Fehlerhafte Eingruppierung im Gefahrtarif der Verwaltungsberufsgenossenschaft
Gericht
SG Frankfurt a.M.
Art der Entscheidung
Urteil
Datum
15. 12. 2003
Aktenzeichen
S-16/U-108/00
Eine Auffang-Gefahrtarifstelle darf nur Anwendung finden, wenn andere Gefahrtarifstellen nicht in Betracht kommen.
Eine solche kommt in Betracht, wenn in einem späteren Gefahrtarif die andere Gefahrtarifstelle (für den gleichen Sachverhalt) herangezogen wird.
„Wissenschaft und Forschung“ beschränken sich nicht auf theoretische Gedankenspiele sondern umfassen auch die empirische und anwendungsbezogene Forschung.
Bei der Aufstellung eines neuen Gefahrtarifs sind Vergleiche, die für die Einordnung einer Unternehmensart in früher geltende Gefahrtarife geschlossen wurden, zu berücksichtigen; sie stellen ein Faktum für die Veranlagung der Unternehmensart im neuen Gefahrtarif dar.
Der Veranlagungsbescheid vom 31.03.1998 und der Widerspruchsbescheid vom 07.12.1999 und die auf dem Gefahrtarif 1998 beruhenden Beitragsbescheide werden aufgehoben.
Die Beklagte hat die Verfahrenskosten der Klägerin zu tragen.
TATBESTAND:
Die Klägerin wurde mit Veranlagungsbescheid vom 25.10.1999 als "Markt-, Meinungsforschungsunternehmen" in die Gefahrtarifstelle 53 des Gefahrtarifs 1998 veranlagt. Sie erhob Widerspruch, sie habe wohl keine gleichen oder ähnlichen Gefährdungsrisiken wie Sportartisten, Stuntmen, Tierdresseure o.ä.. Die Gefahrtarifstelle 53 sei völlig willkürlich gebildet worden, in der Vergangenheit sei nach einem gerichtlichen Vergleich eine weit günstigere Eingruppierung erfolgt. Die Beklagte erteilte den Widerspruchsbescheid vom 07.12.1999.
Die Klage ging am 10.01.2000 beim Sozialgericht Frankfurt am Main ein.
Es liege eine Ungleichbehandlung der Markt- und Sozialforschungsunternehmen vor. Ihre Tätigkeit habe mit den übrigen Unternehmensarten der Gefahrtarifstelle 53 nichts zu tun, ihre Arbeitsweise sei völlig anders, vergleichbar mit "Datenerfassung, Datenverarbeitung, Datenanwendung" (Gefahrtarifstelle 05) oder "Institut für Wissenschaft und Forschung" (Gefahrtarifstelle 17). Für 1984 bis 1989 sei damals eine Herabsetzung der Gefahrklasse um 50 % erfolgt. Für 1990 bis 1994 sei am 19.03.1997 ein gerichtlicher Vergleich geschlossen worden (Hessisches LSG L 3 U 1067/94). Von 1995 bis 1997 sei die Klägerin in der Gefahrtarifstelle 09 mit einer Gefahrklasse 1,1 "richtig" eingruppiert gewesen. Die Beklagte nehme eine zu hohe Anzahl der Markt- und Meinungsforschungsinstitute bei ihren Berechnungen an. Ihre Mitarbeiter verarbeiteten erhobene Daten mit Hilfe von EDV nach statistischen Methoden. Die Schwankungsbreite der Belastungsziffern werde bestritten. Bei der Gefahrtarifstelle 53 werde der Grad der Unfallgefahr im Unternehmen nicht berücksichtigt. Die Beiträge müssten von der Höhe der finanziellen Inanspruchnahme der Beklagten durch die Unternehmen abhängen. Die Höhe der Belastungsziffer spiele keine Rolle bei der Beitragshöhe. Der Vertreterversammlung habe kein gesichertes Zahlungsmaterial bei der Beschlussfassung vorgelegen. Die Markt- und Sozialforschungsinstitute würden ungleich gegenüber den Instituten für Wissenschaft und Forschung behandelt, auch sie erbrächten wissenschaftliche Leistungen. Das Belastungsprinzip dürfe nicht vollständig aufgehoben werden. Die Klägerin müsse zu den Instituten für Wissenschaft und Forschung hinzugenommen werden, es handele sich um einen Rechtsfehler von Anfang an. Die Klägerin hat das Urteil des Sozialgerichts München vom 25.07.2000 und das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 17.03.2000 und das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 31.03.2003 und das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 21.12.2000 vorgelegt. Die Zuordnung der Markt- und Sozialforschungsinstitute im Gefahrtarif 2001 zu Gefahrtarifstelle 17 (Institute für Wissenschaft und Forschung) zeige, dass die Argumentation der Beklagten unrichtig sei; das Urteil des BSG vom 14.11.1974 müsse die Beklagte kennen. Die Unternehmen der Gefahrtarifstelle 53 hätten kein gemeinsames Gefährdungsrisiko. Im Gefahrtarif 1995 sei eine richtige Zuordnung erfolgt. Eine Übergangsfrist könne der Beklagten wegen klarer falscher Rechtsanwendung nicht zustehen. Die Beklagte habe öffentlichrechtlich finanzierte Sozialforschungsinstitute schon immer zu den Instituten für Wissenschaft und Forschung gerechnet. Vorgelegt wird das Gutachten des Prof. Dr. Strothmann von 1984 und das Gutachten des Prof. Dr. Wiswede vom 30.11.1985 sowie die Buchveröffentlichung "Die Leser" von der Geschäftsführerin der Klägerin und das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 19.06.2002, den Beschluss des Bundessozialgerichts vom 16.12.2002 und das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 20.09.2002.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Veranlagungsbescheides vom 31.03.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.12.1999 und unter Aufhebung der Beitragsbescheide für 1998 und 1999 zu verurteilen, ihr für die Zeit ab dem 01.01.1998 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Veranlagungsbescheid zu erteilen,
der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat vorgetragen, nach dem Gesetz seien Gefahrengemeinschaften nach Gefährdungsrisiken zu bilden. Eine Mindesttarifstellengröße stelle den versicherungsmäßigen Risikoausgleich sicher. Den heterogenen Unternehmensarten der Gefahrtarifstelle 53 sei gemeinsam, dass sie aufgrund einer zu großen Schwankungsbreite ihrer jährlichen Belastungsziffer keine eigene Gefahrtarifstelle bilden konnten. Der Grad der Unfallgefahr sei gesetzlich nicht mehr relevant. Das Sozialgericht München habe in einem gleichgelagerten Verfahren die Klage abgewiesen, das Sozialgericht Frankfurt am Main ebenfalls. Die Markt- und Meinungsforscher seien eine kleine Unternehmensgruppe, durch die Zusammenfassung werde eine stabile Risikogemeinschaft geschaffen. Die Neuregelung im Gefahrtarif 2001 bedeute nicht die Rechtswidrigkeit vorhergehender Regelungen, es handele sich um eine Reaktion auf neue Erkenntnisse und Entwicklungen. Die Beklagte legt das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 11.12.2001 vor. Die eventuellen Unfallgefahren freiberuflich tätiger Interviewer hätten die Belastungen der Unternehmensgruppe nicht beeinflusst.
Das Sozialgericht hat Auskünfte eingeholt von der Arbeitsgemeinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute e.V. in Bonn vom 19.11.2003 und von dem Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen in Mannheim vom 01.12.2003.
Die Verwaltungsakten der Beklagten lagen vor. Beigezogen waren 3 Bd. Gerichtsakten L 3 U-889/02 und 2 Bd. Gerichtsakten S 10 U 1168/92. Im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten verwiesen.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
Die Klage ist zulässig. Sie ist frist- und formgerecht erhoben worden. Sonstige Zulässigkeitsmängel sind nicht ersichtlich.
Der Klage ist zu entsprechen, der Veranlagungsbescheid für 1998 und der Widerspruchsbescheid und die darauf beruhenden Beitragsbescheide sind rechtswidrig.
1. Das Sozialgericht sieht keine Verfassungswidrigkeit des § 157 SGB VII. Insoweit bezieht es sich auf das Urteil des BSG vom 24.06.2003 - B 2 U 21/02 R. Vorbehalt des Gesetzes und Wesentlichkeitstheorie bedeuten nicht, dass die Selbstverwaltung in Körperschaften öffentlichen Rechts unzulässig wäre. Darauf aber läuft die Argumentation der Klägerin hinaus; wenn alle finanziell relevanten Dinge durch Gesetze und Rechtsverordnungen geregelt sein müssen, sind nur noch dekorative Beiräte der Sozialversicherungsträger ebenso denkbar wie überflüssig.
2. Die Beklagte ist die für die Klägerin zuständige gesetzliche Unfallversicherung. Gewiss gibt es keine Rechtsverordnung nach § 122 SGB VII, wie es auch vorher keine nach § 646 RVO gegeben hat. § 122 SGB VII knüpft aber ausdrücklich an die bisher bestehenden Zuständigkeitsregeln der Berufsgenossenschaften an und erhält sie aufrecht, solange keine neue Regelung erfolgt. Damit ist auch die Auffangzuständigkeit der Beklagten ausreichend begründet. Einschlägig ist in diesem Zusammenhang Art. 3 § 1 des "Sechsten Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung" vom 09.02.1942 (RGBI 1942 I 107 = RArbBl 1942 II S. 194 ff.) und die Ziffern 3 und 10 des Erlasses des Reichsarbeitsministers vom 16.03.1942 (RArbBl a.a.O. S. 201) und die Verfügung des Reichsversicherungsamts vom 22.04.1942 (RArbBl a.a.O.: S. 287). Diese Normen als solche gelten fort (Art. 123 ff., Art. 129 GG).
3. Rechtmäßig ist auch die Verfahrensweise der Beklagten, im Gefahrtarif Auffang- und Zusammenfassungs-Gefahrtarifstellen zu schaffen, wie dies im Gefahrtarif 1998 in Ziffern 53 und 54 und im Gefahrtarif 2001 in Ziffern 55 und 56 erfolgt ist. Denn es ist erforderlich, zum Zweck des Risikoausgleichs und zur Anpassung von Zufälligkeiten in der Schwankungsbreite der Entschädigungsleistungen brauchbare und versicherungstechnisch handhabbare Mindesttarifstellengrößen zu schaffen. Dies wird in der Praxis zu einer Art "Gemischtwarenladen" am Ende des Gefahrtarifs führen.
4. Nicht rechtmäßig war es aber, die Klägerin als Marktforschungs- oder Meinungsforschungsunternehmen in die Gefahrtarifstelle 53 des Gefahrtarifs 1998 zu veranlagen, weil die Aufnahme dieser Unternehmensart in die Auffang- und Zusammenfassungs-Gefahrtarifstelle 53 des Gefahrtarifs 1998 rechtswidrig und unzulässig ist. Aus dem Sinn der total durcheinander gemischten Auffang-Gefahrtarifstelle 53 ergibt sich, dass ihre Anwendung nur erfolgen darf, wenn sie subsidiär geboten ist, d.h. wenn eine andere Gefahrtarifstelle nicht in Betracht kommen kann. Dies ist aber vorliegend der Fall. Erstens hat die Beklagte die streitige Unternehmensart im Gefahrtarif 2001 der Gefahrtarifstelle 17 zugeschlagen, was sich aus den "Hinweisen zur Branchenzuordnung - Abgrenzung der Gefahrengemeinschaften" als amtlicher Interpretation ergibt; diese Zuordnung hätte auch schon im Gefahrtarif 1998 erfolgen können. Zweitens hat die Klägerin unwidersprochen vorgetragen, dass öffentlich-rechtlich organisierte Markt- und Meinungsforschungseinrichtungen von der Beklagten schon immer als "Institut für Wissenschaft und Forschung" angesehen worden sind (Schreiben vom 29.10.2003, Bl. 431 f Gerichtsakte). Drittens beschränkt sich "Wissenschaft und Forschung" nicht auf bloße theoretische Gedankenspiele, sondern umfasst durchaus auch die empirische und anwendungsbezogene Forschung und wissenschaftliche Tätigkeit; dass eine solche aber von der Klägerin erbracht wird, dürfte unumstritten sein (vgl. die von der Klägerin vorgelegten Gutachten des Prof. Dr. Strothmann vom 23.07.1984 und des Prof. Dr. Wiswede vom November 1985 - vorgelegt als K 38 und K 40 - sowie das vom Vorsitzenden beigebrachte Urteil des BFH vom 27.02.1992). Viertens hat die Beklagte bei der Aufstellung des Gefahrtarifs 1998 versäumt, dem am 19.03.1997 vor dem Hessischen LSG geschlossenen Vergleich Rechnung zu. tragen, dessen Vereinbarungen ein bedeutsames und nicht ignorierbares Faktum für die Veranlagung der streitigen Unternehmensart geschaffen hatten.
5. Die Gewährung einer Übergangszeit für die Beklagte zur weiteren Beobachtung und besseren Eingruppierung kam vorliegend aus den oben unter 4. (dort drittens und viertens) genannten Gründen nicht in Betracht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Rechtsmittelbelehrung
Dieses Urteil kann mit der Berufung angefochten werden.
Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim Hessischen Landessozialgericht, Steubenplatz 14, 64293 Darmstadt (FAX-Nr. 06151 / 804 - 350), schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten / der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle einzulegen.
Die Berufungsfrist ist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Monatsfrist bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main, Adickesallee 36, 60322 Frankfurt am Main (FAX-Nr. 069 / 15 35 - 666), schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten / der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle eingelegt wird.
Die Berufungsschrift muss innerhalb der Monatsfrist bei einem der vorgenannten Gerichte eingehen. Sie soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung der Berufung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.
Auf Antrag kann vom Sozialgericht durch Beschluss die Revision zum Bundessozialgericht zugelassen werden, wenn der Gegner schriftlich zustimmt. Der Antrag auf Zulassung der Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils bei dem Sozialgericht Frankfurt am Main schriftlich zu stellen. Die Zustimmung des Gegners ist dem Antrag beizufügen.
Lehnt das Sozialgericht den Antrag auf Zulassung der Revision durch Beschluss ab, so beginnt mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Berufungsfrist von neuem, sofern der Antrag auf Zulassung der Revision in der gesetzlichen Form und Frist gestellt und die Zustimmungserklärung des Gegners beigefügt war.
gez. Dr. Schickedanz
Richter am SG
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