Unterbliebene Vollfixierung eines deliranten Krankenhauspatienten - Fenstersprung nach Alkoholentzug

Gericht

OLG Koblenz


Art der Entscheidung

Urteil


Datum

30. 04. 1997


Aktenzeichen

5 U 262/96


Leitsatz des Gerichts

  1. Es entspricht dem § 404 I ZPO, wenn das Gericht lediglich einer Einrichtung (Institut) den Gutachtensauftrag erteilt, die interne personelle Entscheidung aber dem Institut überläßt.

  2. Verschweigt ein Unfallpatient bei seiner Krankenhausaufnahme seine Alkoholabhängigkeit und treten dann am zweiten Krankenhaustag delirante Alkoholentzugserscheinungen auf, so genügt es bei einem unter dem Eindruck der ersten Medikamentengabe ruhig werdenden Patienten, daß dieser mit einer Leibbandage (Bauchgurt mit unlösbaren Magnetverschlüssen) an sein Bett fixiert wird und Distraneurin sowie Haldol verabreicht erhält und sodann zur Kontrolle durch die Nachtschwester auf den Krankenhausflur gestellt wird. Gelingt es dem Patienten wegen seiner durch das Delirium freigesetzten "übermenschlichen" Kräfte, sich gleichwohl zu befreien und springt er dann durch ein Fenster des Krankenhausflurs in die Tiefe, so handeln die Krankenhausbediensteten nicht schuldhaft, wenn sie eine auch mögliche Vollfixierung des Patienten unterlassen haben.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Kl. wurde am 10. 5. 1991 zur Behandlung einer Fraktur des rechten Außenknöchels in der unfallchirurgischen Abteilung der Bekl. aufgenommen. In Vorbereitung einer Operation wurde Bettruhe verordnet. Am Abend des 12. 5. 1991 hatte der Kl. delirante Alkoholentzugserscheinungen. Ab etwa 21 Uhr wurde er vermehrt unruhig, transpirierte und zeigte sich desorientiert. Man unterrichtete den diensthabenden chirurgischen Facharzt, der schließlich einen Psychiater beizog. Dieser bestätigte den vermuteten Befund eines Deliriums. Der Kl., der zuvor den regelmäßigen Genuß von Alkohol geleugnet hatte, räumt nunmehr ein, vor seiner Aufnahme bei der Bekl. durchschnittlich fünf Flaschen Bier am Tag getrunken zu haben; auch mit dieser Angabe offenbarte er nicht die volle Wahrheit. Auf Veranlassung des Psychiaters wurde der Kl. gegen 23.30 Uhr mit einem Bauchgurt in seinem Bett fixiert und zur Überwachung auf den Stationsflur verlegt. Außerdem wurden ihm zwei Kapseln Distraneurin und 60 Tropfen Haldol verabreicht. Um Mitternacht gelang es dem Kl., sich aus seiner Lage zu befreien. Er begab sich zu einem Fenster und sprang durch die geschlossene Scheibe ins Freie. In der Folge des Sprungs zog sich der Kl. eine Luxationsfraktur des linken Mittelfußes und eine Kompressionsfraktur an einem Lendenwirbelkörper zu. Die Verletzungen wurden am 13. 5. 1991 und - nach einem Zwischenaufenthalt des Kl. in der psychiatrischen Klinik der Bekl. - erneut am 21. 5. 1991 operativ versorgt. Am 7. 6. 1991 verließ der Kl. die unfallchirurgische Klinik der Bekl. entgegen ausdrücklichem ärztlichen Rat. Mit der vorliegenden Klage nimmt er die Bekl. auf materiellen Schadensersatz und auf Schmerzensgeld in Anspruch. Er hat ihr vorgeworfen, mangels genügender Sicherungsmaßnahmen für die Sprungverletzungen verantwortlich zu sein, und beantragt, die Bekl. zu Verdienstausfallersatzleistungen von 27100 DM für die Zeit von Mai 1991 bis Juni 1993 zu verurteilen und außerdem deren Ersatzpflicht für den in der Folgezeit entstandenen Schaden festzustellen. Darüber hinaus hat er ein Schmerzensgeld begehrt; dieserhalb hat er für den Zeitraum bis Juni 1993 einen Kapitalbetrag von 40000 DM und für die Folgezeit monatliche Rentenbeträge von 750 DM angesetzt.

Die Klage blieb in beiden Instanzen ohne Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Das LG hat zutreffend entschieden, daß die Verletzungen des Kl. nicht auf ein pflichtwidriges Verhalten auf Seiten der Bekl. zurückgeführt werden können. Damit haben Ansprüche des Kl., gleich ob sie auf eine positive Vertragsverletzung oder auf ein deliktisches Handeln gestützt sind, keine Grundlage.

1. Das ergibt sich nach der vom Senat vorgenommenen Zeugenvernehmung und der in beiden Instanzen durchgeführten sachverständigen Begutachtung. Soweit der Kl. Einwände gegen den erhobenen Sachverständigenbeweis erhebt, vermag er damit nicht durchzudringen: Die Rüge, die beauftragte Gutachterin Prof. Dr. Z sei im Anschluß an die Vorlage ihrer schriftlichen Ausführungen nicht ergänzend vor dem LG befragt worden, hat sich dadurch erledigt, daß die unterbliebene Anhörung vom Senat nachgeholt worden ist. Der Vorwurf des Kl., die Heranziehung von Frau Prof. Dr. Z sei bereits im Ansatz mangelhaft gewesen, weil die Gutachterin in dem grundlegenden Beweisbeschluß des LG nicht fest bezeichnet worden sei, geht fehl. Der entsprechende Beschluß hat "den ärztlichen Leiter der psychiatrischen Universitätsklinik des Saarlands oder einen von ihm zu bestellenden Vertreter" zum Sachverständigen bestimmt. Das war eine ausreichende Grundlage für die Tätigkeit von Frau Prof. Dr. Z, die leitende Oberärztin der genannten Klinik ist. § 404 I ZPO, der dem Prozeßgericht die "Auswahl der zuzuziehenden Sachverständigen" aufgibt, verlangt nicht, daß die Person eines Gutachters gerichtlicherseits festgelegt wird. Es genügt, daß lediglich eine Einrichtung wie insbesondere ein Universitätsinstitut angesprochen und diesem dann intern die personelle Entscheidung überlassen ist (BVerwG, NJW 1969, 1591; a.A. Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 20. Aufl., § 404 Rdnr. 13). Im übrigen würde die Tätigkeit eines Sachverständigen, der ohne hinreichenden gerichtlichen Auftrag gehandelt hat, dadurch legitimiert, daß das Gericht - wie es im vorliegenden Fall geschehen ist - erkennen läßt, das es dessen Gutachten verwerten wird und die Parteien Stellung nehmen können (BGH, NJW 1985, 1399 = VersR 1985, 361 (363); Thomas/Putzo, ZPO, 10. Aufl., § 360 Rdnr. 4). Vor diesem Hintergrund kommt es nicht mehr darauf an, ob die Rüge der Bekl. nicht ohnehin an § 295 ZPO scheitern müßte.

2. Die Beweisaufnahme hat keinen Anhalt dafür geliefert, daß die Bekl. ihre Pflichten gegenüber dem Kl. verletzt hätte. Der Kl. ist, sobald er am Abend des 12. 5. 1991 in ein delirantes Stadium getreten war, in angemessener Weise versorgt worden, indem er nach ärztlicher Konsultation medikamentös therapiert und an sein Bett angegurtet wurde.

a) Eine weitergehende Prävention im Vorfeld dieser Maßnahmen war nicht angezeigt, weil es zunächst keinen greifbaren Hinweis darauf gab, daß der Kl. unter Alkoholentzugserscheinungen leiden könnte. Als er am 10. 5. 1991 im Klinikum der Bekl. aufgenommen wurde und die Möglichkeit bestanden hätte, ihn in der Psychiatrie zu behandeln, um einem Delirium gezielt vorbeugend entgegenzutreten, verschwieg er seine Alkoholabhängigkeit. Nachdem dann aufgrund der Entwicklung am Abend des 12. 5. 1991 gegen 21 Uhr der Verdacht auf ein einsetzendes Delirium bestand, trat der Kl. diesbezüglichen Vermutungen entgegen, indem er auf Befragen den regelmäßigen Konsum von Alkohol verneinte. Auf diese Weise wurde eine den tatsächlichen Verhältnissen entsprechende verläßliche Diagnose hinausgezögert. Die anschließend - nach der Einholung stationsärztlichen und dann psychiatrischen Rats - zur Bewältigung der Situation unternommenen Schritte waren nicht zu beanstanden.

b) Es ist nicht ersichtlich, daß die Verlegung des Kl. in die psychiatrische Klinik der Bekl., die am 10. 5. 1991 unstreitig möglich gewesen wäre, jetzt noch hätte durchgeführt werden können. Die Bekl. hat unter Vorlage der Belegungslisten für den 12. 5. 1991 aufgezeigt, daß die Aufnahmekapazität der Psychiatrie erschöpft war. Das ist nicht entkräftet. Infolgedessen mußte der Kl. an Ort und Stelle versorgt werden. Dies ist mit den zu Gebote stehenden Mitteln geschehen.

c) Zum einen wurden dem Kl. Medikamente verabreicht. Die Gabe von zwei Kapseln Distraneurin, die in einem Rhythmus von zwei Stunden wiederholt werden sollte, und von 60 Tropfen Haldol war nicht fehlerhaft. Die Sachverständige Prof. Dr. Z hat erläutert, daß bei einem Delirium Distraneurin wegen seiner schlaffördernden, sedierenden und antikonvulsiven Eigenschaft das Mittel der Wahl ist und zur zusätzlichen Beeinflussung produktiver Symptome wie namentlich Halluzinationen der Wirkstoff Haloperidol, wie er in dem verwandten Haldol enthalten ist, eingesetzt wird. Die Möglichkeit schädlicher Nebenwirkungen wie insbesondere einer erhöhten Selbstgefährdung, die der Kl. in den Raum gestellt hat, hat sie verneint. Auch an der Höhe der Dosis hat sie nichts auszusetzen vermocht. Eine Steigerung, die nach der Ansicht des Kl. ratsam gewesen wäre, wäre nicht nur nicht erforderlich, sondern risikoreich gewesen.

d) Abgesehen von der medikamentösen Behandlung, die auf eine Ruhigstellung abzielte, wurde der Kl. an seinem Bett fixiert. Dies ist, wie die Zeugen Dr. H und D bekundet haben, durch einen festsitzenden Bauchgurt geschehen. Es handelt sich dabei um eine Leibbandage mit Magnetverschlüssen, wie sie dem Senat im Termin vorgestellt worden und auch Gegenstand von praktischen Versuchen gewesen ist. Dabei haben sich keine Schwächen des Systems ergeben. Freilich schloß die Anbindung des Kl. nicht jede Möglichkeit einer Befreiung durch ein Herauswinden aus; delirante Patienten können in Ausnahmezustände geraten, in denen sie zu übermenschlichen körperlichen Leistungen in der Lage sind. Dies zeigt nicht nur der konkrete Fall, sondern entspricht auch der von den Zeugen Dr. H und D mitgeteilten allgemeinen Erfahrung. Das bedeutet jedoch nicht, daß es aus der damaligen Sicht der Dinge heraus richtig gewesen wäre, eine Vollfixierung vorzunehmen. Für eine solche Maßnahme bestand nach dem überzeugenden Urteil von Frau Prof. Dr. Z seinerzeit keine hinreichende Veranlassung. Der Kl. hatte insbesondere motorisch kein extremes Verhalten gezeigt, sondern war vielmehr - das belegen die Zeugenaussagen übereinstimmend - relativ ruhig und nahm auch das Anlegen des Bauchgurts hin, ohne Widerstand zu leisten. Infolge der sedierenden Wirkung der Medikamente war eher eine Verbesserung als eine Verschlechterung seines Zustands zu erwarten. Vor diesem Hintergrund hätte eine Vollfixierung eine unangemessene Belastung dargestellt, die den Kl. über Gebühr eingeschränkt und beeinträchtigt hätte.

e) Mit der Gabe der Medikamente und der Anbindung des Kl. ans Bett war möglichen Gefahren grundsätzlich hinreichend entgegengewirkt. Eine ununterbrochene Beaufsichtigung, die nach der konkreten Personalsituation vor Ort - die Station war lediglich mit der Zeugin D besetzt - im übrigen auch gar nicht möglich gewesen wäre, war nicht geboten (zu den davon verschiedenen Beobachtungspflichten für den Fall, daß eine Fixierung überhaupt unterblieben wäre vgl. OLG Köln, VersR 1984, 1078). Auch in dieser Sicht der Dinge folgt der Senat der Auffassung der Sachverständigen Prof. Dr. Z. Die von der Zeugin D bekundeten Überwachungsmaßnahmen genügten: Das Bett des Kl. wurde auf den gerade verlaufenden Stationsflur an eine Stelle verbracht, die auch von der Glaskabine der Zeugin D aus gut einsehbar war. Auf diese Weise wurde der Kl. in der halben Stunde, die zwischen der Fixierung am Bett und dem Sprung aus dem Fenster verging, mehrfach beobachtet, ohne daß dabei Auffälligkeiten zutage getreten wären.

3. Nach alledem ist der Bekl. kein Vorwurf zu machen, der das Klagebegehren tragen könnte. Die Entwicklung, die sich im vorliegenden Fall vollzog, war außergewöhnlich. Soweit die Bekl. aus der vorgefundenen Situation heraus überhaupt zu zusätzlichen Sicherungsmaßnahmen in der Lage gewesen wäre, waren diese in Abwägung aller Umstände nicht angezeigt.

Rechtsgebiete

Sozialrecht

Normen

BGB §§ 611ff, 823, 276; ZPO § 404 I