Übermittlung fristwahrender Schriftsätze per Telefax

Gericht

BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats)


Art der Entscheidung

Beschluss über Verfassungsbeschwerde


Datum

01. 08. 1996


Aktenzeichen

1 BvR 121/95


Leitsatz des Gerichts

Gelingt die Übertragung eines fristgebundenen Schriftsatzes per Telefax an ein Gericht aufgrund eines Papierstaus oder einer Leitungsstörung nicht rechtzeitig, so ist der Sender nicht dafür verantwortlich zu machen. Er hat alles Erforderliche zur Übermittlung getan, wenn er das Dokument ordnungsgemäß und gewissenhaft so zeitig abschickt, dass es unter normalen Umständen fristgerecht ankommen würde.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, nachdem die Übermittlung fristwahrender Schriftsätze per Telefax gescheitert war. Die Bf., eine GmbH in Liquidation, unterlag in fünf Kündigungsschutzverfahren vor dem ArbG Schwerin. Ihr Liquidator ist als Rechtsanwalt in einer Anwaltskanzlei tätig, die ein Zweitbüro am Sitz des zuständigen LAG in Rostock hat. Zweitinstanzlich ließ sich die Bf. durch einen Prozeßbevollmächtigten aus Hamburg vertreten. Dessen Berufungsbegründungen gingen erst einen Tag nach Ablauf der verlängerten Begründungsfrist beim LAG ein. Die Bf. beantragte fristgerecht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Am letzten Tag der Begründungsfrist sei bis 20.31 Uhr vergeblich versucht worden, die jeweilige Begründung per Fax von Hamburg dem Gericht in Rostock zu übermitteln. Es sei nicht zu klären, ob dies auf einem Defekt oder Papiermangel beim Empfangsgerät des LAG oder auf einer Leitungsstörung beruhe. Bei einer Telefonkontrolle der Fax-Leitung sei das Freizeichen ertönt. Das LAG verwarf die Berufungen als unzulässig, ohne zu klären, worauf die gescheiterte Übermittlung per Fax zurückzuführen war. Die Revisionen wurden vom BAG zur gemeinsamen Entscheidung verbunden und zurückgewiesen. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde macht die Bf. geltend, sie habe darauf vertrauen dürfen, daß die von den Gerichten zur Verfügung gestellten Kommunikationseinrichtungen auch funktionsfähig seien. Außerdem sei Art. 101 I 2 GG verletzt.

Die Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Das BVerfG hob das Urteil des BAG und die Urteile des LAG Mecklenburg-Vorpommern auf und verwies die Sache an das LAG zurück.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

B. I. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Sie ist innerhalb der Frist des § 93 I 1 BVerfGG eingelegt worden. Allerdings sind die letzte Seite der Beschwerdeschrift mit der Unterschrift des Prozeßbevollmächtigten der Bf. sowie die beigefügten Anlagen erst nach Fristablauf ausgedruckt worden. Die ankommenden Signale sind jedoch von einem Telefaxgerät des BVerfG, das einen Internspeicher besitzt, noch am letzten Tag der Frist empfangen worden. Dies ergibt sich aus einem entsprechenden Vermerk auf dem Fax-Ausdruck. Der Zugang eines Telefaxes ist zu fingieren, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß die abgesandten Signale eingegangen sind, das Empfangsgerät daraus aber keinen vollständigen Ausdruck gefertigt hat (so schon für den Bereich der Zivilprozeßordnung: BGHZ 105, 40 (44f.) = NJW 1988, 2788 = LM Art. 2 GrundG Nr. 57; BGH, NJW 1994, 1881 (1882)). Die Verfassungsbeschwerde ist damit fristgerecht eingegangen.

II. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der in § 90 I BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93a II lit. b BVerfGG). Die Bf. ist offensichtlich in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 I GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt. Das BVerfG hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits geklärt (§ 93c I 1 BVerfGG).

1. Der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 I GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (BVerfGE 69, 381 (385) = NJW 1986, 244, st. Rspr.; zuletzt BVerfGE 88, 118 (123ff.) = NJW 1993, 1635). Die Gerichte dürfen daher bei Auslegung der die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand regelnden Vorschriften die Anforderungen an das, was der Betroffene veranlaßt haben muß, um Wiedereinsetzung zu erlangen, nicht überspannen (BVerfGE 40, 88 (91) = NJW 1975, 1355; BVerfGE 67, 208 (212f.) = NJW 1984, 2564; st. Rspr.). Allerdings sind die nach der jeweiligen prozessualen Lage gegebenen und zumutbaren Anstrengungen zur Wahrung des rechtlichen Gehörs zu verlangen (BVerfGE 74, 220 (255) = NJW 1987, 1191). Etwaige Fristversäumnisse, die auf der Verzögerung der Entgegennahme von Schriftsätzen durch das Gericht beruhen, dürfen dem Bürger aber nicht angelastet werden (BVerfGE 52, 203 (207) = NJW 1980, 580 m.w. Nachw.). Ebensowenig darf auf ihn die Verantwortung für Risiken und Unsicherheiten bei der Entgegennahme rechtzeitig in den Gewahrsam des Gerichts gelangter fristwahrender Schriftsätze abgewälzt werden, sofern die Ursache hierfür allein in der Sphäre des Gerichts zu finden ist (BVerfGE 69, 381 (386) = NJW 1986, 244).

2. Diesem verfassungsrechtlichen Maßstab werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Sie überspannen die vom Prozeßbevollmächtigten der Bf. zu erfüllenden Sorgfaltspflichten und wälzen Risiken bei der Benutzung eines Faxgerätes, die allein in der Sphäre des Gerichts liegen, auf den rechtsuchenden Bürger ab.

Das LAG hat nicht geklärt, ob die Übermittlung per Telefax wegen Leitungsstörungen oder wegen eines Fehlers am Gerät des LAG gescheitert ist. Das Scheitern war jedenfalls nicht auf eine Überlastung der Leitungen zurückzuführen. Dies ergibt sich aus dem unbestrittenen Vortrag des Prozeßbevollmächtigten der Bf., bei einem Kontrollanruf sei ein Freizeichen ertönt. In beiden denkbaren Störfällen durften die Gerichte jedoch keine weiteren Anstrengungen des Prozeßbevollmächtigten der Bf. zur fristgerechten Übermittlung der Berufungsbegründungen verlangen.

Die Übermittlung fristwahrender Schriftsätze per Telefax ist in allen Gerichtszweigen uneingeschränkt zulässig (Hoppmann,VersR 1992, 1068 (Fußn. 6 m.w. Nachw.); s. auch BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NJW-RR 1995, 441 (442)). Wird dieser Übermittlungsweg durch ein Gericht eröffnet, so dürfen die aus den technischen Gegebenheiten dieses Kommunikationsmittels herrührenden besonderen Risiken nicht auf den Nutzer dieses Mediums abgewälzt werden. Dies gilt im besonderen für Störungen des Empfangsgeräts im Gericht. In diesem Fall liegt die entscheidende Ursache für die Fristsäumnis in der Sphäre des Gerichts. Aber auch Störungen der Übermittlungsleitungen sind dem gewählten Übermittlungsmedium immanent, da ein Telefax nur über sie zum Empfangsgerät gelangt. Erst Leitungen und Gerät gemeinsam stellen die vom Gericht eröffnete Zugangsmöglichkeit dar. Auch bei einer Leitungsstörung versagt daher die von der Justiz angebotene Zugangseinrichtung. Der Nutzer hat mit der Wahl eines anerkannten Übermittlungsmediums, der ordnungsgemäßen Nutzung eines funktionsfähigen Sendegeräts und der korrekten Eingabe der Empfängernummer das seinerseits Erforderliche zur Fristwahrung getan, wenn er so rechtzeitig mit der Übermittlung beginnt, daß unter normalen Umständen mit ihrem Abschluß bis 24.00 Uhr zu rechnen ist.

Von einem Rechtsanwalt, der sich und seine organisatorischen Vorkehrungen darauf eingerichtet hat, einen Schriftsatz weder selbst noch durch Boten oder per Post, sondern durch Fax zu übermitteln, kann daher beim Scheitern der gewählten Übermittlung infolge eines Defekts des Empfangsgeräts oder wegen Leitungsstörungen nicht verlangt werden, daß er innerhalb kürzester Zeit eine andere als die gewählte, vom Gericht offiziell eröffnete Zugangsart sicherstellt. Fristen sollen die Gerichte vor unangemessenen Verfahrensverzögerungen schützen (vgl. BVerfGE 88, 118 (124) = NJW 1993, 1635). Eine Verzögerung, die allein infolge eines in der Sphäre des Gerichts liegenden Umstandes eintritt, kann in diesem Sinne nicht als unangemessen betrachtet werden.

Die den angegriffenen Entscheidungen zugrundeliegende Auffassung (ähnlich: BGH, NJW 1992, 244 = LM H.3/1992 § 233 (Gd) ZPO Nr. 11; BGH, NJW 1995, 1431 (1432) = LM H.7/1995 § 233 (Gd) ZPO Nr. 13; BAGE 65, 255 (259) = NZA 1990, 985; BSG, AP Nr. 26 zu § 233 ZPO 1977 = NZS 1993, 515 = NZA 1993, 1056 L; OLG München, VersR 1991, 831) führt zudem zu einer Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte: Ein Prozeßbevollmächtigter, der seinen Schriftsatz bereits am frühen oder späten Nachmittag des letzten Tages der Frist fertiggestellt hat, müßte danach beim Scheitern einer Übermittlung per Telefax unter erheblichem Zeit- und Kostenaufwand alle nur denkbaren Anstrengungen unternehmen, um den fristgerechten Eingang bei Gericht doch noch sicherzustellen. Demgegenüber müßte ein Anwalt, der seinen Schriftsatz erst kurz vor Fristablauf fertigt, ohne weiteres Wiedereinsetzung erhalten, sofern er nur einen fehlgeschlagenen Übermittlungsversuch so zeitig begonnen hat, daß er unter normalen Umständen bis 24.00 Uhr abgeschlossen worden wäre (ähnlich BVerfGE 52, 203 (211f.) = NJW 1980, 580).

Rechtsgebiete

Verfahrens- und Zwangsvollstreckungsrecht

Normen

GG Art. 2 I, 101 I 2; BVerfGG § 93 I