Beweiswert ausländischer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen - Verweigerung der Entgeltfortzahlung

Gericht

BAG 5. Senat


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

19. 02. 1997


Aktenzeichen

5 AZR 83/96


Leitsatz des Gerichts

  1. Einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die in einem Land außerhalb der EU ausgestellt wurde, kommt im allgemeinen der gleiche Beweiswert zu wie einer in Deutschland ausgestellten Bescheinigung. Die Bescheinigung muß jedoch erkennen lassen, daß der ausländische Arzt zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit unterschieden und damit eine den Begriffen des deutschen Arbeits- und Sozialversicherungsrechts entsprechende Beurteilung vorgenommen hat (BAG 48, 115 = AP Nr. 4 zu § 3 LohnFG).

  2. § 7 Abs. 1 Nr. 1 EntgeltFG räumt dem Arbeitgeber nur das Recht ein, die Entgeltfortzahlung zeitweilig zu verweigern. Die Verletzung der Mitteilungspflichten des § 5 Abs. 2 Satz 1 EntgeltFG kann je nach den Umständen des Einzelfalls dazu führen, daß der Beweis für das Vorliegen der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als nicht erbracht anzusehen ist.

  3. Teilt der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber seine im Ausland eingetretene Arbeitsunfähigkeit telefonisch mit und fragt der Arbeitgeber nicht nach der Urlaubsanschrift, so kann er die Entgeltfortzahlung nicht mit der Begründung verweigern, ihm sei dadurch die Möglichkeit genommen worden, die Arbeitsunfähigkeit überprüfen zu lassen.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Parteien streiten um Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.

Der bei der Kl. gegen Krankheit versicherte ArbN E. war bei der Bekl. vom 26. 11. 1985 bis zum 31. 12. 1994 beschäftigt. Auf das ArbVerh. fand der gemeinsame Manteltarifvertrag der Hessischen Eisen-, Metall- und Elektroindustrie Anwendung.

Herr E. war bereits vom 26. 8. bis zum 13. 9. 1987 und vom 16. 8. bis zum 25. 8. 1989 in der Türkei arbeitsunfähig krank geschrieben worden, wo er damals seinen Urlaub verbrachte.

Seinen für die Zeit vom 1. 8. bis Anfang September 1994 bewilligten Urlaub verbrachte der ArbN wiederum in der Türkei. Am 25. 8. 1994 bescheinigte ihm der Vertragsarzt des zuständigen türkischen Sozialversicherungsträgers krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit wegen akuter Enteritis (Dünndarmentzündung). Davon unterrichtete der türkische Sozialversicherungsträger die Kl. auf dem nach dem deutsch-türkischen Abkommen über soziale Sicherheit und der dazu ergangenen Durchführungsvereinbarung vorgesehenen zweisprachigen Formblatt A/T 15. Darin heißt es u. a.:

"A. Antrag auf Leistungen 3. Der vorgenannte Versicherte hat am 25. 8. 1994 Geldleistungen beantragt wegen Arbeitsunfähigkeit infolge Akut enterit ... (Krankheitsbezeichnung), 4. Die Bescheinigung des ... Vertragsarztes ... ist beigefügt. ..."

Am Tag der Krankschreibung (25. 8. 1994) unterrichtete der ArbN seinen unmittelbaren Vorgesetzten telefonisch von seiner Arbeitsunfähigkeit. Am 29. 8. 1994 ging bei der Bekl. die schriftl. Auslandskrankmeldung ein. Sie wurde dem BetrRMitglied S. von einem türkischen Kollegen überbracht.

Am 4. 9. 1994 stellte ein anderer Vertragsarzt des türkischen Sozialversicherungsträgers die Fortdauer der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit des ArbN bei derselben Diagnose für die Zeit bis zum 13. 9. 1994 fest. Davon unterrichtete der türkische Sozialversicherungsträger die Kl. mit dem dafür vorgesehenen, am 22. 9. 1994 ausgestellten zweisprachigen Formular A/T 18. Am 13. 9. 1994 kehrte der ArbN in die Bundesrepublik zurück. An dem selben Tag unterrichtete er die Bekl. über die Verlängerung der Erkrankung. Am 14. 9. 1994 nahm der ArbN die Arbeit bei der Bekl. wieder auf.

Die Bekl. verweigerte die Entgeltfortzahlung, da Herr E. gegen seine Mitteilungspflichten aus § 5 Abs. 2 EFZG verstoßen habe. Daraufhin gewährte die Kl. dem ArbN Krankengeld für die Zeit vom 25. 8. bis zum 13. 9. 1994 in Höhe von insgesamt 1803,48 DM. Sie verlangt von der Bekl. Erstattung dieses Betrages.

Die Kl. hat vorgetragen: Der bei ihr versicherte ArbN sei arbeitsunfähig krank gewesen. Das sei durch die Atteste der Vertragsärzte des türkischen Sozialversicherungsträgers bewiesen. Die Bescheinigungen seien ordnungsgemäß ausgestellt worden. Der ArbN sei gründl. untersucht worden und habe sich mit dem Arzt, der die erste Bescheinigung ausgestellt habe, ausführl. über seinen Arbeitsplatz unterhalten. Die Bekl. könne sich nicht darauf berufen, daß der ArbN seine Urlaubsanschrift nicht mitgeteilt habe, was sie mit Nichtwissen bestreite. Sie habe ihn in dem Telefongespräch nicht danach gefragt. Sie habe auch seinen Kollegen nicht befragt, der die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung überbracht habe.

Die Kl. hat beantragt, die Bekl. zu verurteilen, an sie 1803,48 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 14. 2. 1995 zu zahlen.

Die Bekl. hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen: Es könne zwar zutreffen, daß der ArbN in der Türkei krank geworden sei. Er sei jedoch nicht arbeitsunfähig gewesen. Er habe aber schon deshalb keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung gehabt, weil er seine Urlaubsanschrift nicht mitgeteilt habe. Aus diesem Grunde sei es ihr unmöglich geworden, ihn an seinem Aufenthaltsort durch einen Arzt ihres Vertrauens untersuchen zu lassen. Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit ergäben sich daraus, daß Herr E. sich bereits 1987 und 1989 während seines Urlaubs in der Türkei habe krankschreiben lassen.

Das ArbG hat die Klage abgewiesen, das LAG hat ihr stattgegeben. Die Rev. der Bekl. ist nicht begründet.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Der Anspruch des ArbN auf Entgeltfortzahlung (§ 3 Abs. 1 EFZG) ist in Höhe des geleisteten Krankengeldes auf die Kl. übergegangen (§ 115 Abs. 1 SGB X). Der Beweis für die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit ist erbracht.

I. Der Entgeltfortzahlungsanspruch des in Deutschland beschäftigten in der Heimat erkrankten türkischen ArbN richtet sich ausschließl. nach deutschem Recht.

1. Allerdings erklären Art. 10 und 11 des Beschlusses Nr. 3/80 des EWG-türkischen Assoziationsrates (abgedruckt in: Assoziierungsabkommen und Protokolle EWG-Türkei sowie andere Basisdokumente, Brüssel 1992, S. 349) die Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf ArbN und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, mit bestimmten Modifikationen für anwendbar, darunter auch die Bestimmungen über Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft. Der EuGH hat aber mit Urt. vom 10. 9. 1996 (RS C-277/94 - EuroAS 1996, 168) entschieden, daß der genannte Beschluß in den Mitgliedsstaaten keine unmittelbare Wirkung hat und für den einzelnen nicht das Recht begründet, sich vor den innerstaatl. Gerichten darauf zu berufen, solange der Rat nicht die zur Durchführung dieses Beschlusses unerläßl. ergänzenden Maßnahmen erlassen hat. Mithin kann der Anspruch der Kl. nicht auf europarechtl. Vorschriften gestützt werden.

2. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 der vom 1. 6. 1994 bis zum 30. 9. 1996 geltenden Fassung des Entgeltfortzahlungsgesetzes (Art. 13 des Arbeitsrechtl. Beschäftigungsförderungsgesetzes vom 25. 9. 1996, BGBl. I S. 1476) verliert der ArbN, der durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne daß ihn ein Verschulden trifft, dadurch nicht den Anspruch auf Arbeitsentgelt für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen.

§ 5 Abs. 1 EntgeltFG erlegt dem ArbN bei Erkrankungen im Inland Anzeige- und Nachweispflichten auf, u. a. die Verpflichtung, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen, wenn die Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalendertage dauert. § 5 Abs. 2 EntgeltFG enthält Sonderregeln für den Fall der Erkrankung im Ausland. Nach § 5 Abs. 2 Satz 1 EntgeltFG ist der ArbN "verpflichtet, dem ArbGeb. die Arbeitsunfähigkeit, deren voraussichtl. Dauer und die Adresse am Aufenthaltsort in der schnellstmöglichen Art der Übermittlung mitzuteilen". Nach § 5 Abs. 2 Satz 3, 4 hat er die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtl. Dauer bzw. Fortdauer der deutschen Krankenkasse anzuzeigen; abweichend davon bestimmen Art. 18 der EWG-Verordnung Nr. 574/72 und zwischenstaatl. Sozialversicherungsabkommen wie das deutsch-türkische Abkommen über soziale Sicherheit nebst Durchführungsverordnung (abgedruckt in: Plöger/Wortmann, Deutsche Sozialversicherungsabkommen mit ausländischen Staaten, XX, Türkei), daß sich der ArbN an den ausländischen Sozialversicherungsträger zu wenden hat. Auch die deutschen Krankenkassen können dies festlegen (§ 5 Abs. 2 Satz 5 EntgeltFG).

II. Der dem Anspruchsteller obliegende Beweis für das Vorliegen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit ist durch die Bescheinigungen des türkischen Sozialversicherungsträgers erbracht.

1. Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat einen hohen Beweiswert. Sie ist der gesetzl. vorgesehene und damit wichtigste Beweis für die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit. Der Beweiswert ergibt sich aus der Lebenserfahrung; der Tatrichter kann normalerweise den Beweis der Erkrankung als erbracht ansehen, wenn der ArbN im Rechtsstreit eine solche Bescheinigung vorlegt. Der ArbGeb., der eine ärztl. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht gelten lassen will, muß im Rechtsstreit Umstände darlegen und beweisen, die zu ernsthaften Zweifeln an der behaupteten krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Anlaß geben. Das entspricht der st. Rechtspr. des BAG (vgl. nur BAG 28, 144, 146 = AP Nr. 2 zu § 3 LohnFG (I 2 der Gründe); BAG Urt. vom 4. 10. 1978 - 5 AZR 326/77 - AP Nr. 3 zu § 3 LohnFG (II 3a der Gründe); BAG 48, 115, 119 = AP Nr. 4 zu § 3 LohnFG (I 1a der Gründe); BAG 71, 9 = AP Nr. 98 zu § 1 LohnFG = EzA § 3 LohnFG Nr. 17 (II der Gründe); BAG Urt. vom 21. 3. 1996 - 2 AZR 543/95 - AP Nr. 42 zu § 123 BGB (B I 2 e der Gründe)).

Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dient dem außerprozessualen und prozessualen Nachweis der Arbeitsunfähigkeit. Sie hat keine anspruchsbegründende Bedeutung (BAG Urt. vom 27. 8. 1971 - 1 AZR 107/71 - AP Nr. 1 zu § 3 LohnFG; BAG Urt. vom 23. 1. 1985 - 5 AZR 592/82 - BAG 48, 11 = AP Nr. 63 zu § 1 LohnFG (I 3 der Gründe); BAG Urt. vom 12. 6. 1996 - 5 AZR 960/94 - AP Nr. 4 zu § 611 BGB Werkstudent (III 1 der Gründe)).

Diese Rechtspr. hat das BAG zunächst zu den am 1. 6. 1994 außer Kraft getretenen Vorschriften des Lohnfortzahlungsgesetzes (Art. 60 , 68 Abs. 4 PflegeVG vom 26. 5. 1994 - BGBl. I 1994, S. 1014, 1069, 1070) entwickelt, dann aber auch auf Angestellte übertragen (vgl. zuletzt BAG Urt. vom 21. 3. 1996 - 2 AZR 543/95 - AP Nr. 42 zu § 123 BGB). Für das am 1. 6. 1994 in Kraft getretene Entgeltfortzahlungsgesetz, dessen § 5 Arbeiter und Angestellte gleichermaßen verpflichtet, bei einer länger als drei Kalendertage dauernden Arbeitsunfähigkeit eine ärztl. Bescheinigung vorzulegen, gelten dieselben Grundsätze.

Das BAG hat weiter entschieden, daß einer von einem ausländischen Arzt im Ausland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im allgemeinen der gleiche Beweiswert wie einer von einem deutschen Arzt ausgestellten Bescheinigung zukommt. Die Bescheinigung muß jedoch erkennen lassen, daß der ausländische Arzt zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit unterschieden und damit eine den Begriffen des deutschen Arbeits- und Sozialversicherungsrechts entspr. Beurteilung vorgenommen hat (BAG 48, 115 = AP Nr. 4 zu § 3 LohnFG). An dieser Rechtspr. ist festzuhalten, soweit es sich um Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aus nicht der Europäischen Gemeinschaft angehörigen Staaten handelt.

2. Die in der Türkei nach dem deutsch-türkischen Abkommen über die soziale Sicherheit ausgestellten zweisprachigen Bescheinigungen werden diesen Anforderungen gerecht.

Unter Nr. 3 der Bescheinigung vom 25. 8. 1994 heißt es, daß der Versicherte "Geldleistungen beantragt wegen Arbeitsunfähigkeit infolge ... (Krankheitsbezeichnung)". Daran wird deutlich, daß der dieses Formular ausfüllende ausländische Arzt - ebenso wie sein deutscher Kollege - zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsun- fähigkeit verbundenen Erkrankung zu unterscheiden hat. Ist das genannte Formular - wie hier - ordnungsgemäß ausgestellt, so ist davon auszugehen, daß der ausländische Arzt auch tatsächl. diese Unterscheidung vorgenommen hat (LAG Hamm, Urt. vom 12. 4. 1989 - 1 Sa 1435/88 - DB 1989, 1473; Vossen, HZA, Gruppe 2, Entgeltfortzahlung, Rz 354).

Die Bekl. hat mit Nichtwissen bestritten, daß den behandelnden Ärzten die Unterschiede zwischen Erkrankung und Arbeitsunfähigkeit bekannt gewesen sind; sie hat ebenfalls mit Nichtwissen bestritten, daß sich die Ärzte tatsächl. mit dem ArbN über dessen Arbeit bei der Bekl. unterhalten haben. Mit derartigen Vermutungen sind keine Umstände dargetan, die zur ernsthaften Zweifeln an der behaupteten krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Anlaß geben können.

3. Der Beweiswert der hier im Streit befindl. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ist auch nicht deshalb erschüttert, weil der ArbN auch schon in den Jahren 1987 und 1989 während seines Heimaturlaubs in der Türkei arbeitsunfähig krankgeschrieben wurde. Allerdings können wiederholte Krankschreibungen jeweils am Ende eines Urlaubs, insbesondere wenn sie zu einer Verlängerung des Aufenthalts am Urlaubsort führen, zu ernsthaften Zweifeln an der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Anlaß geben (BAG 48, 115 = AP Nr. 4 zu § 3 LohnFG (I 2b der Gründe)). Daß ein ArbN fünf Jahre nach seiner letzten Erkrankung im Urlaub erneut im Urlaub erkrankt, gibt aber nach der Lebenserfahrung keinen Anlaß zu der Annahme, die Arbeitsunfähigkeit sei vorgetäuscht.

III. Der Anspruch auf Entgeltfortzahlung entfällt auch dann nicht, wenn man zugunsten der Bekl. davon ausgeht, daß der ArbN seine Urlaubsanschrift nicht mitgeteilt hat.

1. Das ergibt sich entgegen der Auffassung des LAG nicht bereits daraus, daß in dem auf das ArbVerh. anwendbaren gemeinsamen Manteltarifvertrag für Arbeiter und Angestellte in der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie des Landes Hessen in der Fassung der Änderungsvereinbarung vom 10. 3. 1994 eine Verpflichtung zur Mitteilung der Urlaubsadresse nicht geregelt ist. Die im Streitzeitraum gültige Fassung des MTV stammt aus der Zeit vor Inkrafttreten des Entgeltfortzahlungsgesetzes (1. 6. 1994). Schon von daher kann nicht angenommen werden, daß der Manteltarifvertrag die erst durch das Entgeltfortzahlungsgesetz geschaffene Verpflichtung zur Angabe der Urlaubsadresse aufheben wollte. Dasselbe Ergebnis folgt aus einer systematischen Auslegung des Manteltarifvertrags. § 11 Abschn. I MTV enthält zwar besondere Vorschriften zur "Mitteilungs- und Nachweispflicht". Die Urlaubs- und Auslandserkrankung sind dort aber nicht erwähnt. Auch aus diesem Grunde kann die Bestimmung nicht dahin ausgelegt werden, daß die besonderen gesetzl. Mitteilungspflichten bei Auslandserkrankungen nicht bestehen sollten.

2. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 EntgeltFG ist "der ArbGeb. berechtigt, die Fortzahlung des Entgelts zu verweigern,

1. solange der ArbN die von ihm nach § 5 Abs. 1 vorzulegende ärztl. Bescheinigung nicht vorlegt oder den ihm nach § 5 Abs. 2 obliegenden Verpflichtungen nicht nachkommt;

2. wenn der ArbN den Übergang eines Schadensersatzanspruches gegen einen Dritten auf den ArbGeb. (§ 6) verhindert.

Die am 1. 6. 1994 außer Kraft getretene entspr. Vorschrift des Lohnfortzahlungsgesetzes lautete wie folgt:

"§ 5 Leistungsverweigerungsrecht des ArbGeb. Der ArbGeb. ist berechtigt, die Fortzahlung des Arbeitsentgelts zu verweigern,

1. solange der Arbeiter die von ihm nach § 3 Abs. 1 vorzulegende ärztl. Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit nicht vorlegt oder den ihm nach § 3 Abs. 2 oder § 4 Abs. 2 obliegenden Verpflichtungen nicht nachkommt;

2. wenn der Arbeiter den Übergang eines Schadensersatzanspruchs gegen einen Dritten auf den ArbGeb. (§ 4) verhindert."

Zu § 5 LohnFG hat das BAG entschieden, daß die Nichtvorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dem ArbGeb. nur ein zeitweiliges Leistungsverweigerungsrecht einräumt, das endet, wenn der Arbeiter die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, wenn auch verspätet, vorlegt (BAG 23, 411 = AP Nr. 1 zu § 3 LohnFG). Im damaligen Verfahren hatte der ArbGeb. geltend gemacht, das Leistungsverweigerungsrecht des ArbGeb. nach § 5 LohnFG müsse dann zu einem endgültigen werden, wenn die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erst nach der Wiedergenesung und sogar erst nach der Beendigung des ArbVerh. vorgelegt werde. Diese Aufassung ist - wie in der genannten Entsch. ausgeführt - mit dem Gesetzeswortlaut nicht zu vereinbaren. § 5 LohnFG unterscheidet zwischen zwei Fällen: Kommt der Arbeiter seiner Pflicht zur rechtzeitigen Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht nach, ist der ArbGeb. berechtigt, die Lohnfortzahlung zu verweigern, "solange" der Arbeiter säumig ist. Im zweiten Fall besteht das Leistungsverweigerungsrecht des ArbGeb., "wenn" der Arbeiter den Übergang eines Schadensersatzanspruchs gegen einen Dritten auf den ArbGeb. verhindert. Daraus folgt, daß der GesGeb. sich im ersteren Fall für ein ledigl. zeitweiliges und nur im zweiten Fall für ein endgültiges Leistungsverweigerungsrecht des ArbGeb. ausgesprochen habe. Der Senat hat es auch nicht für richtig gehalten, daß bei dieser Auslegung § 5 LohnFG ohne Bedeutung sei; dies folge schon aus der Gewährung eines zeitweiligen Leistungsverweigerungsrechts.

Ebenso hat der Senat zu § 100 Abs. 2 Satz 2 SGB IV entschieden, wonach der ArbGeb. berechtigt ist, die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zu verweigern, "solange" der ArbN den Sozialversicherungsausweis nicht hinterlegt (Urt. vom 14. 6. 1995 - 5 AZR 143/94 - AP Nr. 1 zu § 100 SGBIV = EzA SGB IV § 100 Nr. 1 (Für die Amtl. Samml. bestimmt)). Der Senat hat dies u. a. aus der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift und der Gesetzesbegründung hergeleitet.

3. § 7 Abs. 1 EntgeltFG ist § 5 Satz 1 LohnFG nachgebildet. Die Vorschrift war bereits in dem Entwurf eines Entgeltfortzahlungsgesetzes der Fraktionen der CDU/CSU und F. D. P. vom 24. 6. 1993 (BT-Drucks. 12/5263) und dem gleichlautenden GesEntw. der Bundesreg. (BR-Drucks. 506/93) enthalten. Demgegenüber beruht § 5 Abs. 2 Satz 1, 2 EntgeltFG auf einer Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 29. 9. 1993 (BT-Drucks. 12/5798). Dabei blieb § 7 Abs. 1 EntgeltFG unverändert. Hieraus folgt, daß der GesGeb. dem ArbGeb. nur ein zeitweiliges Leistungsverweigerungsrecht zubilligen wollte, das mit der Erfüllung der Verpflichtungen aus § 5 Abs. 2 Satz 1 EntgeltFG erlischt, und zwar rückwirkend seit Beginn der Arbeitsunfähigkeit (Vossen, aaO, Rz 371; Schmitt, EntgeltFG, 2. Aufl. 1995, § 7 Rz 23; Geyer/Knorr/Krasney, Entgeltfortzahlung, 7. Aufl. Stand Dezember 1996, § 7 Rz 5 ff.). Das zeitweilige Leistungsverweigerungsrecht wandelt sich auch nicht automatisch in ein endgültiges Leistungsverweigerungsrecht um, wenn der ArbN in die Bundesrepublik zurückkehrt, ohne seine Urlaubsanschrift angegeben zu haben (vgl. Kaiser/Dunkl/Hold/Kleinsorge, EntgeltFG, 3. Aufl. 1996, § 7 Rz 16; Wedde/Gerntke/Kunz/Platow, EntgeltFG, 1994, § 7 Rz 18). Auch in einem solchen Fall erlischt das Leistungsverweigerungsrecht. Die Gegenauffassung (Gola, EntgeltFG, 1995, § 7 Anm. 3.4) verkennt die Gesetzessystematik: Die Erfüllung der Mitteilungspflichten des § 5 Abs. 2 Satz 1 EFZG gehört nicht zu den - in § 3 EntgeltFG genannten - Anspruchsvoraussetzungen.

IV. Entgegen der Auffassung des LAG bedeutet dies nicht, daß die Verletzung der Verpflichtung, die ausländische Urlaubsadresse mitzuteilen, für den Entgeltfortzahlungsanspruch ohne Bedeutung ist.

1. Die Erweiterung der Mitteilungspflichten des im Ausland erkrankten ArbN soll ausweisl. der Gesetzesmaterialien (BT-Drucks. 12/5798, S. 26) der Möglichkeit eines Leistungsmißbrauchs entgegenwirken, die entstehen kann, wenn der ArbGeb. erst mit großer Zeitverzögerung von Erkrankungen der ArbN im Ausland erfährt und ihm dadurch faktisch die Möglichkeit genommen wird, die attestierte Arbeitsunfähigkeit überprüfen zu lassen. Die Vorschrift hat also - ebenso wie die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung - beweisrechtl. Bedeutung. Ihre Verletzung kann je nach den Umständen als Beweisvereitelung angesehen werden. Eine Beweisvereitelung liegt vor, wenn jemand seinem beweispflichtigen Gegner die Beweisführung unmöglich macht. Die Rechtspr. läßt in solchen Fällen Beweiserleichterungen, die bis zur Umkehr der Beweislast gehen können, dann zu, wenn dem eigentl. Beweispflichtigen die volle Beweislast billigerweise nicht mehr zugemutet werden kann (BGH Urt. vom 15. 11. 1984 - IX ZR 157/83 - DB 1985, 1019 = NJW 1986, 59, 60; BGHZ 121, 266, 277; 131, 163, 165 = NJW 1993, 1391, 1392; 1996, 315, 316).

Das bedeutet hier: Die Verletzung der Mitteilungspflichten des § 5 Abs. 2 Satz 1 EntgeltFG kann je nach den Umständen des Einzelfalls dazu führen, daß das Gericht den Beweis für das Vorliegen der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als nicht erbracht ansieht.

Maßgebend sind demnach die Umstände des Einzelfalls. Dabei ist die Wertung des § 7 Abs. 2 EntgeltFG zu beachten: Hat der ArbN die Verletzung der ihm obliegenden Mitteilungspflichten nicht zu vertreten, so kommen beweisrechtl. Sanktionen nicht ohne weiteres in Betracht. Allgemein kommt es auf die Gründe an, die dazu geführt haben, daß der ArbN seine Mitteilungspflichten nicht erfüllt hat. Teilt er dem ArbGeb. telefonisch seine Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtl. Dauer mit, so ist es grundsätzl. dessen Sache, nach der Adresse am Aufenthaltsort zu fragen. Tut er dies nicht, so kann dies darauf beruhen, daß er keinen Wert darauf legt, das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit überprüfen zu lassen. Denkbar ist auch, daß ein ArbGeb. die Entgeltfortzahlung allein deshalb verweigern will, weil der ArbN nicht von sich aus seine Urlaubsadresse mitgeteilt hat. Eine solche Haltung würde aber keinen Schutz verdienen. Teilt der ArbN dagegen seine Urlaubsadresse auf eine ausdrückl. Frage des ArbGeb. nicht mit, so kann es gerechtfertigt sein, den Beweis für das Vorliegen der Arbeitsunfähigkeit als nicht erbracht anzusehen.

2. Hier hat der ArbN E. der Bekl. seine Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtl. Dauer sofort telefonisch mitgeteilt. Die Bekl. hat nicht vorgetragen, daß der unmittelbare Vorgesetzte für die Entgegennahme von Krankmeldungen aus dem Ausland nicht zuständig gewesen sei. Es bestand demnach die Möglichkeit, ihn nach seiner Urlaubsadresse zu fragen. Das ist nicht geschehen. Die Bekl. hat auch nicht versucht, die Adresse von dem türkischen Kollegen zu erfragen, der die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung überbrachte.

Darüber hinaus hat die Bekl. nicht angegeben, was sie hätte veranlassen wollen, wenn Herr E. seine Urlaubsadresse mitgeteilt hätte. Sie hat trotz entspr. Vorhalts der Kl. in der BerInstanz nur ihren Vortrag wiederholt, ihr sei die Möglichkeit genommen worden, das Vorliegen der Arbeitsunfähigkeit durch einen Arzt ihres Vertrauens überprüfen zu lassen. Es besteht daher Anlaß zu der Annahme, daß sie die Möglichkeit einer Nachprüfung gar nicht genutzt hätte. Im übrigen geben das Deutsch-Türkische Abkommen über Soziale Sicherheit, die Durchführungsvereinbarung und die Vereinbarungen der Verbindungsstelle - anders als Art. 18 Abs. 5 Verordnung (EWG) Nr. 574/72 - weder der deutschen Krankenkasse noch dem ArbGeb. das Recht, den versicherten ArbN durch einen Arzt ihrer Wahl untersuchen zu lassen.

Vorinstanzen

Hessisches LAG

Rechtsgebiete

Arbeitsrecht

Normen

EntgeltFG § 3 Abs. 1 in der vom 1. Juni 1994 bis zum 30. September 1996 gültigen Fassung, §§ 5, 7; Beschluß Nr. 3/80 des EWG-türkischen Assoziationsrates vom 19. September 1980, Art.11; Gemeinsamer Manteltarifvertrag für Arbeiter und Angestellte in der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie des Landes Hessen in der Fassung der Änderungsvereinbarung vom 10. März 1994, § 11