfügung gestellt werden müssen. Mit der zur Prüfung gestellten Regelung hat der Gesetzgeber seine Typisierungsbefugnis jedoch überschritten. Ein Sachgesichtspunkt, der es zu rechtfertigen vermöchte, bei Betrieben, die überwiegend Teilzeitkräfte beschäftigen, auf eine am Arbeitsvolumen orientierte Größenbestimmung gänzlich zu verzichten, ist nicht erkennbar. Eine Berücksichtigung der Teilzeitkräfte bei der Festlegung der maßgeblichen Betriebsgröße war vielmehr ohne weiteres möglich, ohne daß auf eine zahlenmäßige Beschränkung verzichtet werden müßte. Ebensowenig lassen sich Gründe der Vereinfachung oder Praktikabilität für die Regelung ins Feld führen. Die Bestimmung des betrieblichen Geltungsbereichs des Kündigungsschutzgesetzes anhand einer bestimmten Beschäftigtenzahl und des Umfangs ihrer Tätigkeit bereitet weder den Betrieben noch den Gerichten besondere Schwierigkeiten.
5. Die Regelung erlaubt jedoch eine einschränkende Auslegung, in der sie vor Art. 3 I GG standhält. Dabei ist zu berücksichtigen, daß der Gesetzgeber bei komplexen Sachverhalten häufig eine gewisse Zeit benötigt, um Erfahrungswerte für eine völlig sachangemessene Regelung zu finden, und daß er inzwischen auf der Grundlage neuerer Einsichten eine Neuregelung getroffen hat (vgl. BVerfGE 33, 171 [189 f.] = NJW 1972, 1509).
Der Wortlaut des § 23 I 3 KSchG läßt allerdings eine einschränkende Auslegung nicht zu. Darauf weist das vorlegende Gericht zutreffend hin. Eine Auslegung gegen den Wortlaut einer Norm ist aber nicht von vornherein ausgeschlossen, wenn andere Indizien deutlich belegen, daß ihr Sinn im Text unzureichend Ausdruck gefunden hat. So liegt es hier. Der Gesetzgeber war erkennbar davon ausgegangen, daß der Einstellung von Viertelteilzeitkräften in einem Kleinbetrieb durch arbeitstechnische Gegebenheiten enge Grenzen gezogen seien. Jedenfalls hatte er nicht bedacht, daß unter die von ihm geschaffene Regelung auch Betriebe fallen könnten, deren Geschäftstätigkeit es ermöglicht, bei weniger Vollzeitkräften eine große Zahl von Viertelteilzeitkräften oder geringfügig Beschäftigten einzustellen. Eine einschränkende Auslegung des Gesetzeswortlauts wird auch durch Sinn und Zweck der Regelung nahegelegt. Sie soll eine spezifische Gruppe von Arbeitgebern vor den Folgen des gesetzlichen Kündigungsschutzes bewahren, weil ihre Unternehmen dadurch in mehreren Hinsichten überfordert wären. Bei Unternehmen von der Größenordnung der Bekl. des Ausgangsverfahrens wird dieser Schutzzweck, wie bereits dargelegt wurde, verfehlt. Ausschlaggebend ist schließlich, daß der Gesetzgeber selbst inzwischen eine Grenzziehung vorgenommen hat, die seinen von Anfang an gehegten Vorstellungen entsprechen dürfte. Damit ist zugleich ein Anhaltspunkt dafür gegeben, wie die maßgebliche Beschäftigtenzahl zu ermitteln ist. Die Anwendung der Norm kann danach im Wege teleologischer Reduktion auf Fälle beschränkt werden, in denen unter Zugrundelegung der Anrechnungsmodalität des Satzes 3 in der seit dem 1. 10. 1996 geltenden Neufassung von § 23 I KSchG ein Kleinbetrieb vorliegt. In dieser Auslegung ist sie mit Art. 3 I GG vereinbar (vgl. dazu den heute ergangenen Beschluß, NJW 1998, 1475 [in diesem Heft]).
II. Eine Verletzung von Art. 3 III GG durch die zur Prüfung gestellte Norm kann nicht festgestellt werden.
1. Diese Grundrechtsnorm verstärkt den allgemeinen Gleichheitssatz durch konkrete Diskriminierungsverbote. Die darin genannten Markmale dürfen nicht als Anknüpfungspunkt für differenzierende Regelungen herangezogen werden. Das gilt auch dann, wenn die Regelung nicht auf eine Ungleichbehandlung abzielt, sondern andere Zwecke verfolgt (vgl. BVerfGE 85, 191 [206] = NJW 1992, 964).
2. Eine Verletzung von Art. 3 III GG kommt in Betracht, weil die zur Prüfung gestellte Norm an das Merkmal einer Teilzeitbeschäftigung anknüpft und damit eine Gruppe von Arbeitnehmern erfaßt, in der Frauen bekanntermaßen überrepräsentiert sind. Die Regelung differenziert jedoch nicht zwischen (bestimmten) Teilzeitbeschäftigten einerseits und Vollzeitkräften andererseits, sondern zwischen größeren und kleineren Betrieben. Daß in Kleinbetrieben insgesamt deutlich mehr Teilzeitkräfte als Vollzeitkräfte und damit vergleichsweise mehr Frauen beschäftigt wurden, ist nicht erkennbar.
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