Höhe des Pflegegeldes
Gericht
BSG
Art der Entscheidung
Revisionsurteil
Datum
08. 12. 1998
Aktenzeichen
B 2 U 5/98
Die Berufsgenossenschaft übt ihr Ermessen nicht sachgerecht aus, wenn sie im Falle einer Wohnsitzverlegung des Verletzten ins Ausland die Höhe des Pflegegeldes im Wege der Neufeststellung durch schematische Umrechnung entsprechend der Kaufkraftparität ändert, ohne die individuellen Verhältnisse des Verletzten zu berücksichtigen.
Auszüge aus dem Sachverhalt:
Zwischen den Bet. ist die Höhe des Pflegegeldes wegen Berücksichtigung des Kaufkraftunterschiedes zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Spanien streitig.
Der im Jahre 1949 geborene Kl. erlitt am 20. 2. 1990 bei einemArbeitsunfall Walzenquetschverletzungen beider Unterarme und Hände. Wegen der sich daraus ergebenden Gebrauchsunfähigkeit beider Hände, was praktisch dem Verlust beider Arme im Unterarmgleichzusetzen ist, gewährt die Bekl. die Verletztenrente in Höhe der Vollrente.
Entsprechend den für Ohnhänder geltenden Richtlinien bewilligte die Bekl. dem Kl. ferner Pflegegeld auf Dauer in Höhe von 60% des Höchstbetrages. Im Juni 1994 entsprach dies aufgrund derjährlichen Anpassungen der Geldleistungen einem monatlichen Pflegegeld von 1222,60 DM. Ab dem 1. 7. 1994 hatte sich das Pflegegeld durch die jährliche Aktualisierung der Geldleistung um1,0305% auf 1259,90 DM erhöht, wenn der Kl. seinen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland beibehalten hätte. Wegen der zwischenzeitlich erfolgten Rückkehr des Kl. in sein HeimatlandSpanien gewährte die Bekl. ab Juli 1994 statt dessen lediglich 1104,00 DM, entsprechend 90995 spanische Peseten: Im Rahmen der Anpassung der Leistungen zum 1. 7. 1994 sei das Pflegegeld,wie bei den Unfallversicherungsträgern üblich, zugleich dem Lebenshaltungskostenindex in Spanien angeglichen worden.
Das SG hat die Klage abgewiesen. Das LSG hat das Urteil des SG aufgehoben. Die Revision hatte keinen Erfolg.
Auszüge aus den Gründen:
In der Sache selbst hat das LSG die angefochtenen Bescheide der Bekl. zu Recht aufgehoben; denn sie sind rechtswidrig, soweit sie das Pflegegeld aufgrund eines Kaufkraftparitätsunterschiedes gekürzt haben.
Bei der Beurteilung ist entgegen der Ansicht des LSG hinsichtlich des streitigen Pflegegeldes allerdings nicht zwischender Zeit bis 31. 12. 1996 und danach zu unterscheiden. Der geltend gemachte Pflegegeldanspruch für den gesamten Zeitraum richtet sich noch nach den Vorschriften der RVO,weil der Arbeitsunfall vom 20. 2. 1990 als Versicherungsfall (§ 7 I SGB VII ) vor dem Inkrafttreten des SGB VII am 1. 1. 1997 eingetreten ist (Art. 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes [UVEG], § 212 SGB VII ). Dies gilt auchfür die Zeit der Pflegegeldleistungen ab dem 1. 1. 1997. Nach § 214 I 1 Halbs. 1 SGB VII , der Ausnahmen von § 212 SGB VII regelt, wäre das neue Recht hinsichtlich derRegelungen über Leistungen bei Pflegebedürftigkeit gemäß § 44 SGB VII zwar auch auf frühere Versicherungsfälle anzuwenden. Nach § 214 I 1 Halbs. 2 SGB VII gilt dies bei Leistungen an Berechtigte im Ausland, wie den Kl., nur fürVersicherungsfälle nach dem Tag des Inkrafttretens des SGB VII. Es verbleibt somit auch für die Zeit ab dem 1. 1. 1997 bei der grundsätzlichen Regelung des § 212 SGB VII .
Zutreffend hat das LSG erkannt, daß als Rechtsgrundlagefür eine Kürzung des Pflegegeldes nur § 48 I 1 SGB X in Betracht kommt. Denn mit Bescheid vom 15. 10. 1991 war dem Kl. bindend Pflegegeld auf Dauer in Höhe von 60% desHöchstbetrages zuerkannt worden. Nach § 48 I 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlaß vorgelegen haben,eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eintritt. Die Bewilligung des Pflegegeldes erfolgte durch einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Denn es wurde eine regelmäßig wiederkehrende Leistung zugesprochen, so daß der Verwaltungsakt regelmäßig rechtliche Bedeutung über den Zeitpunkt der Bekanntgabe hinaus äußerte (vgl BSG SozR 1300 § 48 Nr 28). Bei Vergleich mit den bei der Pflegegeldgewährung maßgebend gewesenen Verhältnissen sind sowohl rechtliche als auch tatsächliche Änderungen eingetreten. Die rechtlichen Verhältnisse, die zur Zeit des Erlasses desBescheides vom 15. 10. 1991 vorgelegen haben, wurden aufgrund der jährlichen Anpassungsregelungen durch die Rentenanpassungsgesetze (RAG) für die Jahre 1994 bis 1997geändert. Diese regelmäßige gesetzliche Rentenanpassung stellt eine wesentliche Änderung zugunsten des Betroffenen iS des § 48 I SGB X dar (BSG SozR 1300 § 48 Nrn 51 und54; BSG SozR 3-2600 § 63 Nr 1; Schroeder-Printzen/Wiesner, SGB C, 3. Aufl. § 48 RdNr. 8). Als eine eingetretene tatsächliche Änderung der Verhältnisse ist auch die Verlegung des Wohnsitzes in ein anderes Land anzusehen (vgl Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 4. Aufl § 558 RdNr 10.3). Der Kl. ist auf Dauer nach Spanien zurückgekehrt. Entsprechend den eingetretenentatsächlichen und rechtlichen Änderungen enthalten die angefochtenen Bescheide vom 9./14. 6. 1994, 8. 6. 1995, 8. 6. 1996 und 8. 6. 1997 jeweils zwei selbständige Regelungen. Sie regeln einerseits die Aufhebung des mit Bescheid vom 15. 10. 1991 bewilligten Pflegegeldes gemäß § 579 I RVO durch Multiplikation mit dem Anpassungsfaktor des jeweiligen RAG der Jahre 1994 bis 1997 im Rahmender jeweiligen ebenfalls angepaßten Mindest- und Höchstbeträge gemäß § 579 II , § 558 III 3 RVO. Andererseits hat die Bekl. in den Bescheiden jeweils eine weitere Anhebung des mit Bescheid vom 15. 10. 1991 anerkannten Pflegegeldes auf den aktuellen Wert nach dem jeweiligen RAG durchKürzung des Betrages zum Ausgleich der Differenz in den Verbrauchergeldparitäten zwischen Deutschland und Spanien versagt bzw den bisher gezahlten Pflegegeldbetrag weiter gemindert. Der Kl. wendet sich gegen diese Kürzung des Pflegegeldes.
In die Bestandskraft des früheren Bescheides vom 15. 10.1991 über die Gewährung von Pflegegeld darf aber nur in bestimmten Grenzen eingegriffen werden, nämlich nur „soweit„ sich die Verhältnisse wesentlich geändert haben (vgl BSG SozR 1300 § 48 Nr 21). Nur „soweit„ die Änderungreicht, ist aufzuheben und kann neu entschieden werden. Dies kann eine zeitliche, aber auch inhaltliche, zB betragsmäßige Einschränkung bedeuten (vgl Schroeder-Printzen/Wiesner, aaO, RdNr 1). Es genügt daher nicht, lediglich die wesentliche Änderung als solche und deren Eintritt festzustellen. Es ist erforderlich, den zulässigen Umfang eines Eingriffs in die Bestandskraft des Bescheides zu ermitteln. Füreine Kürzung des Pflegegeldes im Wege einer Neufeststellung gemäß § 48 I 1 SGB X sind daher Feststellungen erforderlich, ob und inwieweit sich der Umstand des Umzugs des Kl. nach Spanien auf die Höhe des Pflegegeldes auswirkte. Der Gesetzgeber hat aber in § 558 III RVO sowohl die Entscheidung, ob statt Pflege ein Pflegegeld gewährt wird, alsauch die Entscheidung, in welcher Höhe dies innerhalb des von § 558 III 2 RVO vorgegebenen Rahmens geschieht, in das Ermessen des Versicherungsträgers gestellt. Bei Ermessensentscheidungen genügt als wesentliche Änderung dievon Umständen, die der Behörde eine abweichende Ermessensausübung ermöglicht hätten, jedoch stets nur in dem Umfang, in dem sie tatsächlich gehandhabt werden (vgl Schroeder-Printzen/Wiesner, aaO, RdNr 6). Daher steht aucheine Änderung der Höhe des Pflegegeldes im Wege der Neufeststellung gemäß § 48 I 1 SGB X als abweichende Ermessensausübung wiederum im Ermessen des Unfallversicherungsträgers. Bei diesem durch § 558 III 1 RVO eingeräumten Ermessen, das sich hier auf die Entscheidung beschränkt, in welcher Höhe das Pflegegeld innerhalb des von § 558 III 2 RVO vorgegebenen Rahmens im Hinblick aufden erfolgten Umzug nach Spanien zu gewähren ist, wird der Verwaltung die Möglichkeit eröffnet, nach eigener Abwägung dem Zweck der Ermächtigung entsprechend zwischen mehreren rechtmäßigen Handlungsweisen zu wählen. Für die Bestimmung der Höhe des Pflegegeldes lassen sichdaher auch hier keine generell verbindlichen Kriterien festlegen. Maßgebend sind vielmehr im Einzelfall die individuellen Verhältnisse des Verletzten (vgl BSG SozR 3-2200 § 558 Nr 1). Neben Art und Schwere der erlittenen Unfallverletzung sowie dem Ausmaß der konkreten Hilflosigkeit kommen bei der Abwägung auch der Umfang der tatsächlich gewährten Hilfe und die dadurch bedingten Kosten sowie die evtl Aufwendungen des Verletzten, die zur Absicherung der ihn pflegenden Ehefrau in der gesetzlichen Rentenversicherung erforderlich sind, in Betracht (vgl BSGaaO; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 558 RVO, Anm 17;Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 560r; Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, aaO, § 558 RdNr 10). Die vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften herausgegebenen, auf das Ausmaß der Hilflosigkeit abstellenden „Anhaltspunkte für die Bemessung von Pflegegeld„ (Rundschreiben vom 23. 1. 1986 VB 10/86, abgedruckt bei Lauterbach/Watermann, aaO, § 558 Anm 17 und bei Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, aaO, RdNr 10.1) beinhalten zwarwichtige, aber nicht alle maßgebenden Beurteilungskriterien. Sie dürfen daher nicht schematisch angewandt werden. Sie bieten damit nur einen Anhalt für eine flexible Entscheidung und können Grundlage für eine auf den Einzelfall abgestellte Entscheidung sein (vgl Lauterbach/Watermann, aaO).
Zutreffend weist daher das LSG darauf hin, daß selbstwenn durch den Umzug des Kl. nach Spanien ausgelöste Kaufkraftgewinne bei der Ermessensentscheidung hinsichtlich der Höhe des Pflegegeldes berücksichtigt werden können, dies nicht lediglich im Wege eines automatisierten Rechenprozesses erfolgen kann, wie ihn die Bekl. im vorliegenden Falle durch Umrechnung entsprechend der Kaufkraftparität angewandt hat. Wenn überhaupt, kann dies nur einer der Gesichtspunkte einer im Rahmen der Ermessensausübung anzustellenden Gesamtbetrachtung sein, die beider Abwägung der verschiedenen Momente, die der Entscheidung über die Höhe des Pflegegeldes zugrunde liegen, von Bedeutung sein können. Wie das LSG zu Recht festgestellt hat, lassen die angefochtenen Bescheide jegliche Ermessenserwägungen vermissen. Da die Bekl. das ihr eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt hat, hat das LSG zu Recht die angefochtenen Bescheide aufgehoben.
Der Senat hat bereits in seiner Entscheidung vom 24. 1.1990 (BSG SozR 3-2200 § 558 Nr 1) die maßgebenden Kriterien, die bei einer Ermessensentscheidung bei der Abwägung der Höhe des Pflegegeldes in Betracht kommen und zu beachten sind, herausgestellt. Auch nach der Verlegung des Wohnsitzes nach Spanien sind die individuellenVerhältnisse des Kl. maßgebend. Dabei ist auch den vom LSG angeführten Gesichtspunkten bei der Ermessensausübung Rechnung zu tragen. Zu Recht fordert das LSG die Prüfung, ob eine nach deutschem Schema ermittelte Differenz in der Verbrauchergeldparität überhaupt einen geeigneten Maßstab abgibt, um verläßliche Aufschlüsse über dieam Aufenthaltsort des zu Pflegenden anfallenden Pflegekosten zu geben. Ferner sind auch in Spanien die Aufwendungen des Kl. zur Altersabsicherung seiner ihn pflegenden Ehefrau zu berücksichtigen.
Vor allem die grundsätzlichen Bedenken des LSG gegen die Neufeststellung des Pflegegeldes durch Berücksichtigung des Kaufkraftunterschiedes zwischen Deutschland undSpanien sind beachtenswert. Denn nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG bestehen, wie sich aus den Statistischen Jahrbüchern ergibt, auch innerhalb des Gebietes der Bundesrepublik Deutschland erhebliche Kaufpreis- und Kostenunterschiede innerhalb der Bundesländer. Diese Unterschiede werden seitens der Unfallversicherungsträger beider Festsetzung des Pflegegeldes nicht berücksichtigt. Vielmehr erfolgt auch die Anpassung des Pflegegeldes nach dem jeweiligen RAG unabhängig vom Wohnsitz des Berechtigten im Inland (vgl Lauterbach/Watermann, aaO, § 579 RVO Anm 4d). Insoweit erscheint es überzeugend, wenn dasLSG im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz Verbrauchergeldparitätsunterschiede im Vergleich zu anderen Staaten nur dann in die Festsetzung des Pflegegeldes einbeziehen will, wenn im Rahmen einer pauschalierenden Betrachtungsweise sichergestellt ist, daß die Unterschiede zwischen In- und Ausland den Rahmen der bereits innerhalb derBundesrepublik Deutschland bestehenden Unterschiede nachhaltig überschreiten. Insbesondere sind aber dabei auch Art 48 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vtr), Art 10 I und 52 Buchstb der VO(EWG) Nr 1408/71 zu beachten.
Des weiteren ist zu berücksichtigen, daß das Pflegegeld anstelle der Sach- und Dienstleistungen in besonderem Maße die eigene Gestaltungsfreiheit des Pflegebedürftigen sichern soll. Mit dem Pflegegeld soll der Verletzte in die Lage versetzt werden, die notwendige Pflege in geeigneter Weiseselbst sicherzustellen (vgl Podzun/Nehls, Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl, Kennzahl 345 S 5). Zugleich sichert damit das Pflegegeld einen größeren Bereich der persönlichen Freiheit, seine Mittel dort einzusetzen, wo es der ihm gewährten Pflege nach seiner Einschätzung am besten entspricht. Auchsoll das Pflegegeld als Anreiz zugunsten des Verletzten dienen, durch Inanspruchnahme der Familienangehörigen die Pflege in der gewohnten Umgebung durchzuführen und so zur Entlastung der regelmäßig höheren Kosten der Pflegegemäß § 558 II RVO beitragen. Zutreffend weist das LSG darauf hin, daß es nicht von vornherein zu einer Kürzung des Pflegegeldes führen darf, wenn der Verletzte sich so um eine Reduzierung der Pflegekosten bemüht. Es würde dem Ziel des Pflegegeldes, die häusliche Pflegebereitschaft zu fördern, zuwiderlaufen, durch eine enge, dem Sinn und Zweck des Pflegegeldes nicht entsprechende Auslegung jeden dem Verletzten aus der persönlichen Gestaltung der privaten Lebensumstände erwachsenden Kostenvorteil zu seinen Lastenzu berücksichtigen. Auch diesen Umstand hat die Bekl. im Rahmen ihrer Ermessensausübung bei der Bewertung der Verbrauchergeldparitätsunterschiede zu bewerten. Wie dasLSG im übrigen zu Recht darauf hinweist, fordert das Gleichbehandlungsgebot des Art 3 I GG keine restriktive Auslegung hinsichtlich der Verbrauchergeldparität, da es jedem Pflegegeldempfänger freisteht, seinen Wohnsitz in dasAusland zu verlegen und dort evtl Kostenvorteile bei der Pflege zu erzielen.
Da sich die angefochtenen Bescheide mangels Ermessensausübung bereits nach innerstaatlichem Recht als rechtswidrig erweisen, bedarf es keiner Entscheidung, ob sie etwa gegen EG-rechtliche Vorschriften (Art 52 Buchstb der VO [EWG] Nr 1408/71) verstoßen.
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