Kein versicherter Wegeunfall während Auftankens des Kraftfahrzeuges

Gericht

BSG


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

11. 08. 1998


Aktenzeichen

B 2 U 29/97 R


Leitsatz des Gerichts

Das Auftanken eines Kraftfahrzeugs an einer unmittelbar am Heimweg gelegenen Tankstelle für den Weg zur Arbeit am nächsten Tag steht in der Regel nicht unter Unfallversicherungsschutz.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Streitig ist, ob die bekl. Berufsgenossenschaft verpflichtet ist, die Kl. wegen der Folgen ihres Unfalls vom 7. 1. 1995 zu entschädigen; umstritten ist insbesondere, ob sie beim Auftanken des für den Weg von und zu ihrer Arbeitsstätte benutzten Pkw unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand. Die Kl. ist in D. als Kellnerin beschäftigt und wohnt in H. Am Samstag, dem 7. 1. 1995, legte sie den 130 km langen Heimweg wie gewohnt mit ihrem Pkw zurück. Nach Verlassen der Autobahn suchte sie gegen 19 Uhr eine unmittelbar an ihrem üblichen Weg von der Arbeit gelegene Tankstelle auf, um ihr Kraftfahrzeug, das bereits mit dem Reservekraftstoff fuhr, aufzutanken. Auf dem Tankstellengelände rutschte sie aus und zog sich eine Fraktur des rechten oberen Sprunggelenks zu. In ihrer Unfallanzeige gab ihre Arbeitgeberin an, die Kl. habe an nächsten Morgen wieder Dienst gehabt und deshalb noch am selben Abend tanken müssen, „da sonst der Sprit für die nächste Fahrt zur Arbeit nicht gereicht hätte“. Die Bekl. lehnte die Entschädigung des Unfalls vom 7. 1. 1995 ab, da das Tanken als eigenwirtschaftliche Tätigkeit nicht unter Unfallversicherungsschutz stehe und ein Ausnahmefall nicht gegeben sei, weil das Nachtanken nicht unerwartet erforderlich geworden sei.

SG und LSG haben der Klage stattgegeben. Die vom LSG zugelassene Revision der Bekl. hatte Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

II. ... Der geltend gemachte Anspruch der Kl. richtet sich noch nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO), da sich der Unfall vor Inkrafttreten des SGB VII am 1. 1. 1997 ereignet hat (Art. 36 Unfallversicherungs-EinordnungsG [UVEG], § 212 SGB VII).

Nach § 550 I RVO gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539 , 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Voraussetzung ist, daß das Verhalten, bei dem sich der Unfall ereignet hat, in einem inneren (sachlichen) Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit steht, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen. Der innere Zusammenhang ist gegeben, wenn die Zurücklegung des Weges der Aufnahme der versicherten Tätigkeit bzw. nach Beendigung dieser Tätigkeit der Erreichung der Wohnung oder eines dritten Ortes dient. Bei der Feststellung des inneren Zusammenhangs zwischen dem zum Unfall führenden Verhalten und der Betriebstätigkeit geht es um die Ermittlung der Grenze, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht. Es ist daher wertend zu entscheiden, ob das Handeln des Versicherten zur versicherten betrieblichen Tätigkeit bzw. wie hier zum Weg zu oder von der Arbeitsstätte gehört (BSGE 58, 76 [77] = SozR 2200 § 548 Nr. 70; BSG SozR 3-2200 § 550 Nrn. 1 und 14). Maßgeblich ist dabei die Handlungstendenz des Versicherten, so wie sie insbesondere durch objektive Umstände des Einzelfalls bestätigt wird (BSG, SozR 3-2200 § 550 Nrn. 4 und 16, jeweils m.w. Nachw.). Fehlt es an einem inneren Zusammenhang in diesem Sinne, scheidet ein Versicherungsschutz selbst dann aus, wenn sich der Unfall auf derselben Strecke ereignet, die der Versicherte auf dem Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit gewöhnlich benutzt (BSG, SozR 3-2200 § 550 Nrn. 4 und 16, jeweils m.w. Nachw.).

Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG hatte die Kl. auf ihrem Weg von der Arbeitsstätte nach Hause die unmittelbar an der - zu ihrer gewöhnlichen Strecke gehörenden - Straße gelegene Tankstelle zum Auftanken ihres Pkw angesteuert und war auf dem Tankstellengelände zu Fall gekommen. Während einer privaten Verrichtungen dienenden Unterbrechung des Weges zu und von dem Ort der Tätigkeit besteht nur dann Versicherungsschutz, wenn die Unterbrechung lediglich als nur geringfügig anzusehen ist (s. u.a. BSGE 20, 219 [221] = SozR Nr. 49 zu § 543 RVO a.F.; BSG, SozR 2200 § 550 Nr. 44; SozR 3-2200 § 550 Nr. 14 m.w. Nachw.; Brackmann-Krasney, Hdb. der Sozialversicherung, Gesetzliche Unfallversicherung, SGB VII, § 8 Rdnr. 54). Zwar ist der Versicherte auf dem Weg von oder zu dem Ort der Tätigkeit in der Regel im gesamten Bereich des öffentlichen Verkehrsraums geschützt; die Unterbrechung beginnt aber dann, wenn der Versicherte den öffentlichen Verkehrsraum verlassen hat, wobei es keinen Unterschied macht, ob er den Weg zu Fuß oder mit Hilfe eines Verkehrsmittels zurücklegt (vgl. BSGE 20, 219 [221f.] = SozR Nr. 49 zu § 543 RVO a.F.; BSGE 49, 16 [18] = SozR 2200 § 550 Nr. 41; BSG, SozR 3-2200 § 550 Nr. 14 m.w. Nachw.).

Die Kl. war auf diese Weise lediglich bis zum Verlassen des öffentlichen Verkehrsraums durch Erreichen des Tankstellengeländes unfallversichert und stand mithin im Zeitpunkt des Unfalls insoweit nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Bei dem Tankaufenthalt handelte es sich nicht um eine lediglich geringfügige Unterbrechung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit. Das Aufsuchen einer Tankstelle zum Betanken des für die Fahrt benutzten Kraftfahrzeugs stellt eine deutliche Zäsur innerhalb dieses Weges dar, die erheblich über die Erledigung eines privaten Geschäfts wie etwa die Besorgung von Zigaretten aus einem an der Straße aufgestellten Automaten, die der Senat als Beispiel für das Vorliegen einer solchen geringfügigen Unterbrechung genannt hat (BSG, SozR Nr. 28 zu § 543 RVO a.F.), hinausgeht, auch wenn die Tankstelle unmittelbar an dem Weg von oder zu dem Ort der Tätigkeit liegt (a.A. Lauterbach-Schwerdtfeger, SGB VII, § 8 Rdnr. 434). Dieses Geschäft kann nicht „im Vorbeigehen“ im öffentlichen Verkehrsraum (s. Brackmann-Krasney, § 8 Rdnr. 54) erledigt werden, vielmehr muß ein von diesem abgegrenztes Tankstellengelände betreten bzw. befahren werden; nach der Rechtsprechung des Senats reicht dies bereits aus, um die Unterbrechung des Weges in jedem Fall als wesentlich und nicht nur als geringfügig anzusehen (BSG, SozR 2200 § 550 Nr. 44). Im übrigen ist der Vorgang des Tankens insbesondere an den heute allgemein üblichen Selbstbedienungstankstellen auch weitaus aufwendiger als etwa das Ziehen von Zigaretten aus einem Automaten bzw. deren Kauf an einem Kiosk (Abstellen des Fahrzeuges an der Zapfsäule, Aussteigen, Öffnen des Tankdeckels, Befüllen des Tanks mit der Zapfpistole, Beendigung des Tankvorgangs, Gang zur Kasse und Bezahlung, Wiedereinsteigen und Weiterfahrt), so daß es auch vom Umfang der dafür notwendigen Verrichtungen her nicht als geringfügig angesehen werden kann.

Bei dem Auftanken des Pkw handelte es sich hier auch um eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit der Kl. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist das Auftanken eines zur Fahrt nach oder von dem Ort der Tätigkeit benutzten Kraftfahrzeuges grundsätzlich dem unversicherten persönlichen Lebensbereich des Versicherten zuzurechnen. Denn es handelt sich dabei um eine Verrichtung, die zwar üblicherweise der Aufnahme der Betriebstätigkeit vorangeht, der Betriebsarbeit aber zu fern steht, als daß sie schon dem persönlichen Lebensbereich des Beschäftigten entzogen und der unter Versicherungsschutz stehenden betrieblichen Sphäre, die in § 550 RVO auf die Wege nach und von dem Ort der Tätigkeit ausgedehnt ist, zuzurechnen wäre (s. u.a. BSGE 16, 77 [78] = NJW 1962, 1174 L = SozR Nr. 35 zu § 543 RVO a.F.; BSG, SozR 2200 § 550 Nr. 39). Eine andere rechtliche Beurteilung ist allerdings dann gerechtfertigt, wenn das Nachtanken während der Fahrt unvorhergesehen notwendig wird, damit der restliche Weg zurückgelegt werden kann (BSG, SozR Nr. 63 zu § 543 RVO a.F.; SozR 2200 § 550 Nr. 39; BSG, USK 84150). Als brauchbaren Anhaltspunkt für die Notwendigkeit des Tankens hat es der Senat dabei angesehen, daß sich entweder während oder aber auch schon bei Antritt der Fahrt die Notwendigkeit ergibt, den Inhalt des Reservetanks in Anspruch zu nehmen (BSG, SozR 2200 § 550 Nr. 39; BSG, USK 84150 m.w. Nachw.; Brackmann-Krasney, § 8 Rdnr. 212).

Die Tankanzeige im Pkw der Kl. hatte sich zwar schon im roten Bereich befunden, jedoch war der Tankaufenthalt nach den bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG nicht unerwartet erforderlich geworden, sondern von der Kl. geplant. Der restliche Heimweg hätte nach den berufungsgerichtlichen Feststellungen mit dem verbliebenen Tankinhalt zurückgelegt werden können, was auch der Kl. bekannt war. Ihre Handlungstendenz war demgemäß auch auf die Besorgung von Kraftstoff für den Weg zum Ort der Tätigkeit am nächsten Tag gerichtet. Wenn der mitgeführte Treibstoffvorrat zwar zur Neige geht, aber nach Kenntnis des Beschäftigten noch ausreicht, um den Endpunkt des Weges nach oder von der Arbeitsstätte zu erreichen, kann das Nachtanken aber regelmäßig nicht als betriebsbezogen angesehen werden (vgl. BSG, Urt. v. 28. 2. 1964 - 2 RU 22-61, teilweise veröff. in: BB 1964, 684). Damit bestand jedenfalls zwischen dem Tanken und dem Zurücklegen des weiteren Heimwegs, der nach den eigenen Angaben der Kl. nur noch zwei Minuten gedauert hätte, kein innerer Zusammenhang.

Dies gilt auch für das Vorliegen eines solchen Zusammenhangs mit der Zurücklegung des Weges zur Arbeitsstätte am folgenden (Sonn-)Tag. Es mag zwar - wie es das LSG sieht - vernünftigem und sachgemäßem Verhalten entsprochen haben, bereits auf der Rückfahrt des Vortages von der Arbeitsstätte die unmittelbar am Weg gelegene Tankstelle aufzusuchen und den Tank aufzufüllen, um nicht am nächsten Morgen Gefahr zu laufen, keine dienstbereite Tankstelle anzutreffen und so das Fahrtziel nicht rechtzeitig zu erreichen. Diese Umstände reichen jedoch nicht aus, um dem Tankaufenthalt die Eigenschaft einer die Aufnahme der Betriebsarbeit vorbereitenden und daher unversicherten Tätigkeit zu nehmen. Das Tanken wurde zwar bei Gelegenheit des Heimwegs vorgenommen, war aber konkret zur Zurücklegung des Weges zur Arbeit am nächsten Tag nicht unbedingt zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort erforderlich, sondern hätte ebensogut während der Freizeit der Kl. zwischen Rückkehr und Beginn der Fahrt zur Arbeit am nächsten Tag erledigt werden können. Es ist nicht festgestellt, widerspräche der allgemeinen Lebenserfahrung und wird auch von der Kl. nicht vorgetragen, daß in diesem Zeitraum keine Gelegenheit mehr bestanden hätte, Kraftstoff an dieser oder einer anderen Tankstelle in der Großstadt H. nachzutanken und so die Arbeitsstätte auch am Sonntag ohne die befürchtete Gefahr, wegen Kraftstoffmangels unterwegs „liegenzubleiben“, zu erreichen. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß die Versicherte insoweit über mehrere Auswahlmöglichkeiten verfügte, um nachzutanken, insoweit also nicht zeitlich und örtlich auf die konkret von ihr aufgesuchte Tankstelle angewiesen war. Diese auch sonst typischerweise anzutreffende Situation rechtfertigt aber gerade die grundsätzliche Ablehnung der Gewährung von Unfallversicherungsschutz beim Betanken des für die Fahrt zur Arbeitsstätte genutzten Kraftfahrzeugs (vgl. BSG, SozEntsch BSG IV § 550 Nr. 32 [Ls .]).

Dem steht die vom LSG herangezogene Entscheidung des 8. Senats des BSG vom 24. 1. 1995 (SozR 3-2200 § 548 Nr. 23) nicht entgegen, weil ihr ein wesentlich anders gelagerter Sachverhalt zugrundeliegt, der eine andere rechtliche Beurteilung verlangt. Die vom 8. Senat entschiedene Sache betrifft den Unfall eines Versicherten, dem von seinem Arbeitgeber während der planmäßigen Spätschicht mitgeteilt wurde, er solle am Folgetag entgegen dem bisherigen Plan in der Frühschicht (Beginn 6.00 Uhr) arbeiten. Er versuchte nach Arbeitsschluß, den Tank seines Pkw aufzufüllen, weil die Nadel der Tankanzeige bereits einige Zeit im roten Bereich stand, und verunglückte beim Versuch, eine Nachttankstelle aufzusuchen. Der 8. Senat hat die zusprechende Berufungsentscheidung bestätigt, weil der privatwirtschaftliche Aspekt des Tankens durch die ausschließlich im Interesse des Betriebs liegende unerwartete Einteilung in eine andere Schicht bei der Fahrt zum Nachtanken in den Hintergrund getreten sei. Die wesentlichen Umstände, die in diesem (Ausnahme-)Fall zur Annahme von Versicherungsschutz geführt haben, sind in der dem Senat vorliegenden Sache nicht gegeben. Die Einteilung zum (für einen Sonntag) frühen Arbeitsbeginn war für die Kl. nicht unerwartet, sondern planmäßig erfolgt. Für das Nachtanken stand der Kl. auch nicht nur die vom 8. Senat als zum Tanken üblicherweise nicht geeignet angesehene Nachtzeit zwischen Spät-und Frühschicht, sondern ein wesentlich längerer Zeitraum zur Verfügung, innerhalb dessen sich in städtisch strukturierten Gebieten erfahrungsgemäß viele Tankgelegenheiten bieten.

Rechtsgebiete

Versicherungsrecht; Sozialrecht

Normen

RVO § 550 I